Demokratische Neuerungen und Bürgerbeteiligung in Lateinamerika

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 Präsentation transkript:

Demokratische Neuerungen und Bürgerbeteiligung in Lateinamerika Vom Süden lernen? Demokratische Neuerungen und Bürgerbeteiligung in Lateinamerika Thamy Pogrebinschi Professorin für Politikwissenschaft Universität Rio de Janeiro (IESP-UERJ) Wissenschafliche Mitarbeiterin Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) Alfred Grosser-Gastprofessur Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung Polytechnische Gesellschaft

Krise der Demokratie??? Symptome: Rückgang der Wahlbeteiligung Mitgliederschwund bei den Parteien Steigender Anteil von Wechselwählern Politikverdrossenheit: Sinkendes Vertrauen in politische Institutionen wie Regierung, Parlamente und politische Parteien Unzufriedenheit mit der Demokratie

In Lateinamerika... Ab 1978: „Dritte Welle der Demokratisierung“ Nach der Diktatur: „delegative “ oder „defekte“ oder „Pseudo“-Demokratien Unzufriedenheit mit der Demokratie + niedriges politisches Vertrauen + Korruption + Kriminalität + Unterentwicklung + Soziale Ungerechtigkeit + .... In 2000 waren 60% der Bürger unzufrieden mit der Demokratie.

Vertrauen in Institutionen: Regierungen

Vertrauen in Institutionen: Parlamente

Vertrauen in Institutionen: Politische Parteien

Ab 1998: Die „Linkswende“ Wirtschaft: Alternative zum Neoliberalismus Ziel: Soziale Gerechtigkeit Politik: Starke Beziehung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen Bewegungen Anstieg der Beteiligung Partizipative Demokratie

Ein neues Modell der Demokratie? Zunehmende Verbreitung experimenteller Formen des Regierens Institutionalisierung partizipativer Innovationen, die den Bürgern erlauben, eine größere Rolle im politischen Entscheidungsprozess zu spielen. Regierungen experimentieren mit neuen Formen der politischen Partizipation über die Wahlen hinaus und kombinieren diese mit neuen Orten der Repräsentation über die Parlamente hinaus und gestalten politische Institutionen um.

Die experimentellen Regierungsformen Lateinamerikas bedienen sich demokratischer Innovationen, um… Defekte repräsentativer Institutionen (Korruption, Klientelismus, usw.) mit Hilfe partizipativer Innovationen zu korrigieren. demokratische Innovationen als Mittel zu verwenden, um Ziele der sozialen Gerechtigkeit zu verfolgen.

Soziale Gerechtigkeit Politische Mittel Repräsentation Partizipation Deliberation Direkte Demokratie Soziale Zwecke Umverteilung Gleichheit Inklusion Soziale Gerechtigkeit

Besonders effektive partizipative Innovationen Bürgerhaushalte in Brasilien Umverteilung öffentlicher Güter wurde erreicht. Volksabstimmungen in Bolivien und Gemeinderäte in Venezuela Benachteiligte Gruppen wurden in den politischen Prozess integriert. Nationale Politikkonferenzen in Brasilien Bedürfnisse von Minderheiten wurden in der Politikgestaltung berücksichtigt.

Die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien Lokale Konferenzen (bis zu 5656 Städte) Lokale Ebene Konferenzen der Bundesstaaten (bis zu 27 Bundesländer) Länder- ebene Nationale Konferenz Bundes- ebene Eine wachsende Zahl von Bürgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen beraten gemeinsam mit der Regierung über Politikvorschläge. Bürger, zivilgesell- schaftliche Organi- sationen, private Unternehmer und gewählte Volksvertreter aus allen drei staatlichen Ebenen beratschlagen gemeinsam und einigen sich auf eine gemeinsame politische Agenda für ihr Land.

Die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien Lokale Konferenzen Offen Wahl der Delegierten Konferenzen der Bundesstaaten Halb-offen Nationale Konferenz Begrenzt Delegierte + Beobachter

Die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien Einfluss auf Politikgestaltung und Gesetzgebung: Rund 20% aller Gesetzesvorhaben, die 2009 im brasilianischen Bundesparlament behandelt wurden, stimmten inhaltlich mit den Empfehlungen der nationalen Konferenzen überein. An den 82 nationalen Konferenzen, die zwischen 2003 und 2011 in Brasilien stattgefunden haben, haben rund 7 Millionen Menschen teilgenommen.

Der Bürgerhaushalt Der Bürgerhaushalt wurde1989 in Porto Alegre (Brasilien) entwickelt. Bürgerversammlungen in 16 Stadtteilen, wo Prioritäten bestimmt sowie Delegierte, die die Ausarbeitung der Vorschläge weiter verfolgen, gewählt werden, z.B. Wasserversorgung, Straßenbau. Auch Regeln zur Ausgestaltung der kommunalen Politik werden diskutiert, wie z.B. für die Bereiche Bildung, Gesundheit, Kultur etc. Die zur Verfügung stehenden Gelder werden unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl, der Qualität der vorhandenen Infrastruktur sowie der lokalen Prioritätenliste zwischen den Stadtteilen aufgeteilt. Stadtteile mit einer mangelnden Infrastruktur bekommen mehr Mittel.

Quelle: Smith 2009

Der Bürgerhaushalt Kontrolle durch die Bürgerschaft. Gruppen (wie der Rat des Bürgerhaushalts) treten regelmäßig zusammen. Ko-Planung mit der Verwaltung. Der Rat begleitet die Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Ergebnisse: Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur Stärkung der Zivilgesellschaft Klientelistische Strukturen wurden überwunden.

Können die demokratischen Neuerungen soziale Gerechtigkeit bzw Können die demokratischen Neuerungen soziale Gerechtigkeit bzw. Inklusion fördern? Soziale Inklusion: Umverteilung öffentlicher Güter Ökonomische Inklusion: Verbesserung der Lebensumstände benachteiligter Gruppen Politische Inklusion: Anstieg der Partizipation von Bürgern mit geringem Bildungsniveau und Einkommen Kulturelle Inklusion: Ausweitung von Minderheitenrechten und die Reintegration unterrepräsentierter Gruppen im politischen Prozess

Wäre so ein Rezept für politische Reformen für Europa passend? In Europa sind Reformen zur Verstärkung der Bürgerbeteiligung gewiss kein neues Thema auf der demokratischen Tagesordnung. Allerdings wurden sie bislang hauptsächlich als Teil von Reformen betrachtet, die auf repräsentative Institutionen wie Parteien- und Wahlsysteme abzielen. Bestenfalls wurden Forderungen nach einer effektiveren Beteiligung der Bürger am politischen Prozess in die Prozesse der direkten Demokratie eingebunden. Aber Referenden und Volksabstimmungen sind auf Abstimmungen beschränkt und stellen daher nur eine begrenzte Form der politischen Partizipation dar.

Wäre so ein Rezept für politische Reformen für Europa passend? Außerdem beschränkt sich der Einsatz direktdemokratischer Verfahren in Europa bislang weitgehend auf die kommunale Ebene und vergleichsweise kleine politische Einheiten. Bürgerinitiativen erreichen heute meistens nicht die nationale Ebene und mobilisieren oft nur relativ wenige Bürger. Der Nachweis, dass sie auch auf nationaler (oder transnationaler) Ebene auch in Europa realisierbar und effektiv sein können, muss noch erbracht werden.

Die Bürgerhaushalte wurden relativ erfolgreich von Lateinamerika auf Europa übertragen. 2009 hatten mehr als 200 europäische Städte eine Variante des Bürgerhaushalts umgesetzt. Mehr als 8 Millionen Bürger beteiligten sich an Bürgerhaushaltsexperimenten. Europäische Städte haben den richtigen Weg gefunden, das Experiment an ihren jeweils spezifischen lokalen Kontext anzupassen, aber dennoch sind Bürgerhaushalte weit davon entfernt, in Europa eine solche institutionelle Realität zu sein wie in Lateinamerika.

Vom Süden lernen? Interessanterweise sind es die neuen Demokratien, die den alten, etablierten Demokratien ein solches Rezept an die Hand geben. Ob partizipative Innovationen die repräsentativen Institutionen in Europa verbessern könnten, und ob diese Verbesserung die Krisendiagnose verringern könnte, indem sie die Zufriedenheit der Bürger mit der Demokratie erhöht, sollte aber noch empirisch erforscht werden.