Theoretische Grundlagen der Interdisziplinarität Roland Posner Technische Universität Berlin
Inhaltliche Gliederung I. Kriterien beruflicher Disziplinarität II. Kriterien wissenschaftlicher Disziplinarität III. Typologie der Disziplinen IV. Die Rolle der Semiotik im Kontext der gegenwärtigen akademischen Disziplinen
I. Kriterien beruflicher Disziplinarität (1) Geht es um wiederholte Tätigkeiten? Wenn ja, handelt es sich um ein Feld. (2) Werden diese Tätigkeiten von jemandem ausgeführt, um bestimmte Fähigkeiten zu verbessern? Wenn ja, handelt es sich um eine Praxis. (3) Dienen diese Tätigkeiten dem Lebensunterhalt? Wenn ja, handelt es sich um Arbeit. (4) Werden diese Tätigkeiten von einer speziellen Personengruppe ausgeführt? Wenn ja, handelt es sich um einen Beruf. (5) Wird dieser Beruf in einer Institution gelehrt? Wenn ja, handelt es sich um eine Disziplin.
II. Kriterien wissenschaftlicher Disziplinarität - Wenn die Tätigkeiten dem Zweck dienen, Wissen zu erwerben, handelt es sich um ein Studium. - Wenn ein Gegenstandsbereich des Studiums in seiner Gesamtheit behandelt wird, handelt es sich um eine Erkundung. - Wenn der Gegenstandsbereich homogen oder kohärent ist, dann ist es eine Untersuchung. - Wenn die Untersuchung sich wiederholbarer Methoden bedient, handelt es sich um Forschung. - Wenn die Forschung konsistente Theorien anstrebt, handelt es sich um Wissenschaft. - Die intersubjektiven Darstellungsmittel einer Wissenschaft nennen wir ihren theoretischen Apparat. - Die Menge der Personen, die im Rahmen der wissenschaftlichen Praxis miteinander kommunizieren, gilt als Wissenschaftlergemeinschaft. - Die von einer Wissenschaftlergemeinschaft akzeptierten Konzeptionen ihrer Wissenschaft sind ihr wissenschaftliches Paradigma.
(a)Ontologisch orientierte Philosophen von Christian Wolff (1726) bis Nicolai Hartmann (1935) haben die Struktur der Welt als gegeben und jedes ihrer Segmente als Gegenstandsbereich einer Disziplin angesehen. Doch dieser Ansatz ist zu undifferenziert. Er muss ergänzt werden durch Einbeziehung der gewählten Untersuchungsperspektive. Dies erzeugt jedoch so viel Flexibilität, dass fast jedes Feld wissenschaftlicher Studien als mögliche Disziplin betrachtet werden kann. (b)In den wissenschaftstheoretischen Diskussionen des deutschen Idealismus im 19. Jh. wurden die Untersuchungsmethoden zum entscheidenden Kriterium erhoben. So ließ sich aber nicht erklären, wieso ein und dieselbe Disziplin sich auf eine Vielzahl verschiedener, kaum kompatibler Methoden stützt.
(c) Die logischen Empiristen (20. Jh.) betrachteten Theorien und die in ihnen verwendeten Darstellungsmittel als entscheidend. Doch konnten sie nicht der Tatsache gerecht werden, dass es bisher kaum eine Disziplin gibt, die eine einheitliche Theorie besitzt, welche ihre Grenzen bestimmen könnte. (d)Die sozialwissenschaftlich orientierten Ansätze der 1970er und 1980er Jahre behandeln das Problem mit Bezug auf die gegebenen Wissenschaftlergemeinschaften und deren Kommunikationsweise. Doch sind Wissenschaftlergemeinschaften zu komplex und miteinander verflochten, als dass sie sich als Grundlagen für die Definition einzelner Disziplinen eignen würden. (e)Genetische Ansätze wie die von Popper (1935) und Kuhn (1962) betrachten die historische Identität einer Disziplin als grundlegend, die auf gemeinsamen wissenschaftlichen Paradigmen beruht. Doch können sie nicht die Frage beantworten, ob ein Feld eine Disziplin bleibt, wenn es nicht mehr all seinen vorangegangenen Forschungsprogrammen folgt.
Wie sich zeigt, ist keines der genannten wissenschaftstheoretischen Kriterien hinreichend für die Definition und die Abgrenzung wissenschaftlicher Disziplinen voneinander: (1) Gegenstandsbereich (2) Perspektive (3) Methoden (4) Theorie (5) Darstellungsmittel (6) Kommunikationsweise (7) Geschichte der Disziplin Erforderlich ist die Kombination der Kriterien 1-5. Sie liefert eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Tätigkeitsfeld als Disziplin im wissenschaftstheoretischen Sinne gilt.
Aber wie unterscheiden sich die Disziplinen denn voneinander und was bestimmt ihre Grenzen? Eine wissenschaftliche Disziplin benötigt zumindest (1) einen homogenen Gegenstandsbereich oder (2) eine einheitliche Perspektive oder (3) eine zentrale Methode oder (4) ein maßgebliches Wissenskorpus oder (5) dominante Darstellungsmittel.
Als Ergebnis können wir festhalten, dass ein Untersuchungsfeld genau dann eine wissenschaftliche Disziplin ist, (A1) wenn es einen festen Gegenstandsbereich hat, der in seiner Gesamtheit untersucht wird und (A2) wenn es eine spezifische Menge wertfreier Perspektiven hat und (A3) wenn es eine Menge von Methoden hat, die wiederholt anwendbar sind und (A4) wenn es eine Theorie besitzt, die falsifizierbar ist und (A5) Darstellungsmittel, die intersubjektiv verständlich sind; und außerdem wenn seine Grenzen festgelegt sind mit Bezug auf (B1) die Homogenität des Gegenstandsbereichs oder (B2) die Einheitlichkeit seiner Perspektiven oder (B3) die zentrale Rolle einer seiner Methoden oder (B4) ein maßgebliches Wissenskorpus oder (B5) dominante Darstellungsmittel.
III. Typologie der Disziplinen 1. Akademische Disziplinen 2. Teildisziplinen 3. Hilfsdisziplinen und angewandte Disziplinen 4. Metadisziplinen 5. Multidisziplinarität 6. Interdisziplinarität und Transdisziplinarität
Dreistufiges gemischtes System von Teildisziplinen der Linguistik 2. Teildisziplinen
Sechsstufiges gemischtes System von Teildisziplinen der Linguistik
Einige Teildisziplinen der Physik
Einige Teildisziplinen der Linguistik
III. Typologie der Disziplinen 1. Akademische Disziplinen 2. Teildisziplinen 3. Hilfsdisziplinen und angewandte Disziplinen 4. Metadisziplinen 5. Multidisziplinarität 6. Interdisziplinarität und Transdisziplinarität
4. Metadisziplinen Metazeichen Metatext Metafeld Metastudium Metawissenschaft metawissenschaftliches Studium Objektwissenschaft Dingsätze
5. Multidisziplinarität multidisziplinäres Feld multidisziplinärer Gegenstandsbereich multidisziplinäre Perspektive multidisziplinäre Methode multidisziplinäre Theorie multidisziplinäre Darstellungsweise
6. Interdisziplinarität versus Transdisziplinarität Interdisziplinarität durch Abstraktion Interdisziplinarität durch Extension Interdisziplinarität durch Integration
IV.Die Rolle der Semiotik im Kontext der gegenwärtigen akademischen Disziplinen 1. Semiotik als wissenschaftliche Disziplin 2. Die Sozialwissenschaften und die Geisteswissenschaften als Teildisziplinen der Semiotik 3. Semiotik als Metadisziplin aller akademischen Disziplinen 4. Semiotik als Hilfsdisziplin und die akademischen Disziplinen als angewandte Semiotik 5. Metawissenschaft als Metadisziplin sowie Teildisziplin der Semiotik 6. Metasemiotik als gegenstandsbezogene Teildisziplin der Semiotik 7. Semiotik als interdisziplinärer Ansatz 8. Semiotik und andere interdisziplinäre Ansätze
Literaturhinweise Posner, Roland ( ), „The relationship between individual disciplines and interdisciplinary approaches“. In: Posner, Roland, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (eds.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Berlin – New York: Mouton de Gruyter, Bd. III: Posner, Roland ( ), „The semiotic reconstruction of individual disciplines“. In: Posner, Roland, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (eds.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Berlin – New York: Mouton de Gruyter, Bd. III: