psyKo 2013 Workshop: Schuldfrei wegen kranker Seele? Sumiswald – Swiss

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psyKo 2013 Workshop: Schuldfrei wegen kranker Seele? Sumiswald – Swiss 23. März 2013 Dr. Steffen Dauer Institut für Rechtspsychologie und Forensische Psychiatrie Halle (Saale) Tel.: +49 345 6140680 Fax: + 49 345 61406820 http: www.rechtspsychologie-halle.de 1

1. Schuldfähigkeit / Strafrechtliche Verantwortlichkeit 1.1 Theoretische und methodische Grundlagen Strafrechtliche Rahmenbedingungen (Scholz & Schmidt 2008) ۰ unterschiedliche Facetten des Schuldbegriffes in der Psychologie, der Theologie, der Philosophie und in der Rechtswissenschaft ۰ 4 Kriterien des juristischen Schuldbegriffs - Vorwerfbarkeit: Beschuldigter muss gegen Gesetze gehandelt haben - Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens: Beschuldigter muss in der Lage sein, sich gemäß den Regeln zu verhalten - Bewusstsein der Rechtswidrigkeit: Beschuldigter muss wissen können, dass er mit Regelverstoß zur Verantwortung gezogen werden kann - Entscheidung, die schuldhafte Handlung zu verwirklichen: Beschuldigter muss zu einem anderen als dem strafbaren Handeln in der Lage sein 2

Achtung: Willensfreiheit (entsprechend dem Diktum von Kant zum moralischen Imperativ) ist kein Definitionsmerkmal von Schuld. Schuld bezieht sich damit auf die normative Ansprechbarkeit und nicht auf das Gewissen des Beschuldigten. 3

۰ Jugendliche zwischen 14 – 18 Jahren werden bezüglich der Alter: ۰ Kinder bis zum 14. Geburtstag sind per Gesetz nicht schuldfähig (§ 19 StGB) ۰ Jugendliche zwischen 14 – 18 Jahren werden bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geprüft (§ 3 JGG) ۰ Heranwachsende zwischen 18 – 21 Jahren werden bezüglich ihrer Reife geprüft (§ 105 JGG) 4

Schuldfähigkeit: ۰ Freisprechen von strafrechtlicher Schuld möglich, Voraussetzungen zur Exkulpation im § 20 StGB ۰ Schuldminderung und Strafminderung möglich, Voraussetzungen zur Dekulpation in § 21 StGB 5

Grundsätze: Psychologie und Schuldfähigkeit - Schuldfähigkeit wird von Juristen festgestellt - psychologischer Sachverstand kann von Juristen entweder selbst eingebracht werden oder extern angefragt werden - Juristen sind in ihrer Einschätzung der Schuldfähigkeit und der Benennung von Sachverständigen frei 6

1.2 Schritte zur Beurteilung der Schuldfähigkeit 1. Schritt: Prüfen ob Eingangsmerkmale zur Beurteilung der Schuldfähigkeit nachweisbar sind (Auffälligkeit muss gravierend sein und die soziale Anpassungsfähigkeit deutlich beeinträchtigen): a) krankhafte seelische Störung b) tief greifende Bewusstseinsstörung c) Schwachsinn d) schwere andere seelische Abartigkeit Diese Merkmale sind juristische Kategorien (Eingangsmerkmale 1. Ordnung). § 20 StGB: „Ohne Schuld handelt, wer bei der Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 7

2. Schritt: Wenn eines oder mehrere Eingangsmerkmale vorliegen wird geprüft, ob forensisch relevante Auswirkungen auf die Fähigkeit des Begutachteten vorhanden waren, das Unrecht der Tat - einzusehen und/oder - gemäß dieser Einsicht zu handeln. Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit sind Eingangsmerkmale zweiter Ordnung. 8

3. Schritt: Psychische Verfassung des Begutachteten während der Tat muss differenziert dargestellt werden. Probleme: - subjektive Reflexion des Gutachters - abhängig von Fähigkeiten des Begutachteten sich selbst darzustellen - eventuelle Veränderung des psychischen Zustandes während der Tat (unterschiedliche Beurteilungen) - retrospektive Betrachtung 9

4. Schritt: Prüfen, ob die Beeinträchtigung bei der Tatbegehung erheblich war. Probleme: - Erheblichkeit  weitgehend subjektive Bewertung des Sachverständigen - Achtung!: Nicht der Sachverständige hat die Erheblichkeit festzustellen, sondern der Richter nach Beratung durch den Sachverständigen! 10

Schuldausschließende oder schuldmindernde Bedingungen erster Ordnung  Eingangsmerkmal krankhafte seelische Störung - Organische psychische Störungen - Symptomatische psychische Störungen - Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen - Schizophrenien - Wahnhafte und psychotische Störungen - Affektive Störungen - Anfallserkrankungen ۰ juristische Relevanz:  Schwierigkeit der tatbezogenen Differentialdiagnostik  Intensität der Symptomatik zum Tatzeitpunkt  Auswirkungen auf das konkrete Verhalten 11

 Eingangsmerkmal Schwachsinn - alle Formen der Intelligenzminderung ohne nachweisbare organische Ursachen ۰ juristische Relevanz:  nicht nur kognitive Besonderheiten, sondern auch des Sozialverhaltens  Intelligenzquotient und Intelligenzstruktur und sprachliche/emotionale/ soziale Verhaltensbesonderheiten  Affektivität, Suggestibilität, Konformitätstendenzen 12

 Eingangsmerkmal tiefgreifende Bewusstseinsstörung - nicht krankhafte Veränderungen des Bewusstseins - Trübung, Einengung bis hin zum Verlust des Selbstbewusstseins - Schlaftrunkenheit - Übermüdung - nicht krankhafte Dämmerzustände - hypnotische Zustände - hochgradige Affektzustände (Angst, Wut, Panik, Ekstase, Fassungslosigkeit, Impulstat) ۰ juristische Relevanz:  Verlust von Reflexionsfähigkeit  Einengung der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung  Entscheidungsverhalten und Folgeverhalten wird substantiell beeinflusst  zeitlich passagerer, ausschließlich auf die Tat bezogener, genuin psychologischer Sachverhalt 13

 Eingangsmerkmal schwere andere seelische Abartigkeit - psychische Störungen und Abnormitäten im Grenzbereich zwischen psychischer Krankheit und der Varianz menschlichen Lebens - chronifizierte neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen  das Erleben eigenen ‚Verhaltens geht mit persönlichem Leiden einher (ich-dystone Störung) - Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (incl. Impulskontrollstörungen)  das Erleben eigenen Verhaltens wird vom Betroffenen selbst als logisch konsistent und angemessen beurteilt (ich-syntone Störung) - Kleptomanie - Pathologisches Spielen ۰ juristische Relevanz:  übersituatives Erleben und Verhalten  Ausdruck des individuellen Lebensstils, des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen  rigide Reaktivität auf wechselnde persönliche und soziale Lebenslagen 14

Schuldausschließende oder schuldmindernde Bedingungen zweiter Ordnung  Einsichtsfähigkeit - kognitive Komponente der Tat - Fähigkeit das Unrecht der Tat einzusehen, setzt das Verständnis und das Wissen um Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens voraus - ebenso das Wissen um den Unrechtsgehalt des eigenen Handelns und den Bezug des Handelnden zur Handlungsintention ۰ psychologische Operationalisierung :  subjektive Verfügbarkeit von Handlungsalternativen  antizipierte Realisierungswahrscheinlichkeit der Handlungsalternativen 15

 Steuerungsfähigkeit - motivationspsychologische und handlungsbezogene Perspektive der Tat - sozialer Druck beim Gemeinschaftsdelikt - vorhanden bei Ankündigung der Tat, bei Vorbereitungshandlungen oder bei günstigen Ausgangsbedingungen für den Taterfolg - vorhanden bei zielorientierter Zustimmung zur Tathandlung, wenn die Tat mitgestaltet wurde, wenn Verdeckungs- und/oder Beseitigungshandlungen vom Täter vorgenommen wurden oder der Täter sich vom Tatort abgesetzt hat ۰ psychologische Operationalisierung:  Tatmotiv und dessen instrumentelle Umsetzung in ein Tathandeln  instrumentelle Passung zwischen Intention und realisierter Handlungsalternative des Täters 16

1.3 Vorbereitung, Planung und Durchführung der Begutachtung Gutachtenstandards (Mindestanforderungen)  Formale Anforderungen: - Angaben über:  Auftraggeber  Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung  alle Untersuchungsdaten  Unterscheidung zwischen Tatsachen und Interpretation  Trennung von Datenerhebung und Dateninterpretation  Beschränkung auf die Aufgabenstellung  Inhaltliche Anforderungen: - Beschreibung der vorliegenden Eingangskriterien erster Ordnung - Zuordnung der Eingangskriterien zu einer ICD 10-Diagnose (hilfsweise DSM-IV-TR) - Darlegung der Situation des Täters vor, während und nach der Tat - Ausführungen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit in Bezug auf die Tat - aus dem Gutachten muss ein in sich geschlossenes Untersuchungskonzept hervorgehen 17

 Methodische Anforderungen: - Psychometrie ist nachrangig  Intelligenzdiagnostik bei fraglichem Eingangsmerkmal Schwachsinn  standardisierte Erhebungsinstrumente zur Absicherung der klinischen Diagnostik (z. B. IPDE oder PSSI)  Selbstreflexion des Begutachteten wird in der Persönlich- keitsdiagnostik mit Fragebögen deutlich 18

- Halbstandardisiertes Interview (Exploration):  Erhebung der retrospektiven Einschätzung des Verhaltens des Beschuldigten vor, während und nach der Tat.  Ausgehend von der Aufgabenstellung werden psychologische Fragestellungen, Untersuchungshypothesen und Explorationsschwerpunkte formuliert und geplant.  Orientierung an bisherigen Anknüpfungstatsachen, keine neuen Anknüpfungsmerkmale eigenständig verfolgen.  Verhaltensbeobachtung nicht intuitiv sondern mittels vorher festgelegter Beobachtungskategorien 19

- Interpretationsanforderungen:  hypothesengeleitete Verarbeitung der Befunde  Prinzip des dialektischen Syllogismus, d. h. es werden die Hintergrundbedingungen, die tatfördernden Bedingungen und die auslösenden Tatbedingungen beschrieben  Entscheidungshilfen mit Merkmalslisten oder Kriterienkatalogen 20

Darstellung der syllogistischen Urteilsbildung (Volbert/Steller 2008, S. 408) 21

 Orientierungsrahmen bei der Untersuchungsplanung - Nutzen von Schuldfähigkeitsmerkmalen  Orientierungsrahmen bei der Untersuchungsplanung  Struktur für die Abfassung des Gutachtens  Ablauf der Entscheidungsfindung Achtung: Keine Kanonisierung bestimmter gutachterlicher Strategien oder Vorgehensweisen! Kreative Einzelfallbegutachtung! 22

1.4 Psychologie der Affektstraftaten Begriffsbestimmung Affekttat: Gewalttat, bei der hochgradige emotionale Reaktionen eine bestimmende Wirkung haben, also eine tat die nicht geplant, sondern aus einem Konflikt heraus begangen wird, im Zustand höchster emotionaler Erregung und eben nicht aufgrund rationaler Abwägung.  Problem der unterschiedlichen Verwendung des Begriffes „Affekt“ - synonym für Emotion und Gefühl - Oberbegriff für Emotionen und verwandte Zustände (Stimmungen) - kurzfristige, intensive Emotionen mit Verlust der Handlungskontrolle 23

Forensische Bedeutung des Affektes - meist in Bezug auf Tötungsdelikte - häufig in Partner- und Intimbeziehungen - zunehmend bei allgemeinen Gewaltdelikten - aber auch bei Unfallflucht  fast jede schwere Straftat wird im Zustand heftiger emotionaler Erregung begangen 24

Tötungssituation und Affekt - Tötungssituationen, die als Affekttaten diskutiert werden (vgl. Rasch 1964, Endres 2008): a) Geliebtentötung durch den verlassenen Partner - meist wegen unerwiderter Liebe b) Gattentötung durch den verlassenen Partner - meist aus Verzweiflung über das Scheitern eines Lebensentwurfes c) Elimination des ehestörenden Partners - meist als Tötung des Familientyrannen d) Elimination des ehestörenden Rivalen - meist als Tötung zum Erhalt der Partnerschaft 25

Affekte und Motive - Der Begriff Tatsituation wird für Beziehungs- und Konflikttaten bevorzugt, weil die Bestimmung von Tatmotiven außerordentlich schwierig ist. - Die Tatmotive verschmelzen und lassen sich kaum separieren. - Tatmotive können sein: ۰ Rache ۰ Hass ۰ Verzweiflung ۰ Kränkung des Selbstwertes ۰ Eifersucht ۰ Wunsch nach Demütigung ۰ Bestrafung ۰ Vernichtung 26

Affekttaten und die Täter - Affekt- und Konflikttäter ähneln in ihrem psychosozialen Profil der Normalbevölkerung (Rasch 1964) - anders bei „Trennungstätern“  Straftat als Höhepunkt einer problematischen Beziehungsgestaltung - z. T. „letzte Aussprache“ (mehr oder weniger gezielt herbeigeführt) - Konflikt eskaliert und mündet in eine Tat 27

 empirische Erkenntnisse (Endres & Scholz 1997) - 29 % aller Tötungsdelikte bei Menschen mit Intimbeziehungen (13 % Eheleute, 4 % Rivalen), nur in 19 % waren sich Täter und Opfer bis zur Tat fremd - 39 % der Tatmotive betrafen Familien- und Beziehungskonflikte (12,5 % erfolgte Trennung, 4,5 % drohende Trennung, 5 % Rivalität, 3 % Eifersucht) - 44 % ohne besonderen Anlass (21 % nach heftigem Streit) - 80 % der Täter wurden begutachtet (64 % wiesen die Diagnose einer psychischen Störung [ICD 10, Kapitel V, F] auf [Widerspruch zu Rasch 1964!], davon 39 % substanzinduzierte Störungen [i. R. Alkoholrausch]) - 37 % ֱaffektive Ausgangssituationen” 28

Erklärungsmodelle der Affekttat a) Psychopathologisches Referenzmodell ۰ organische Bewusstseinsstörungen ۰ Dämmerzustände ۰ akute Belastungsreaktionen b) Hirnphysiologisches Modell (ohne kortikale Beteiligung) ۰ Kurzschlusshandlungen ۰ Primitivreaktionen ۰ Notfallreaktionen c) Persönlichkeitsmodell ۰ hohes Bindungsmotiv ۰ geringe soziale ۰ stark gehemmte Aggressivität ۰ Überforderung durch Situation 29

۰ spezifische Dynamik des Konfliktes ۰ misslungene Problemlösungen d) Situationsmodell ۰ spezifische Dynamik des Konfliktes ۰ misslungene Problemlösungen ۰ unzureichende Situationsanalyse ۰ Bagatellisierung oder Übertreibung von Situationsmerkmalen e) Regulationsmodell ۰ Affekttat als Ergebnis unzureichender Handlungsregulation ۰ fehlende Reflektion von Handlungsalternativen bei starken Belastung 30

● kein Modell erklärt überzeugend weshalb wenige Trennungskonflikte derart fatal verlaufen ● Täter handelt gegen eigene, langfristige Überzeugungen und Präferenzen ● Täter verliert Fähigkeit der Desaktualisierung  Desaktualisierung: Fähigkeit des Menschen, sich nicht nur von situativen Anreizen und Motiven leiten zu lassen! 31

Forensische Beurteilung der Affekttat Grundlage: Schuldfähigkeitsmerkmal 1. Ordnung ۰ tiefgreifende Bewusstseinsstörung Folgerung: Schuldfähigkeitsmerkmal 2. Ordnung ۰ erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit Ergebnis: Strafmilderung? ۰ (Schuldunfähigkeit kommt in der Praxis so gut wie nie vor!) 32

● Affekt und tiefgreifende Bewusstseinsstörung - nicht krankhafter Ausnahmezustand, bei dem die Steuerungsfähigkeit des Täters erheblich vermindert, in seltenen Fällen sogar aufgehoben sein kann - schwere Beeinträchtigung der Handlungssteuerung (Aufmerksamkeit, Planung, Ausführung) - keine qualitative Bewusstseinstrübung - bedeutsamste Form der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung ist der hochgradige Affekt 33

● 4 Dimensionen des Affektes (nach Endres 2008) mit Positiv-(+) und Negativkriterien (-) I. Affektintensität + affektive Ausgangssituation + charakteristischer Affektaufbau und –abbau + Einengung des Wahrnehmungsfeldes - zielgerichtete Gestaltung der Tat - lang hingezogenes Tatgeschehen - komplexer Handlungsablauf in Etappen - erhaltene Introspektionsfähigkeit - Fehlen vegetativer Begleiterscheinungen ۰ konstellative Faktoren (Alkoholrausch) ۰ nachträgliche Erinnerungslücken ۰ Fehlen einer exakten und detailreichen Erinnerung ۰ Nachtatverhalten mit erkennbarer schwerer seelischer Erschütterung 34

II. Unerklärlichkeit der Tat + Missverhältnis zwischen Tatanstoß und Reaktion + Provokation und Erregung - fehlender Zusammenhang zwischen Provokation, Erregung und Tat - spätere zustimmende Kommentierung des Tatgeschehens III. Inkonstanz des Verhaltensstiles + Persönlichkeitsfremdheit der Tat + Störung der Sinn- und Erlebniskontinuität - Ankündigung der Tat - aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit - Vorbereitungshandlungen - Konstellieren der Tatsituation durch den Täter 35

IV. Zwangsläufigkeit der Konfliktdynamik + Spezifik der Vorgeschichte und der Anlaufzeit - gedankliche Vorbereitung der Tat ● „Vorgestalten“ (+ wesentliches Merkmal der Konfliktdynamik in der Vorgeschichte; - Hinweis auf gedankliche Auseinandersetzung und Planung!) 36

● Probleme: ► Operationalisierung der einzelnen Kriterien ► Maßstab für die Bewertung der Kriterien hinsichtlich einer tiefgreifenden Bewusstseins- störung fehlt ● Lösungsansätze: ► Vergleich des Affektzustandes mit psycho- pathologischen Störungsbildern (affektive Psychosen, Rauschzustände) ► Vergleich des Affektzustandes mit normal psychologischen Handlungsmodellen (Beschreibung verbliebener Freiheitsgrade unter Berücksichtigung der bisherigen Handlungsräume des Täters) 37

● weitergehende forensische Fragestellungen zum Affekt ► Affekt als Zuspitzung einer Persönlichkeitsreaktion? (i. S. einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“) - wenn der Affekt Ausdruck einer: ۰ Belastungsreaktion ۰ depressiven Verstimmung ۰ Persönlichkeitsstörung - dann aber auch Diskussion einer Maßregel falls: ۰ psychische Störung fortbesteht ۰ künftige Fremdgefährdung 38

► Affekt bei minder schwerem Fall des Totschlags - verhaltensnah definiert durch § 213 StGB: „... wenn der Totschläger durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden“ ist ► Affekt bei der Beurteilung der Mordmerkmale - der Affekt modifiziert die Zuschreibung der subjektiven Tatseite (z. B. bezüglich der Heimtücke  ob der Täter die objektive Arglosigkeit des Opfers gezielt und bewusst ausgenutzt hat; oder ob niedrige Beweggründe vorhanden waren) ► Affekt bei der Beurteilung im Bereich der Notwehr- und Nothilfe-Bestimmungen - rechtliche Bewertung eines Notwehr-Exzesses 39

1.5 Begutachtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Grundlagen ۰ die strafrechtliche Verantwortungsreife ist entwicklungs- psychologisch begründet und wird durch Strafrechtstexte an Altersvorgaben festgemacht: ۰ § 19 StGB schuldfähig ... wer bei der Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist 40

۰ § 1 JGG Jugendlicher ... 14 aber noch nicht 18, Heranwachsender 18 aber noch nicht 21 ۰ § 3 JGG Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzu- sehen und nach dieser Einsicht zu handeln. ۰ § 105 JGG Begeht ein Heranwachsender eine Tat wird er als Jugendlicher bestraft, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen gleich stand. 41

► Rechtsvergleich (international) verdeutlicht sehr große Spanne zur Auffassung bezüglich des Beginns der Strafmündigkeit Beispiel Europa  Verantwortungsreife ab: 7 Jahren: CH, IRL 10 Jahren: England, Wales 12 Jahren: NL 13 Jahren: PL, GR, F 14 Jahren: D, A, H, I, YU, BG 15 Jahren: FIN, N, S, DK, CZ, SK 16 Jahren: S, Schottland, P 18 Jahren: RO, B - künftige Rechtsangleichung orientiert sich auf 12 – 14 Jahre 42

Elemente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) - Fähigkeit zur Unrechtserkenntnis - Fähigkeit zur Steuerung - Fähigkeit zur Verbindung von Unrecht und Steuerung 43

Entwicklung von Unrechtserkenntnis (nach Schepker et al 2007) ۰ schummeln, täuschen ab 4 Jahren ۰ Absprachen nicht einhalten ab 4 – 5 Jahren ۰ Anstiften/Beihilfe ab 4 – 5 Jahren ۰ Wegnehmen/Diebstahl ab 2 – 6 Jahren ۰ Körperverletzung (KV) ab 8 Jahren ۰ fahrlässige KV ab 10 Jahren ۰ Gefährdung im Straßenverkehr ab 10 Jahren ۰ Mofa frisieren als Betrug ab 16 Jahren ۰ Vorteilsnahme im Amt ab 18 Jahren 44

► Erfassen der Unrechtserkenntnis über die Sozialreife ۰ Fähigkeit, das Unrecht aus der sozialen Bindung heraus zu begreifen und um der Sozialbindung willen, das Handeln rechtmäßig zu gestalten (vgl. Hommers 2008) ۰ damit soll nicht nur die Tatsache der angedrohten Bestrafung erkannt werden, sondern auch die Strafwürdigkeit! 45

► Erfassen der Sozialreife mit einer Erfassung: - der altersabhängigen Intelligenzentwicklung (geistige Entwicklungsreife) - der Entwicklung moralisch-sozialer Urteilsfähigkeiten - der Entwicklung der Fähigkeit zur sozialen Informationsverarbeitung - der allgemeinen Entwicklungsreife (Bewältigung von Entwicklungsaufgaben) ► Methodik der Erfassung - individualdiagnostische Untersuchungen - mit einer Kombination aus Exploration, Verhaltensanalyse, Analyse der Psychodynamik und Testpsychologie 46

Möglichkeit des methodischen Vorgehens (nach Dahle 2009) 1. Schritt Rekonstruktion der biografischen Entwicklung (individuelle Entwicklungstheorie) 2. Schritt Rekonstruktion von Entwicklungsstand und sozialen Bezügen zum Tatzeitpunkt (längs- und querschnittliche Beurteilung des Entwicklungsstandes in seinen biografischen, sozialen, kognitiven und gegebenenfalls entwicklungspsychopathologischen Bezügen) 3. Schritt Tathergangsanalyse aus der Perspektive des Täters (Beurteilung von grundsätzlicher Verbotseinsicht, alternativen Handlungsoptionen und Kontrollfähigkeit bei der Tatbegehung) 47

4. Schritt Komplexe Bewertung von 3. a) Verbotseinsicht, alternative Handlungsoptionen und Kontrollfähigkeiten vorhanden  § 3 JGG! b) ... nicht vorhanden, dann Prüfung der Entwicklungspotenziale der tatrelevanten Kompetenzdefizite  Kompensation erkennbar  § 3 JGG und §§ 20 u. 21 StGB c) ... nicht vorhanden ...  keine Kompensation erkennbar  § 3 JGG verneinen! 48

● Schuldunfähigkeit mangels Reife (§ 3 JGG) oder wegen eine Bewertungen ● Schuldunfähigkeit mangels Reife (§ 3 JGG) oder wegen eine psychischen Störung (§ 20 StGB) möglich ● Schuldminderung (§ 21 StGB) existiert im § 3 JGG nicht ● häufig parallele Prüfung von Voraussetzungen zur Anwendung von § 3 JGG und §§ 20 und 21 StGB notwendig 49

1.6 Entwicklungsreife / Reifebeurteilung ► Die Diskussion über die strafrechtliche Zuweisung heranwachsender Straftäter (18 – 21 Jahre) basiert auf zwei grundlegenden rechts- philosophischen Konzepten zur Ahndung von Straftaten (Busch 2008): a) Konzept der Strafe und Sühne (allgemeines Strafrecht) b) Konzept von Erziehung und Sozialisation (Jugendstrafrecht) ► mit dem § 105 JGG hat der Gesetzgeber den Versuch unternommen, diese Konzepte zusammenzuführen: Ist ein Heranwachsender in seiner psychosozialen Entwicklung einem Erwachsenen gleichzusetzen, ist „Erwachsenenstrafrecht“ (allgemeines Strafrecht) anzuwenden. 50

- Einführung des § 105 JGG im Jahr 1953 Probleme mit § 105 JGG - Einführung des § 105 JGG im Jahr 1953 - Einzelfallprüfung, ob Heranwachsender noch einem Jugendlichen gleichzusetzen sei (ob sich der Heranwachsende noch in einer für Jugendliche typischen Entwicklungsphase befindet) - die Regel lautet: ab 18 Jahre allgemeines Strafrecht - die Ausnahme: soll die Anwendung von § 105 JGG sein - die Rechtspraxis zeigt für 2000: Baden-Württemberg  55 % der 18 – 21-jährigen nach § 105 JGG Schleswig-Holstein  9 % der 18 – 21-jährigen nach § 105 JGG 51

Kriterien zur Empfehlung von § 105 JGG - Problem der Konkretisierung von Eingangskriterien - Versuch von Jugendrechtlern, Psychologen und Psychiatern im Ergebnis einer Arbeitstagung 1955 in Marburg: „Marburger Richtlinien“ - basieren nicht auf empirischen Befunden - z. T. moralisch verwerfende, vorwiegend phänomenologische Beschreibung von Defiziten in der Entwicklung eines Heranwachsenden 52

Marburger Richtlinien (aus Busch 2008) 53

► Weiterentwicklung der Marburger Richtlinien durch empirische Befunde  dadurch entstand ein empirisch begründeter Merkmalskatalog zu Reifekriterien (nach Esser, Fritz und Schmidt 1991) - Hauptaspekte sind dabei: ۰ Lebensplanung und Alltagsbewältigung ۰ Partnerbeziehung ۰ äußere Reifeaspekte 54

(Un-) Reifekriterien nach Esser et al. (1991) (aus Busch 2008) 55

► Diagnostische Beurteilung nach Esser et al. (1991) anhand von 4 Reifestufen 1.) kindlich bzw. stark entwicklungsverzögert 2.) jugendlich bzw. mäßig entwicklungsverzögert 3.) heranwachsend bzw. altersgerecht 4.) erwachsen bzw. akzeleriert 56

steht im Widerspruch zur ständigen Rechtssprechung des BGH  BGH ACHTUNG! (Probleme): Der nach Esser et al. (1991) dritte Hauptaspekt – die äußerliche Reifung – steht im Widerspruch zur ständigen Rechtssprechung des BGH  BGH hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das individuelle Erscheinungsbild eines Beschuldigten für die Beurteilung des Entwicklungsstandes nicht ausschlaggebend sei (zuletzt BGH 2 StR 2/02). Obwohl Esser (1999) nachweisen konnte, dass die Diagnose einer Entwicklungsretardierung auch mittels dieses Kriteriums möglich ist. 57

Lösungsansätze: Bonner Delphi-Studie (2006) ● Set von 10 Entscheidungsalgorithmen, die in Form von Klassifikations- bäumen die psychosoziale Entwicklung von Heranwachsenden verhaltens- nah erfassbar machen ● die Entscheidungsalgorithmen integrieren 47 konstituierende und auch kompensatorisch wirkende Items ● für jeden Entscheidungsalgorithmus existiert eine Quantifizierung des Fehlklassifikationsrisikos  Abschätzung der Reliabilität des Einzelfalls 58

Entscheidungsalgorithmen der Bonner Delphi-Studie (Busch 2006) 59

Schematische Darstellung des diagnostischen Prozesses für die Begutachtung heranwachsender Straftäter gemäß § 105 JGG (Busch 2008) 60

Häufigkeit der Empfehlung von § 105 JGG Differenzierung nach Deliktart und Anteil der Anwendung von JGG bei verurteilten Heranwachsenden (nach Dahle 2009) - Mord, Totschlag 93 % - schwerer Raub 97 % - Sexualdelikte 85 % Vergewaltigung 95 % - Diebstahl 73 % schwerer Diebstahl 90 % - Betrug 56 % - Körperverletzung 76 % gefährl. Körperverletzung 91 % - BtMG 78 % schw. BtMG 94 % - StVG 41 % ∑ über alle Verurteilungen: 62 % 61

2. Maßregeln der Besserung und Sicherung 2.1 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (gem. § 63 StGB) Voraussetzungen: a) Straftat b) eingeschränkte oder aufgehobene Schuldfähigkeit wegen einer psychischen Störung c) wenn die psychische Störung nicht nur vorübergehend ist d) wenn bisherige Straftaten erheblich waren und weitere ähnliche Straftaten zu erwarten sind e) enger Zusammenhang der Tat mit der Störung (Sympformcharakter des Dialektes) 62

Erheblichkeit: Straftaten gegen Leib und Leben, Straftaten die das Opfer psychisch stark schädigen Straftaten die zu schwerwiegenden Vermögensverlusten führen Anlasstat: … und zu erwartende Taten müssen nicht vergleichbar sein 63

Ziel der Maßregeln: Besserung und Sicherung Sicherung: … der Allgemeinheit durch bauliche Maßnahmen (geschlossene und gesicherte Abteilung oder Klinik) … in der Verantwortung von Landesgesundheits- ministerien (weil die Untergebrachten Patienten sind) … nicht zu vergleichen mit einem herkömmlichen Klinikbau … zur künftigen Gefahrenabwehr 64

Besserung: … durch therapeutische Bemühungen (vergleichbar dem Therapieangebot in einer Psychiatrischen Klinik) … wenn die Therapie erfolglos ist bleibt weiter die Notwendigkeit der Sicherung … Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss beachtet werden, z. B. durch die Aussetzung der Maßregel zur Bewährung mit entsprechenden Auflagen zu einer ambulanten Psycho- therapie 65

Parallelität der Sanktionen neben einer Unterbringung gem. § 63 StGB ist auch die Verhängung einer Freiheitsstrafe möglich wenn keine Freiheitsstrafe verhängt wurde oder wenn eine zeitige Freiheits- strafe schon abgeleistet ist, tritt mit der Erledigung der Unterbringung die Entlassung des Patienten ein die Unterbringung nach § 63 StGB ist nicht zeitlich begrenzt 66

Deliktgruppen die zu erheblichen Straftaten führen können: - Mord - Totschlag - Sexualstraftaten (Vorsicht bei Exhibitionismus!) - Gefährliche und schwere Körperverletzung - Raub, räuberische Erpressung, Menschenraub - schwerer Betrug - Entführung, Menschenhandel 67

Fragen an den Gutachter Liegen die Voraussetzungen von § 20 oder § 21 StGB vor? Sind infolge der Annahme der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit weitere Straftaten zu erwarten? Welcher Art werden künftige Straftaten sein? Achtung: Ob die künftigen Straftaten als erheblich zu werten sind, entscheidet nicht der Gutachter sondern das Gericht! 68

2.2 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (gem. § 64 StGB) ● Die Anordnung einer Entwöhnungsbehandlung ist nicht von der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) und auch nicht von der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) abhängig. ● Die maximale Unterbringungsdauer beträgt 2 Jahre . 69

Parallelität der Sanktionen neben einer Unterbringung gem. § 64 StGB ist auch die Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe möglich die Vollstreckungsreihenfolge sieht in der Regel den Vorwegvollzug von 2/3 der zeitigen Freiheitsstrafe vor nach dem erfolgreichem Abschluss der Entwöhnungstherapie wird darauf orientiert, den Rest der Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen 70

b) Straftat geht auf einen Hang zum Konsum berauschender Voraussetzungen: a) Straftat b) Straftat geht auf einen Hang zum Konsum berauschender Substanzen zurück c) es kann erwartet werden, dass die Entwöhnungsbehandlung den Hang bessert und damit die Rückfallgefahr in Delinquenz vermindert d) die Maßregel wird nicht angewendet, wenn die Behandlung von vornherein aussichtslos erscheint 71

„Hang“ ? (juristischer Begriff) Eingewurzelte, auf psychische Dispositionen zurückgehende oder durch Übung intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren Neigung muss noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben Übermaß: Einnahme berauschender Mittel in einem Umfang, so dass die Gesundheit, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt werden 72

Fragen an den Gutachter Besteht bei dem Angeklagten eine Substanzabhängigkeit oder ein chronischer Substanzmissbrauch? Besteht die Gefahr, dass aufgrund der Substanzabhängigkeit weitere Straftaten begangen werden? Welcher Art werden die künftigen Straftaten sein? Existieren Hinweise auf eine konkrete Erfolgsaussicht bezüglich der Entwöhnungsbehandlung? 73

2.3 Einstweilige Unterbringung (gem. § 126a StPO) Ziel der Maßnahme: - im Ermittlungsverfahren ergeben sich Hinweise auf Voraussetzungen für die Unterbringung gemäß § 63 StGB oder § 64 StGB - zur Vermeidung von Untersuchungshaft kann deshalb der Haftrichter eine einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO anordnen, wenn: ein Gutachten die Voraussetzungen zur Anwendung von §§ 63 oder 64 StGB „nach vorläufigem Befund und Kenntnisstand“ ergeben hat 74

der Betroffene ist Patient, muss aber sehr stark gesichert werden Problem: der Betroffene ist Patient, muss aber sehr stark gesichert werden (Untersuchungshaftvermeidung) dadurch sind therapeutische Maßnahmen nur beschränkt möglich (z. B. keine Lockerungen) und der Patient gilt als unschuldig, damit ist eine Behandlung gegen seinen Willen nur in Ausnahmefällen (Notfällen) möglich 75

dem Patienten kann nur eine Therapie angeboten werden Besonderheiten: dem Patienten kann nur eine Therapie angeboten werden Schweigepflicht: Unsicherheiten, welche Bereiche von der Schweigepflicht ausgenommen sind und welche Aspekte müssen einem Gericht gegenüber offenbart werden bei der einstweiligen Unterbringung gilt nicht das Beschleunigungsgebot, d. h. im Unterschied zur Untersuchungshaft erfolgt nach 6 Monaten keine Überprüfung der Haftgründe durch das zuständige OLG (Unterbringung dauert durchschnittlich erheblich länger als Untersuchungshaft) 76

2.4 Sicherungsverwahrung (gem. § 66 StGB) und nachträgliche Sicherungsverwahrung (gem. § 66b StGB) - wird vom Gesetzgeber neu formuliert - (aufgrund eines Urteils des BVerf.G 2011) 77