Lyrik des Mittelalters III: Sangspruchdichtung

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Lyrik des Mittelalters III: Sangspruchdichtung Sänger und Gesellschaft

Sangspruchdichtung: Die Gattung der Fahrenden Ein exemplarischer Fall: Walther von der Vogelweide Bis 1198 am Hof der Herzöge von Babenberg in Wien; nach dem Tod seines Gönners Hz. Friedrich I. offenbar von dort vertrieben: mir ist verspart der saelden tôr. (‚das Tor zum Glück ist mir versperrt‘). Ab 1198 als fahrender Sänger an verschiedenen Höfen nachweisbar, u.a. Königshof der Staufer um Philipp von Schwaben; am Hof Bischof Wolfgers von Passau; am Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen etc.). Zahlreiche zeitbezogene Anspielungen in der Sangspruchdichtung: Kritik an den Zuständen der Zeit, an bestimmten Herrschern, Adelshöfen; Kritik an der Kirche und ihren Vertretern, bes. an Papst Innozenz IV.

Themenfelder der Sangspruchdichtung Umfassend: „Lebenshilfe“ (Hugo Kuhn) im Medium der Literatur: Wie soll der Mensch leben? Was soll der Mensch tun? Diskussion und Propagierung von geistlichen und gesellschaftlichen Normen, Kritik an den Missständen in der Kirche, an Fehlentscheidungen der Papstes/der Kurie, Kritik am Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Macht, Gesellschaftskritik, Herrscherlehre und –kritik, Politische Propaganda.

Sangspruchdichtung: Öffentlichkeit und Performanz Öffentlichkeitscharakter des gesungenen Vortrags vergleichbar dem des Minnesangs: Öffentlicher Vortrag der Sangspruchdichtung vor der Adelsgesellschaft als der kulturellen und politischen Elite der Zeit. Einstimmiger Gesang, z.T. instrumental begleitet. Politische und gesellschaftliche Aktualität der Themen zielt auf unmittelbare Wirkung auf die Zuhörer. Daneben: allgemeine, überzeitliche Lebenslehre: wie soll der Mensch sich verhalten, sein Leben führen.

Ein Beispiel: Walthers von der Vogelweide Reichston (L 8,4) Historische Situation im Jahr 1198: Kaiser Heinrich VI. (aus dem Hause der Staufer; Sohn Kaiser Friedrichs I. Barbarossa) ist 1197 in Italien gestorben. Zwei Fürsten konkurrieren um die Königswürde: Philipp von Schwaben (Staufer) und Otto (Welfe). Das Kollegium der Kurfürsten, die über die Nachfolge entscheiden, ist gespalten. Es fehlt eine verlässliche politische Führung Walther spricht/singt in der Rolle des Sehers, analysiert die Lage und gibt Rat.

Walthers von der Vogelweide „Reichston“ Str. 1 (L 8,4): Handwerk 1 eime = eineme. – 2 dahte von decken ‚bedecken‘. – 3 satzte von setzen. – 4 gesmogen von smiegen stv.II. – 6 dâhte von denken. – ange Adv. von enge ‚ängstlich, ernst‘. – 11 varnde guot ‚beweglicher Besitz‘.- 14 übergulde ‚Übergoldung‘.- 25 ... enwerden ê gesunt exzipierender Nebensatz: ‚wenn nicht ...‘ (s. Weddige S.76f.).

Walthers Reichston Str. 1 (L 8,4) Gliederung v. 1-7 Etablierung der Rolle des Nachdenkenden; der Sangspruchdichter als kompetenter Analytiker der gesellschaftlichen und politischen Situation und als Ratgeber. v. 8-19 Trias der Werte/Güter und ihre Hierarchisierung: êre, varndez guot, gotes hulde. v. 20- 25 Unmöglichkeit ihrer Vereinigung wegen der desolaten politischen Lage: untriuwe – gewalt ûf der strâze fride und reht sint sêre wunt

Walther-Miniatur im Codex Manesse Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine, dar ûf satzte ich den ellenbogen. ich hete in mîne hant gesmogen mîn kinne und ein mîn wange.

Walthers Reichston Str. 2 (L 8,28): Handwerk v. 1. hôrte von hoeren (sog. „Rückumlaut“). - sach von sehen. – v. 3 swaz ‚alles, was‘.- v. 6 biuget von biegen stv II. – v. 12 sin ‚Ansicht, Gesinnung‘.- anders adv. Genitiv ‚sonst‘.- v. 20 êre ‚Ansehen‘.- weise (einzelner) Stein (Solitär) in der Krone.

Walthers Reichston Str. 2 (L 8,28): Gliederung v. 1-7 Erneute Etablierung der Rolle: ich hôrte v. 8-16 haz, starke stürme in der Natur, aber: die Tierwelt schafft sich eine Ordnung. Sô wê dir tiutschiu zunge wie stât dîn ordenunge? Folgerung: Philipp von Schwaben soll die Krone des Reichs annehmen und als König die Ordnung im Reich wieder herstellen.

Walthers Reichston Str. 3 (L 9,16): Handwerk v. 7 huop von heben ‚sich erheben‘.- ê ‚früher‘.- v. 9 begunden von beginnen.- v. 17 bienen von bannen redv.- stôrte von stoeren (sog. „Rückumlaut“)

Walthers Reichston Str. 3 (L 9,16): Gliederung Str. 1-3: Etablierung der Sangspruchdichterrolle in den Stropheneingängen: Ich saz – Ich hôrte – Ich sach. Str. 3: Die röm. Kurie betrügt die beiden Anwärter auf die Krone; sie missbraucht das Instrument des Bannes; sie übt die ihr nicht zustehende weltliche Gewalt aus. Die Rolle des klôsenaere: er, der Fromme, der sich von der Welt zurückgezogen hat, steht für die Gemeinschaft der Gläubigen. Dagegen steht die in die weltliche „Politik“ sich einmischende und vom Papst „regierte“ Amtskirche: der bâbest ist ze junc (Papst Innozenz III., reg. 1198-1216; geb. 1160/61, siehe LexMA).

Walthers Reichston: Zusammenfassung Sangspruchdichtung als lit. Instrument politischer Positionsbestimmung, Argumentation und Agitation. Der Sangspruchdichter etabliert die literarische Rolle des Ratgebers in ethischen und politischen Diskursfeldern. Wirkung des Sangspruchs im Medium der öffentlich vorgetragenen, sangbaren Dichtung. Ein Zeugnis zu Walthers antipäpstlichen Sprüchen: Er hât wol tûsent man betoeret. (Thomasin von Zerklaere, um 1215, s. VL).

Walther von der Vogelweide, Philippston (L 18,29; 19,5) Historische Situation Sommer 1198: zwei gekrönte deutsche Könige (s. Reichston). Otto IV., gekrönt 12. 7.1198 Juli in Aachen (am richtigen Ort), mit imitierten Insignien, Philipp von Schwaben, gekrönt am 8.9.1198 in Mainz (am falschen Ort) mit den echten Insignien. Walther von der Vogelweide wirbt für die Anerkennung Philipps von Schwaben.

Walther von der Vogelweide, Philippston (L 18,29): Diu krône ist elter 1. Stollen (v. 1-3): Die Krone ist älter als Philipp, dennoch hat der damalige Schmied sie genau passend für den jetzigen Träger, Philipp, gemacht. 2. Stollen (v. 4-6): sie, die Krone und Philipp, passen so gut zueinander, dass niemand sie trennen soll. Abgesang (v. 7-12): Philipp unter der Krone: eine Augenweide für alle Fürsten. Wer jetzt noch an ihm zweifelt, achte auf den Waisen, den Solitär in der Krone, und folge diesem leitesterne (vgl. die Erzählung von den drei Weisen aus dem Morgenland: „wir haben seinen Stern gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten.“ Evangelium nach Matthäus, cap. 2).

Walther von der Vogelweide, Philippston (L 19,5): Ez gienc eines tages Weihnachtsmesse 1198 im Magdeburger Dom. Philipp, eins keisers bruoder (Bruder Kaiser Heinrichs VI.,† 1197 ) und eins keisers kint (Sohn Kaiser Friedrichs I. Barbarossa): drei in einem Gewand (Vorstellung einer weltlichen -> Trinität). Seine Gemahlin: Irene/Maria, Tochter des Kaisers von Byzanz. Symbole der Jungfrau Maria: Rose ohne Dornen; Taube ohne Galle. Die Fürsten in der Rolle der drei Weisen aus dem Morgenlande (vgl. Mt. 2).

Kaiserkrone Ottos I., 10.Jh. Ansicht von schräg vorne Wien, Schatzkammer der Hofburg. Christus als Weltenrichter zwischen zwei Cherubim. Beischrift: Per me reges regnant

Kaiserkrone Ottos I., 10.Jh. Seitenplatte:Christus als Weltenrichter. Per me reges regnant Wien, Schatzkammer der Hofburg

Kaiserkrone Ottos I., 10.Jh. Seitenplatte: Rex David. Spruchband: Honor regis iudicium diligit. Wien, Schatzkammer der Hofburg

Kaiserkrone Ottos I., 10.Jh. Seitenplatte: Rex Salomon. Mit Spruchband Wien, Schatzkammer der Hofburg

Zusammenfassung: Minnesang und Sangspruch Frühe Texte: Donauländischer Minnesang, um 1150-70. Ab etwa 1170 Kontakte mit der Lyrik der Romania (Trobadors; Trouvères). Übernahme des Modells der „Hohen Minne“, des Tagelieds, der Kanzonenform. Zahlreiche Kontrafakturen (Übernahme der Strophenform und Melodie) aus der romanischen Lyrik). Ab etwa 1180/90 interne Gattungsentwicklung der deutschsprachigen Liebeslyrik.

Sangspruchdichtung (s. RLW; Tervooren, Sangspruchdichtung) Träger: fahrende Sänger, „Künstlerproletariat“. Entlohnung je nach Anlass und publizistischer Wirkung. Form: in der Frühzeit Langzeilenstrophen (Autoren: Herger, Spervogel, s. VL); Bald (gegen 1180) wird die auch im Minnesang vorherrschende Kanzonenform übernommen. Ausbau der Gattung in formaler und thematischer Hinsicht durch Walther von der Vogelweide. Weiterwirken der Gattung bis ins 15. Jh. Töne (Melodien) der Alten Meister des Sangspruchs werden im Meistergesang (15.-17. Jh.) übernommen und weitergeführt.