108. Deutscher Ärztetag Berlin, Mai 2005 TOP: Krankheit und Armut

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108. Deutscher Ärztetag Berlin, 3.-6. Mai 2005 TOP: Krankheit und Armut Ergebnisse des Forschungsprogramms „Soziale Ungleichheit von Gesundheit und Krankheit in Europa“ der European Science Foundation Johannes Siegrist Institut für Medizinische Soziologie Universität Düsseldorf

‚Niedrige soziale Schichtzugehörigkeit ist vermutlich die stärkste einzelne Einflussgröße auf vorzeitige Erkrankungen und Sterbefälle, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weltweit.‘ (R.B. Williams 1998, JAMA)

Verhältnis der Sterberaten zwischen manuellen und nicht-manuellen (= 1 Verhältnis der Sterberaten zwischen manuellen und nicht-manuellen (= 1.0) Berufsgruppen (Männer 30-59 Jahre), in drei Perioden (rate ratio) Dänemark Quelle: J.P. Mackenbach & A.M. Bakker (2002) Reducing Inequalities in Health. London: Routledge.

Definition ‚soziale Schicht‘ Personengruppe, die sich hinsichtlich zentraler Merkmale sozialer Ungleichheit (Einkommen, Bildung, berufliche Stellung) in einer vergleichbaren Lage befindet.  Soziologisches Konstrukt zur Beschreibung gesellschaftlicher Differenzierung (z.B. Oberschicht, obere und untere Mittelschicht, Unterschicht)  Identifizierung ungleich verteilter Lebensstile und Lebenschancen in der Bevölkerung (z.B. Lebenserwartung)

Schematische Darstellung des Zusammenhangs von sozialer Schicht und Armut Höhe des sozialen Schichtindex OS oMS uMS US Einkommens-armut

Definition ‚Armut‘ Einkommensarmut:  50% bzw. 60% des durchschnittlichen (gewichteten) Netto-Haushaltseinkommens oder Sozialhilfeempfänger (Deutschland: ca. 9-13,5%) Mehrdimensionales Phänomen von Unterversorgung bzw. Benachteiligung (Bildung, Erwerbsbeteiligung, Wohnung, Infrastruktur) Besonders betroffene Gruppen: Langzeitarbeitslose, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Migranten, Wohnungslose, psychisch Kranke

10-Jahres-Mortalität (%) nach beruflicher Stellung (Whitehall I-Studie), N=17.000 Quelle: M. Marmot et al. (1984) Lancet: 1003.

Forschungsprogramm der European Science Foundation „Soziale Ungleichheit von Gesundheit und Krankheit in Europa“ 1999-2003 Ziele: Erkenntnisforschritte bei der Erklärung des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität Entwicklung und Umsetzung neuer Studienprotokolle zu europaweit vergleichbaren Ergebnissen Verstärkter Austausch zwischen Wissenschaft und Gesundheitspolitik Forschungsnetzwerk von 80 Wissenschaftlern aus West- und Osteuropa, USA und Kanada

4 Hypothesen zur Erklärung des sozialen Gradienten 1. Selektionseffekt (Krankheit  sozialer Abstieg) 2. Ergebnis unterschiedlichen Zugangs zur medizinischen Versorgung 3. Schichtspezifische Belastungen (v.a. Beruf, Familie) 4. Schichtspezifische Verteilung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen Schätzung erklärter Varianz 5-10% 10-15% 30-40% 40-50%

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse des Programms (Schwerpunkt: 3 Neue wissenschaftliche Erkenntnisse des Programms (Schwerpunkt: 3. Hypothese) Der soziale Gradient von Morbidität und Mortalität wird bereits am Beginn des Lebens, in der Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren gebahnt. Im frühen und mittleren Erwachsenenalter wird der soziale Gradient durch die Qualität der Erwerbsarbeit entscheidend beeinflusst. Selbst bei Berücksichtigung individueller Merkmale sozialer Benachteiligung erhöht die Umgebung, in der Menschen leben, das Erkrankungsrisiko (ökologische Gefährdung + soziale Konflikte).

Kinder von Angestellten Sozialschicht des Vaters bei Geburt und kumulative Sterberaten (201 Todesfälle) bei 4271 Männern und Frauen (26 bis 54 Jahre, geboren 1946) Kinder von Angestellten Kinder von Arbeitern 26 30 34 38 42 46 50 54 D. Kuh et al. (2002), BMJ, 325: 1076.

Schichtspezifische Einflussfaktoren ungleicher Erkrankungsrisiken: Schwangerschaft und frühe Kindheit Schwangerschaft Mangelnde Vorsorge Fehlernährung  pränatale Stoffwechselstörung Suchtmittel, Infektionsgefahr (HIV / HCV), chronischer Distress Unfall- und Verletzungsgefahr Frühe Mutter-Kind-Beziehung Gestörte affektive Bindung Soziale Benachteiligung (v.a. Alleinerziehende)

Sterblichkeit und schwere Gesundheitsstörungen bei 6- bis 18-jährigen Kindern Alleinerziehender in Schweden (N=65.085 vs. 921.257) Relative Risiken der Inzidenz 1991 – 1998 Allgemeine Mortalität Suizid Psychiatrische Krankheiten Opfer von Gewalt Alkoholbedingte Störungen 1.21(*) 2.43* 2.08* 2.02* 2.42* 1.54* 1.83* 2.52* 1.62* 2.18* Mädchen Jungen (*) p < 0.10, * p < 0.05 Quelle: G. Ringbäck Weitoft et al. (2003) Lancet 361: 289.

BMI bei 1350 5- bis 7-jährigen Kindern nach sozialer Schicht und Gewichtsstatus der Eltern Übergewicht der Eltern beide Elternteile ein Elternteil kein Elternteil Soziale Schicht Quelle: K. Langnäse et al. (2002) Int J Obesity 26: 566.

Erhöhte materielle und psychosoziale Belastungen im Erwerbsleben bei Angehörigen niedrigerer sozialer Schichten Zwei Modelle psychosozialer Stressbelastung: Anforderungs-Kontroll-Modell (R. Karasek, T. Theorell 1990): erhöhte Gesundheitsgefährdung bei Tätigkeiten, die durch geringe Kontrolle bei hoher Leistungsdichte gekennzeichnet sind Modell beruflicher Gratifikationskrisen (J. Siegrist 1996): erhöhte Gesundheitsgefährdung bei Personen mit einem Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung (Gehalt, Anerkennung, Aufstieg, Arbeitsplatzsicherheit)

Anforderungs-Kontroll- Modell beruflicher Gratifikationskrisen Mortalitätsrisiko# (Herz-Kreislauf-Krankheiten) in Abhängigkeit von psychosozialen Arbeitsbelastungen Nmax=812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre Terzile (Belastung): 1 = keine; 2 = mittlere; 3 = hohe # adj. für Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Rauchen, körperl. Aktivität, syst. Blutdruck, Cholesterin, BMI Anforderungs-Kontroll- Modell Modell beruflicher Gratifikationskrisen Quelle: M. Kivimäki et al. (2002), BMJ, 325: 857.

Berufliche Gratifikationskrise und Neuentwicklung von affektiven Störungen (GHQ): Whitehall II-Studie (odds ratios#; N=6110, Zeitraum: 5.3 Jahre) ** Männer Frauen * * # adjustiert für Alter, Angestelltengrad, Wert GHQ bei Eingangsuntersuchung; Personen im affektiver Störung zu Studienbeginn nicht enthalten * p < .05; ** p < .01 Quelle: S.A. Stansfeld et al. (1999), OEM, 56: 302.

Stressbelastung (Pflege eines schwerkranken Familienangehörigen) und Telomerenlänge durchschnittliche relative Länge des Telomers# hohe chronifizierte Stressbelastung: Mütter mit einem chronisch kranken Kind und/oder hohem wahrgenommenem Stress, n=14; linke Säule geringe Stressbelastung: Mütter mit einem gesunden Kind und/oder geringem wahrgenommenem Stress, n=14; rechte Säule #adjustiert für Alter und Body Mass Index Stressbelastung Quelle: Epel et al. 2004, PNAS, S. 17314

Kontexteffekt sozialer Benachteiligung auf das Erkrankungsrisiko (Beispiel: koronare Herzkrankheit; Hazard ratios; ARIC Studie) Nachbarschaft adj. für Alter, Studien-zentrum + Einkom., Bildung, berufl. Stellung + verhaltensbez. und biomed. Risikofaktoren Quelle: A.V. Diez-Roux et al. (2001), NEJM, 345: 99-106.

Praktische Folgerungen für die Ärzteschaft: Verstärkte Mitarbeit bei zielgruppenorientierten präventiven Maßnahmen Schwangere / junge Eltern verbesserte Vorsorge / Früherkennung Successful Parenting – Programme Kinder und Jugendliche soziales Kompetenztraining Beeinflussung des adiposity rebound – Effekts / Ernährungs- und Bewegungsverhaltens Prävention von Suchtmittelkonsum Risikogruppen im Erwachsenenalter Früherkennung und Intervention bei beruflich oder außerberuflich chronisch Belasteten (Synergieeffekte gesundheitsschädigenden Verhaltens)