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Veröffentlicht von:Roswitha Eberly Geändert vor über 10 Jahren
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DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Vorwort Schmerzen, insbesondere chronische Schmerzen, werden nicht nur vom Betroffenen, sondern oft auch vom behandelnden Arzt als unangenehm empfunden. Dafür gibt es mehrere Gründe: Auf der emotionalen Ebene infiziert das Quälende des Schmerzes auch den Behandelnden. Auf der nüchtern ärztlichen Ebene lässt sich der Schmerz schwer fassen und objektivieren. Auf der therapeutischen Ebene sind Misserfolge in der Behandlung chronischer Schmerzen erfahrungsgemäss häufig und ein gut funktionierendes langfristig tragfähiges Arzt-Patientenverhältnis ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine effiziente Therapie. Neuropathische Schmerzen sind definiert als Schmerzzustände aufgrund einer Läsion oder Fehlfunktion des peripheren oder zentralen Nervensystems oder beider zusammen. Der neuropathische Schmerz entwickelt sich typischerweise nach Abheilung des Gewebeschadens, oder sogar ohne dass ein solcher erkennbar wäre. Er hat somit seine Funktion als körpereigenes Schutz-, Warn- und Präventivsystem vor irreversiblen Schäden am und im Körper verloren. Nach osteo-artikulären Ursachen (v.a Arthrose) sind neuropathische die zweitgrösste Gruppe chronischer Schmerzen. Solche Schmerzen führen zur physischen, psychischen und sozialen Zermürbung; die Akzeptanz durch Mitmenschen ist gering. Die Therapie dieser Schmerzen ist anspruchsvoll, manchmal auch frustrierend für Arzt und Patienten. Im folgenden Vortrag soll gezeigt werden, dass neuropathische Schmerzen eine spannende aber noch nicht restlos geklärte Pathophysiologie haben und es sollen – aufbauend auf diesem pathophysiologischem Verständnis – verschiedene Therapieansätze aufgezeigt werden. Prof. Dr. med. Matthias Sturzenegger, Bern DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Posthumes Portrait von
1. Geschichtliche Einführung Geschichtliches Wegbereiter der modernen Chirurgie Pionier in der Amputationschirurgie und Geburtshilfe Erstbeschreiber des Phantomschmerzes (1551) Zusammen mit einem kunstfertigen Schmied entwickelte er metallene bewegliche Prothesen. Unterarmprothese Götz von Berlichingens Ambroise Paré war möglicherweise ein Erstbeschreiber von zentralen neuropathischen Schmerzen. Er unterschied zwischen Präamputationsschmerzen und neuartigen Schmerzphänomenen nach der Amputation (Phantomschmerz). Obwohl ungebildet und des Lateins nicht mächtig, galt er als Wegbereiter der modernen Chirurgie, als Pionier auf dem Gebiet der Amputationschirurgie und der Geburtshilfe. Mithilfe eines kunstfertigen Schmiedes entwickelte er auch metallene Prothesen. Apropos Prothesen: Wussten Sie, dass der fränkische Ritter Götz von Berlichingen ( ) eine metallene Prothese am rechten Arm trug, nachdem ihm seine Hand bei einer Belagerung abgeschlagen worden war? Er konnte die Fingerglieder dieser Prothese sogar eingeschränkt bewegen und damit kämpfen. Seine Prothese kann im Museum von Jagtshausen besichtigt werden. Ambroise Paré, Posthumes Portrait von William Holl ( ) DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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2. Definition Definition Schmerz ist… „…ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache.“ [ Chronischer Schmerz … …ist nicht dasselbe wie lang anhaltender akuter Schmerz - denn er hat seine Warnfunktion verloren. …ist ein Krankheitsprozess basierend auf multiplen Schmerzverarbeitungsmechanismen im Nervensystem. …ist nicht mehr Symptom, sondern eine Krankheit für sich: eine Schmerzkrankheit. Jeder weiss aus eigener Erfahrung, was Schmerz ist. Die offizielle Definition der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes charakterisiert den Schmerz so: Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache. Gemäss dieser Definition sind unangenehme Empfindungen wie der „Herzschmerz“ des enttäuschten Liebenden nicht unter die Kategorie von Schmerzen einzuordnen, was auch sinnvoll ist. Nur unangenehmes Gefühlserleben, das – zu Recht oder Unrecht – mit einem Gewebeschaden in Verbindung gebracht wird, darf als Schmerz bezeichnet werden. Der akute Schmerz hat biologisch essentielle Funktionen. Menschen mit fehlender Schmerzwahrnehmung aufgrund einer genetischen Besonderheit, nämlich einer Mutation im nerve growth factor tyrosin kinase Rezeptor [Miranda et al., 2002], haben eine reduzierte Lebenserwartung. Der chronische Schmerz jedoch ist oft nicht oder nicht mehr Symptom einer anhaltenden Gewebsschädigung, sondern Folge maladaptiver neuronaler Prozesse. Das schmerzleitende und -verarbeitende System ist unaufhörlich aktiv, ohne dass biologisch noch eine Schutzfunktion wahrzunehmen wäre. Der Schmerz verselbstständigt sich und kann zur eigentlichen Krankheit werden, wie dies z.B. bei der Postzosterneuralgie beobachtet wird. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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2. Definition „neuropathischer Schmerz“
Schmerzverarbeitung Schmerz durch eine primäre Läsion oder Dysfunktion des peripheren oder zentralen Nervensystemes Aszendierende Bahnen im Rückenmark Hinterhorn Periphere Nervenläsion Neuropathischer Schmerz Die Definition des neuropathischen Schmerzes ist die folgende: “Schmerz, verursacht durch eine Läsion oder Dysfunktion des peripheren oder zentralen Nervensystemes”. Die Mechanismen, die zur Ausbildung neuropathischer Schmerzen führen, sind verschieden. Ein möglicher Mechanismus ist hier dargestellt. Nach einer Nervenläsion ändern sich die Eigenschaft und die Verteilung von spannungsabhängigen Natrium- und Kaliumionenkanälen im Bereich der Nervenfaserschädigung. Die Nervenzellmembranen sind vermehrt und abnorm erregbar und es kommt zu ektopen Impulsen im Axon selber, abgekoppelt von peripheren schmerzhaften Stimuli [Woolf, 2004]. D.h., die Nervenfaser wird zum Impulsgenerator selber, anstatt von peripheren Rezeptoren generierte Impulse nur weiterzuleiten (Impulstransduktor). Aktionspotentiale werden ektopisch generiert Erregungs-Schwelle ist erniedrigt Verschiedene Na-Kanäle und TRPV*-Rezeptoren sind involviert. *TRPV = Transient receptor potential vanilloid. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 9
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Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Klassifikation: Schmerztypen
Schädigender Stimulus Inflammation 1) Nozizeptiver Schmerz 2) Neuropathischer Schmerz Periphere Nervenläsion Mehrere Mechanismen Läsion ZNS 3) Funktioneller Schmerz (nicht inflammatorisch, nicht neuropathisch) Kein Gewebs- schaden, keine Nervenläsion Pathologische zentrale Schmerzverarbeitungs- mechanismen Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Abhängig vom Pathomechanismus lassen sich mindestens drei Grundformen von Schmerzen herleiten [Woolf, 2004; Chong and Bajwa, 2003]: Nozizeptiver Schmerz: Als Antwort auf eine Gewebsschädigung, wie ein Alarmsystem, das eine Gefahr für Gewebe und Körperteile ankündet. Neuropathischer Schmerz: Diese Schmerzform entsteht nach Schädigung von peripheren oder zentralen schmerzleitenden- und verarbeitenden anatomischen Strukturen. Verschiedene Mechanismen sind verantwortlich für die Ausbildung dieser Schmerzen im zentralen und peripheren Nervensystem. Funktioneller Schmerz: Dieser Schmerztypus ist das Resultat einer pathologischen zentralen Schmerzverarbeitung und hat wahrscheinlich kein organisches Substrat im engeren Sinn. Mögliche Beispiele für funktionelle Schmerzen sind das “Fibromyalgie-Syndrom”, das Reizdarmsyndrom oder auch Spannungskopfschmerzen. Kombinationsschmerz: ist im klinischen Alltag häufig. Bsp: Prostatacarcinom, das den Plexus lumboscralis infiltriert. Hier ist allerdings noch vieles unbekannt. So werden immer mehr genetische Variationen in Rezeptoraktivitäten und –empfindlichkeiten entdeckt, die bei der Schmerzwahrnehmung eine potentielle Rolle spielen. 4) Kombinationsschmerz (mixed pain) Nozizeptive (1) und neuropathische (2) Schmerzkomponenten [Abbildungen adaptiert von Woolf, 2004] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Schmerzvermeidungs-verhalten und emotionale Reaktion
3. Klassifikation Nozizeptiver Schmerz Der nozizeptive Schmerz hat Schutzfunktion. Schmerzvermeidungs-verhalten und emotionale Reaktion Nozizeptive Nervenendigungen in der Haut werden aktiviert. Gewebsschaden Schutzreflex Schutzreaktion Nozizeptiver Schmerz versus maladaptiver Schmerz Der nozizeptive Schmerz ist für das Überleben des Individuums wichtig. Der Mensch versucht kontinuierlich, allem aus dem Wege zu gehen, das seinem Körper Schaden zufügen könnte. Wenn trotzdem ein Gewebsschaden auftritt, z.B. durch einen Sturz mit schmerzhafter Kontusion des Knies, zielt das Bestreben dahin, alles zu tun, damit der Gewebsschaden sobald wie möglich wieder heilen kann. In diesem Fall erhöht sich die Sensibilität der verletzten Stelle so, dass eigentlich nicht schmerzhafte Reize schmerzhaft werden (Allodynie) und geringe Schmerzreize als deutlich stärker schmerzhaft verspürt werden (Hyperalgesie). Eine leichte Berührung des verletzten Knies wird als schmerzhaft empfunden. Als Folge dieser sekundären Hyperalgesie kommt es zu einem Schonverhalten, was für die Heilung günstig ist. Die erniedrigte Schmerzschwelle ist in diesem Falle adaptiv, d.h. dem Ziel der Heilung sinnvoll angepasst. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch beim Sonnenbrand. Nach Stunden kommt es zu einer Senkung der Schwelle, ab der die Temperatur als schmerzhaft empfunden wird. Normalerweise sprechen die Hitze- Nozizeptoren erst bei >42 ºC an. Wenn nun jemand nach einem Sonnenbrand warm duscht, so wird diese Wärme auf der sonnenverbrannten Haut als schmerzhaft empfunden, nicht aber in den nicht geröteten Hautarealen. Man spricht in diesem Falle von Wärme-Allodynie. Im Gegensatz dazu ist der maladaptive Schmerz losgelöst von andauerndem Gewebsschaden oder Gewebsheilung. Der Schmerz hat - biologisch gesehen - keinen Sinn mehr. Ein solcher maladaptiver Schmerzcharakter ist typischerweise bei neuropathischen Schmerzen vorhanden, bei denen das periphere oder zentrale Nervensystem geschädigt ist. Der maladaptive Schmerz ist Ausdruck einer pathologischen Verarbeitung sensorischer Signale [Woolf, 2002]. periphere Sensibilisierung Schonverhalten [Adaptiert von Scholz and Woolf, 2002] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Neuropathischer Schmerz: Oft maladaptiver Schmerz
3. Klassifikation Neuropathischer Schmerz: Oft maladaptiver Schmerz Hyperalgesie und Allodynie: Typisch, aber nicht pathognomonisch für neuropathischen Schmerz Definition Hyperalgesie: Erhöhte Schmerzempfindlichkeit. Die Schmerzschwelle ist erniedrigt. Definition Allodynie: Schmerz, verursacht durch einen nicht-schmerzhaften Stimulus. Modalität Temperatur / Berührung → Modalität Schmerz Wenn die Dauer oder das Ausmass des Schmerzes, der Hyperalgesie oder der Allodynie maladaptiv geworden ist, d.h. keine primäre Schutzfunktion mehr ausübt, ist der Schmerz nicht mehr länger biologisch sinnvoll, sondern er wird vom Symptom zur Krankheit. Kennzeichen des neuropathischen Schmerzes Der neuropathische Schmerz unterscheidet sich vom nozizeptiven definitionsgemäss durch den Entstehungsmechanismus: der neuropathische Schmerz tritt in Gefolgschaft einer Läsion oder Funktionsstörung des peripheren oder zentralen Nervensystemes auf. Eine fortschreitende Gewebeschädigung ist nicht ersichtlich. Typisch ist auch ein verzögertes Auftreten (Wochen) nach auslösender Nervenschädigung. Zusätzlich zeichnet sich der neuropathische Schmerz häufig durch besondere Schmerzcharakteristika aus [Melzack et Wall, 1965]: Abnorme unangenehme Empfindungen (Dysaesthesien), oft von brennender oder elektrisierender Qualität. Paroxysmale, einschiessende Schmerzqualität- Schmerz wird empfunden in einem Gebiet mit Sensibilitätsstörungen Persistierende Allodynie und Hyperalgesie sind oft bei neuropathischen Schmerzen anzutreffen: Die Allodynie bezeichnet einen Schmerz, der durch einen primär nicht schmerzhaften Stimulus ausgelöst wird: Es gibt Kälteallodynie, Wärmeallodynie, mechanisch dynamische Allodynie (leichtes Bestreichen der Haut verursacht Schmerz) und weitere Formen der Allodynie [Sandkühler, 2009; Baron, 2006]. Es ist nicht immer einfach, die Hyperalgesie von der Allodynie abzugrenzen. Abnorme zeitliche Summation von Schmerzreizen: Der Schmerz schaukelt sich durch repetitive Reizapplikation auf (wind up Phänomen). Diesem Phänomen liegen vorwiegend pathologische Summationsprozesse im Hinterhorn des Rückenmarks zugrunde. Er tendiert stark zur Chronifizierung, z.B. die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie. [Sandkühler, 2009] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 13
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Nozizeptiver und neuropathischer Schmerz
3. Klassifikation Nozizeptiver und neuropathischer Schmerz Nozizeptiver Schmerz Neuropathischer Schmerz Identifizierbarer Stimulus, der normalerweise einen Gewebsschaden verursacht oder Gewebsschaden selber Oft spontan, ohne identifizierbaren Stimulus oder abgelaufener Schaden am PNS/ ZNS Selbstlimitierend Wenn chronisch, dann wegen anhaltender Entzündung Oft chronisch Übermittelt durch strukturell und funktionell intaktes schmerzverarbeitendes System. Oft mit strukturellen oder funktionellen Veränderungen des schmerzverarbeitenden Systems assoziiert Beispiele: Postoperativer Schmerz, Sonnenbrand Beispiele: Polyneuropathie (Diabetes, HIV), Trigeminusneuralgie, zentraler Post-Stroke-Schmerz Mixed pain Unterschiede zwischen nozizeptivem und neuropathischem Schmerz Die dargestellten Unterschiede zwischen nozizeptivem und neuropathischem Schmerz sind in der klinischen Praxis meist einfach. Es gibt allerdings Überlappungsphänomene, wobei ein Schmerzsyndrom sowohl nozizeptive als auch neuropathische Schmerzanteile hat. Man spricht in diesen Fällen von Kombinationsschmerz (mixed pain). Am schwierigsten ist die Zuordnung des Schmerzes bei lumbalen Schmerzsyndromen mit radikulären und pseudoradikulären Ausstrahlungen. Hier ist es oft schwierig, den Anteil neuropathischer Schmerzkomponenten (im engeren Sinn eine radikuläre Läsion) abzuschätzen. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 14
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Abgrenzung verschiedener Schmerztypen
3. Klassifikation Abgrenzung verschiedener Schmerztypen Nozizeptiver Schmerz Gewebsschaden Entzündlicher Schmerz Frakturschmerz Arthritischer Gelenksschmerz Postop. viszeraler Schmerz Schmerzsymptome Kontinuierlich Scharf/stechend Klopfend/pulsierend Lumbo- oder zerviko-radikuläres Syndrom Tumor-Schmerz Posttraumatischer Schmerz Mixed Pain Neuropathischer Schmerz Läsion oder Dysfunktion im Nervensystem Peripher Postherpetische Neuralgie Diabetische Polyneuropathie Posttraumatische Nervenläsion Zentral Post-Stroke-Schmerz Myelopathie (MS, traumatisch) Phantomschmerz Schmerzsymptome Brennend Kribbelnd Einschiessend Allodynie Beispiele nozizeptiver, neuropathischer oder mixed pain Schmerzen Klassische mixed pain Schmerzen sind lumboradikuläre und zervikoradikuläre Schmerzsyndrome. Hier ist meist der neuropathische Schmerz, verursacht durch die kompressive Wurzelläsion, im Vordergrund. Durch die chirurgische Dekompression der Wurzel kann erfahrungsgemäss innert Minuten der neuropathische Schmerz verschwinden. Die neuropathischen Schmerzen lassen sich nach ihrem Ursprungsort in 1) periphere und 2) zentrale einteilen. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 15
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Schmerzverarbeitung und Wahrnehmung
4. Physiologie Schmerzverarbeitung und Wahrnehmung Schmerzempfindung Rückenmark Hinterhorn Wie entsteht Schmerz? Die Schmerzwahrnehmung ist ein biologisches Warnsystem. Die Schwelle, die entscheidet, ob ein Stimulus schmerzhaft ist oder nicht, muss tief genug sein, um Gewebsschäden zu verhindern, aber nicht zu tief, weil sonst einfache Berührungen schmerzhaft und somit normale Aktivitäten eingeschränkt wären. Wie kommt es zur Schmerzwahrnehmung? Es lassen sich 4 Phasen der Schmerzübertragung und -verarbeitung (somatosensorische Prozessierung) abgrenzen: Transduction: Gewebsschädigende Stimuli werden in elektrische Aktivität umgewandelt, nachdem hitze- oder kältesensitive Rezeptoren sowie mechanisch oder chemisch stimulierbare Rezeptoren aktiviert werden. Diese Rezeptoren sind vorwiegend auf Endigungen von C-Fasern oder Aδ-Fasern lokalisiert. Conduction: Die elektrische Aktivität wird in Form von Aktionspotentialen zum Hinterhorn des Rückenmarks übertragen. Transmission: In den oberflächlichen Schichten des Hinterhornes wird die elektrische Aktivität synaptisch auf ein 2. Neuron umgeschaltet, das im spinothalamischen oder spinobrachialen Faserstrang des Rückenmarks zum Hirn aufsteigt. Perception: Im Thalamus werden diese elektrischen Signale an den Cortex (u.a. primärer somatosensibler Cortex im Gyrus postzentralis) und an tiefere Hirnstrukturen weitergeleitet. Der spinobrachiale Trakt stellt eine Verbindung zum Hippokampus und der Amygdala her, die als Teile des limbischen Systems für die emotionale Färbung des Schmerzes und für das emotionale Gedächtnis zuständig sind. C-Fasern: Unbemarkte langsam leitende Fasern: Die Geschwindigkeit ist mit m/sec sehr langsam. C- Fasern leiten dumpfen, ungenau lokalisierten Schmerz, typischerweise auch viszeralen Schmerz. A-δ-Fasern: Bemarkte Fasern mit mittelschneller Erregungspropagation (5-30 m/sec). Leiten gut lokalisierten Schmerz. Verantwortlich auch für den spinalen Fluchtreflex bei Schmerzen. Nozizeptoren (C-Fasern; Aδ-Fasern) werden aktiviert DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 17
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Transduction Nozizeptives peripheres Terminal 4. Physiologie
Die Nervenendigungen (hier als Beispiel die Nervenendigungen der Haut) besitzen eine Vielzahl von nozizeptiven Transductoren. Diese können durch Kälte - beim Menschen aktivierbar bei Temperaturen <10 ˚C -, Hitze (>42 ˚C) - Säure, Entzündungsmediatoren (Prostaglandin E2, Bradykinin und Nerve growth factor) oder mechanische Kräfte aktiviert werden. Es sind nichtselektive Kalzium- oder Natriumkanäle, die sich nach Aktivierung öffnen, wodurch Kalzium- und Natriumionen in die nozizeptiven Terminals fliessen, was zur Depolarisation der Membran führt. Ist der depolarisierende Ca- und Na-Ionen-Einstrom gross genug, werden spannungsabhängige Na-Kanäle-geöffnet (NAv1.8/1.9), die ein Aktionspotential auslösen. Einige dieser spannungsabhängigen Na-Kanäle Na v 1.8 und Na v 1.9 kommen nur in primären nozizeptiven Afferenzen vor. Eine ideale Schmerztherapie bestünde darin, diese superselektiv zu blockieren. Solche Medikamente gibt es allerdings zurzeit (noch) nicht [Woolf, 2002]. Die meisten Nerventerminale der Nozizeptoren sind polymodal, d.h. sie sind mit Transductoren verschiedener Modalitäten (z.B. Säure und Hitze) bestückt. Manche Nozizeptoren haben eine deutlich höhere Schwelle, ab der ein nozizeptiver Stimulus zur Generierung eines Aktionspotentiales führt. Unter besonderen Bedingungen können diese sensibilisiert und reaktiviert werden und somit die Schmerztransduction verstärken. Es gibt Mediatoren, die zu einer direkten Erregung der nozizeptiven Rezeptoren führen, und solche, die den Rezeptor sensibilisieren [Baron, 2006]. Normale menschliche Haut. Gelbe Nervenfaserbündel in der Dermis bilden den subepidermalen Nervenplexus an der Basalmembran („basement membrane“). Von dort ziehen radiär Nervenfasern in die Epidermis und gewährleisten eine homogene Abdeckung mit Rezeptoren. [Kennedy et al., 2005] [Adaptiert nach Woolf, 2004] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Conduction: Periphere Nervenfasern
4. Physiologie Conduction: Periphere Nervenfasern Schnitt durch ein Nervenfaszikel (Elektronenmikroskop) Grosse, dickmyeliniserte A-Fasern = “Nicht-Nozizeptoren” Kleine, dünnmyelinisierte A-Fasern “Nozizeptoren” Unmyelinisierte C-Fasern C Aβ Aδ [Melzack et Wall, 1965] Faser-Typ Beschaffen-heit Geschwin-digkeit (m/s) Funktion Perzeption A (gross) Dick-myelinisiert 30–70 Berührung Druck Vibration Scharf Gut lokalisiert A (small) Dünn-myelinisiert 5–30 Schmerz (Nadelstich) Temperatur (Kälteschwelle) C (small) Un-myelinisiert ≤1 Schmerz (Temperatur, Druck, chemisch) Dumpf Unscharf lokalisiert Conduction Die peripheren Afferenzen übertragen die Signale in Form von Aktionspotentialen zum Hinterhorn des Rückenmarks. Der Zellkörper liegt im Spinalganglion (sog. pseudounipolare Nervenzellen). Diese Afferenzen bestehen vorwiegend aus C-Fasern, die dumpfe, schlecht lokalisierte Schmerzsignale übertragen. Die dünn- myeliniserten A-Fasern sind für die Übertragung von stechend scharfen, gut lokalisierbaren Schmerzqualitäten zuständig. Keine nozizeptiven Eigenschaften besitzen unter normalen Bedingungen die dicken A-Fasern. Diese sind für die epikritischen, sensiblen Impulse zuständig und haben eine tiefe Reizschwelle. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Modulation durch neuronale, gliale und endokrine Faktoren
4. Physiologie Transmission Gating: Schmerzmodulation auf Ebene des Hinterhornes Deszendierende Hemmung: Noradrenalin Serotonin pathways Modulation durch neuronale, gliale und endokrine Faktoren GATING Neurotransmitter und Neuromodulatoren („GATING“) Glutamat Substanz P + Transmission: Aktivierung der Nozizeptoren führt zu Schmerzimpulsen, die durch C- und Aδ-Fasern zum Hinterhorn des Rückenmarks geleitet werden. Das Hinterhorn dient als erste Schnittstelle, bevor Schmerzsignale zum Hirn geleitet werden. Die zentrale Schmerzübertragung wird im Hinterhorn des Rückenmarkes durch deszendierende Bahnen, Interneurone, gliale Zellen, Chemokine und endokrine Faktoren erheblich beeinflusst. Die Einflussnahme von inhibitorischen Mechanismen in der Schmerzverarbeitung auf segmentaler Stufe des Rückenmarkshinterhornes wird als “gate control-Theorie” bezeichnet [Melzack and Wall, 1965]. Verschiedene Neurotransmitter und Neuromodulatoren sind im “gating” involviert [Baron, 2006]. Substanz P und Glutamat haben exzitatorische (positive, schmerzimpulsverstärkende) Effekte, GABA, Glyzin, Endocannabinoide, Endorphine, Monoamine und Neurosteroide inhibitorische Effekte auf die Schmerzübertragung. Nebst den lokal modulierenden Faktoren im Hinterhorn spielen auch absteigende inhibitorische Fasersysteme eine wichtige Rolle in der Schmerzsignalübertragung [Sandkühler, 2009]. GABA Glyzin Endocannabinoide Endorphine Monoamine Neurosteroide C and Aδ Fasern Aktivierung von Nozizeptoren *GABA=γ-Aminobuttersäure DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Transmission Serotonin und Noradrenalin in der Schmerzverarbeitung
4. Physiologie Transmission Serotonin und Noradrenalin in der Schmerzverarbeitung A/A-Fasern Gliale Zelle C-Faser Absteigende hemmende Bahnen second-order projizierendes Neuron Gate control Die Rolle der deszendierenden Inhibition bei der Transmission [Baron, 2006]: Das Axon des second-order afferenten Neurons (orange) projiziert im Tractus spinothalamicus und spinobrachialis zum Thalamus und anderen Hirnzentren. Dieses second-order-Neuron hält in der Schmerzübertragung und -verarbeitung eine Schlüsselposition inne. Es unterhält polysynaptischen Kontakt mit einer Vielzahl von Nervenzellen, u.a. mit deszendierenden hemmenden Neuronen, die ihren Ursprung in serotoninergen und noradrenergen Hirnstammzentren haben. Ausserdem besteht polysynaptischer Kontakt mit hemmenden Interneuronen (hellgrün) und second-order-Neuronen von Aβ und Aδ-Fasern (blau). Diese inhibitorischen Einflussmöglichkeiten sind essentiell, um die Informationsmenge, die dem Hirn zufliesst, zu kontrollieren. Ist die deszendierende Inhibition aktiviert, kommt es zu einer Abnahme der Schmerzinformationen zum Hirn (veranschaulicht als Abnahme der Frequenz der orangen Impulse in dieser Animation). GABA*-erges inhibitorisches Interneuron *GABA=γ-Aminobuttersäure DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 21
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Perception 4. Physiologie
Schmerzperzeption Die Wege und Mechanismen, wie Schmerz im Hirn perzeptiert, emotional gefärbt wird und zu Bewusstsein kommt, sind noch weitgehend unverstanden. In einer Vielzahl von Studien mittels fMRI (funktionelles MRI) und PET sind sechs Hirnregionen durch alle Studien hindurch unter Schmerzzuständen aktiviert [Apkarian et al., 2006; Schweinhardt et al., 2006]: präfrontaler Kortex insulärer Kortex anteriorer cingulärer Kortex primärer und sekundärer somatosensorischer Kortex Hippokampus. Der Thalamus ist die primäre Umschalt- und Verteilstation für den Input von Schmerzsignalen [Scholz and Woolf, 2002]. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 22
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Nozizeption führt zu Schmerz
Animierte Grafik Darstellung unter «Bildschirmpräsentation» im Powerpoint 4. Physiologie Nozizeption führt zu Schmerz Das Ausmass der perzipierten Schmerzen ist abhängig von mehreren Funktionen. Integration in rostralen Zentren Schmerzperzeption = Schmerz!!! + Integration im Hinterhorn des Rückenmarks Die Schmerzwahrnehmung ist von vielen Faktoren abhängig: biologischen, sozialen und psychologischen. Das Ausmass der empfundenen Schmerzen ist determiniert durch die Intensität des originalen Stimulus, die Integration und Modulation des Stimulus im Hinterhorn, imThalamus und die Weiterverarbeitung in den suprathalamischen Hirnregionen. + Input von der Peripherie DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 23
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Entstehung und Unterhaltung neuropathischer Schmerzen
5. Pathophysiologie Entstehung und Unterhaltung neuropathischer Schmerzen Suprathalamische Fehlverarbeitung (Plastizität, Konditionierung) Schwächung der deszendierenden Inhibition Zentrale Sensibilisierung: Hinterhorn (gating) Ektope Impulsgeneration Neuropathische Schmerzmechanismen Folgende Schmerzmechanismen spielen eine Hauptrolle (Orte abnormer somato-sensorischer Prozessierung): Periphere Sensibilisierung: Die Nozizeptoren (Transduktoren) sind hyperaktiv. Ektope Impulsgeneration: In geschädigten nozizeptiven Afferenzen kommt es zu spontanen Impulsen im Nervengewebe (Typus Trigeminusneuralgie). Ephaptische Impulstransmission: Im Bereich geschädigter peripherer Afferenzen kommt es zum Überspringen von anderen afferenten Neuronen auf nozizeptive Neurone. Zentrale Sensibilisierung: Pathologische Schmerzverstärkung im Hinterhorn des Rückenmarks (Gating- Theorie) Schwächung der inhibitorischen Systeme: Serotonin- und Noradrenalin spielen eine wichtige Rolle. Suprathalamische Dysfunktion: Klassisch bei Deafferenzierungsschmerz und Phantomschmerz Periphere Sensibilisierung DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Schmerzmechanismen Periphere Sensibilisierung
5. Pathophysiologie Schmerzmechanismen Periphere Sensibilisierung Nav 1.8/1.9: nozizeptorspezifische spannungsabhängige Natriumkanäle PKA/PKC: Proteinkinase A resp. C TrkA: Tyrosinkinase A B1/2: Bradykininrezeptor 1/2 TRPV1: Capsaicin Rezeptor oder Vanilloid Rezeptor 1 EP: Prostaglandin E Rezeptor NGF: Nerve growth factor BK: Bradykinin PGE2: Prostaglandin E2 AA: Arachidonsäure Cox2: Cyclooxygenase 2 Wohl einer der wichtigsten und am besten verstandenen Prozesse, der zu einer Adaptation, manchmal auch zu einer Maladaption der Nozizeption führt, ist die periphere Sensibilisierung. Die meisten peripheren nozizeptiven Nervenendigungen sind polymodal, d.h. sie haben Rezeptoren exprimiert, die auf verschiedene Schmerzreize reagieren (z.B. Hitze und Säure). Geschädigte Zellen setzen intrazelluläre Stoffe frei, wie Kalium-Jonen und Adenosin-Triphosphat. Cytokine, Chemokine und Growth Factor werden durch nachfolgende Entzündungszellen freigesetzt. Manche dieser Substanzen aktivieren den Nozizeptor direkt (Nozizeptor-Aktivatoren), andere sensibilisieren das axonale Terminal (Nozizeptoren- Sensibilisierer). In einer Kaskade von enzymatischen Prozessen entstehen u.a. Prostaglandin E2 und Bradykinin, die über spezifische Rezeptoren zu einem erhöhten Ca-Einstrom ins Terminal führen. Die erhöhte Ca-Konzentration aktiviert die Proteinkinase A und C, die wiederum eine Reihe von Aminosäuren phosphorylieren. Als Endresultat dieser Phosphorylierung ändert sich die Erregungsschwelle der Rezeptoren und der Natriumkanäle. Somit erhöht sich die Empfindlichkeit der Rezeptoren, d.h. bereits Temperaturen um 37 Grad führen zu einer Aktivierung der Hitzerezeptoren und die Nervenmembran wird durch die alterierten spannungsabhängigen Ionenkanäle leichter erregbarer. Damit werden einerseits nicht schmerzhafte Reize über das nozizeptive System geleitet (Allodynie), und wenig schmerzhafte Reize werden verstärkt (Hyperalgesie). Weitere Effekte der peripheren Sensibilisierung betreffen die Veränderung benachbarter Nozizeptoren, die eine höhere Reizschwelle haben (schlafende Nozizeptoren) und die damit ebenfalls nozizeptiv aktiviert werden. Sensibilisierung kann also bedeuten: Senkung der Erregungsschwellen von Nozizeptoren Erweiterung des rezeptiven Feldes von Nozizeptoren Verstärkte Antwort von Nozizeptoren auf überschwellige Reize Rekrutierung stummer (hochschwelliger) Nozizeptoren Spontanaktivität in Nozizeptoren (z.B. via sympathisch adrenerge Aktivierung) [Adaptiert nach Woolf, 2004] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Zentrale Sensibilisierung und Ort der Wirkung einiger Pharmaka
5. Pathophysiologie Zentrale Sensibilisierung und Ort der Wirkung einiger Pharmaka Calciumkanal α2δ-Untereinheit (Pregabalin) second order Neuron C-Faser: primär afferent Deszendierende Inhibition Primäre Aβ-Afferenz NMDA-Rezeptor (Ketamin) Serotonin/NA-Rezeptor (Duloxetin, Venlafaxin) Trizyklische Antidepressiva GABA-Rezeptor Ein zweiter, wichtiger Mechanismus in der Entstehung neuropathischer Schmerzen, ist das Phänomen der zentralen Sensibilisierung. Eine periphere Nervenschädigung führt zu einer generellen Zunahme der Erregbarkeit des multirezeptiven second order Neuron (orange) im Hinterhorn des Rückenmarks. Wir erinnern uns: dieses second order Neuron empfängt den Impuls vom ersten nozizeptiven, afferenten Neuron und leitet es an Thalamus, Hypothalamus und Hirnstammkerne weiter. Anatomisch verlaufen diese Axonfortsätze im Tractus spinothalamicus und spinobrachialis. Die Vorgänge, die zur erhöhten Erregbarkeit des second order neurons führen, sind auf biochemischer und synaptischer Ebene komplex und nur teilweise verstanden. Eine Schlüsselrolle dabei nimmt der NMDA-Rezeptor ein, der durch Phosphorylierung vermehrt von intrazellulär in die Membran integriert wird und eine tiefere Erregungsschwelle bekommt. Input von A β- Fasern (blau) können via synaptischen Kontakt mechanorezeptive, nicht nozizeptive Reize auf das sensitivierte second order Neuron (orange) übertragen (siehe Skizze). Dies ist eine mögliche Erklärung für das Phänomen der mechanischen Allodynie, d.h. dass Berührungsreize als Schmerzen perzipiert werden. Inhibitorische Systeme, d.h. die deszendierende Hemmung und die Dauerhemmung durch die Interneurone, werden geschwächt. Viele andere Vorgänge haben an der zentralen Sensibilisierung Anteil. Folgende Synapsen sind hauptverantwortlich für die Transmission: Präsynaptischer Calciumkanal mit der durch Pregabalin und Gabapentin hemmbaren α2δ-Untereinheit Deszendierende Hemmung über den Serotonin/Noradrenalin-Rezeptor Dauerhemmung durch die inhibitorischen Interneurone, hier spielt der GABA-Rezeptor eine Schlüsselrolle Inhibitorisches Interneuron [Quelle: Baron, 2006] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Schmerzmechanismen Zentrale Inhibition und chronischer Schmerz
5. Pathophysiologie Schmerzmechanismen Zentrale Inhibition und chronischer Schmerz 5-HT=Serotonin NE=Noradrenalin abnehmende deszen-dierende Inhibition NE 5-HT inhibitorisches Interneuron verminderte Interneuron-Hemmung Zentrale Inhibition Die Schmerztransmission wird modifiziert durch 2 inhibitorische Systeme [Scholz and Woolf, 2002]: deszendierende Hemmung über serotoninerge und noradrenerge Faserverbindungen, die ihren Ursprung in Hirnstammkernen haben inhibitorische Interneurone (segmental) Spontane andauernde Aktivität der primären nozizeptiven Afferenzen (C-Fasern) verursacht Veränderungen in der zentralen Schmerzverarbeitung: Abnahme der deszendierenden Hemmung und Abnahme des Inputs von inhibitorischen Interneuronen, die weniger hemmende Transmitter, GABA und Glyzin, freisetzen. Dies würde auch erklären, warum Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Trizyklische Anitdepressiva, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) bei chronischen neuropathischen Schmerzen wirksam sind. inhibitorisches Interneuron [Adaptiert von Baron, 2006] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Anamnese und Quantifizierung
6. Klinik Anamnese und Quantifizierung 1) Schmerzcharakter Stechend, brennend, elektrisierend 4) Auslöser und Beeinflussung Spontanschmerzen? Triggerbar? Evozierte Schmerzen? Linderung durch? 6) Aktuelle und bisherige Therapien Analgetika Antidepressiva Nicht-medikamentöse Therapien 2) Verlauf Seit wann? Unter besonderen Umständen aufgetreten? Zunehmend? Dauerhaft? 5) Begleitsymptomatik Photophobie Rotes Auge,……. 7) Komorbiditäten Depression, Angst Schlafstörungen Persönliche Anamnese 3) Lokalisation Statisch? Wechselnd? Wo? (anatomisch) Der Patient mit neuropathischen Schmerzen: Anamnese Der neuropathische Schmerz hat einige recht typische Eigenschaften (vgl. auch Folie 13), die durch gezielte Anamnese erfragt werden müssen. Nicht nur Informationen über Art, Entstehung, Intensität und Besonderheiten der Schmerzen und die unternommenen Therapien sollen erfragt werden, sondern auch die Auswirkungen der Schmerzen auf den Menschen. Sozialer Rückzug? Partnerschaftliche Probleme? Schlafqualität? Arbeitsausfälle? Es gilt, sich nicht nur ein Bild über den Schmerz zu verschaffen, sondern auch über den Menschen, der unter diesen Schmerzen leidet. 8) Soziale Aspekte Beruf Freizeit Partnerschaft/Familie DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Anamnese und Quantifizierung
6. Klinik Anamnese und Quantifizierung Schmerzen lassen sich nicht objektivieren. Die Schmerzempfindung ist sehr individuell. Es hat sich eingebürgert, die Schmerzintensität mittels einer numerischen oder visuellen Skala von 0-10 vom Patienten taxieren zu lassen. Numerische Rating-Skala (NRC) Der Patient wird aufgefordert, die Schmerzintensität in einer Zahl von 0-10 anzugeben: 0 bedeutet kein Schmerz, 10 maximal vorstellbarer Schmerz. Visuelle Analog-Skala (VAS) Die visuelle Analog-Skala besteht aus einer 10 cm langen Linie, an der nur die Endpunkte „kein Schmerz“ und „stärkster vorstellbarer Schmerz“ eingezeichnet sind. Der Patient markiert mit einem senkrechten Strich die empfundene Schmerzstärke. Schmerztagebücher Zur Dokumentation des Therapieverlaufes – insbesondere von chronischen neuropathischen Schmerzen - empfiehlt es sich, dass der Patient ein Schmerztagebuch führt. Nebst Schmerzintensität und begleitenden sensiblen Störungen sollen noch sekundäre Schmerzphänomene, wie Schlafstörungen, Einschränkung des Soziallebens, psychischer Zustand, Nebenwirkungen von Therapien, und natürlich die eingenommenen Medikamente erfasst werden. Verschiedene Tagebücher sind erhältlich (z.B. oder DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Untersuchung Neurologische Untersuchung:
6. Klinik Untersuchung Neurologische Untersuchung: Nachweis einer Läsion oder Dysfunktion im peripheren oder zentralen Nervensystem z.B. Polyneuropathie: Sockenförmige Störung der Sensibilität Abgeschwächter Vibrationssinn Achillessehnenreflex ausgefallen Evtl. plantare Hyperhidrose oder Anhidrose Evtl. Atrophie der intrinsischen Fussmuskeln Behaarung, Nägel, Haut Schweissekretion Hautfarbe, Temperatur Neurologische Untersuchung Zentraler Bestandteil der Untersuchung von Patienten mit neuropathischen Schmerzen ist eine detaillierte neurologische Untersuchung. Dabei ist der Untersuchung der Sensibilität eine hohe Wichtigkeit zuzumessen. Die Modalitäten Temperatur, Schmerz, Berührung, Lagesinn (Pallästhesie) müssen separat geprüft werden, da sie nicht nur über verschiedene zentrale Afferenzen verlaufen (Tractus spinothalamicus und lemniskales System), sondern weil bei peripheren Läsionen, die dick- und dünnmyelinisierten Fasern oft unterschiedlich stark betroffen sind. Nicht vergessen: autonome Funktionen untersuchen. Anhidrose? Trophische Hautveränderungen? Temperaturunterschied von Gliedmassen? – als Ausdruck einer sympathischen Läsion oder einer Mitbeteiligung von autonomen (C-) Fasern. Nur genaue anatomische Kenntnisse, eine routinierte neurologische Untersuchungstechnik und die Erfahrung mit neurologischen Krankheitsbildern ermöglichen es, eine Läsion des zentralen und peripheren Nervensystemes zu erfassen und korrekt anatomisch einzuordnen. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Zusatzdiagnostik Zusatzdiagnostik bei peripheren Läsionen
6. Klinik Zusatzdiagnostik Zusatzdiagnostik bei peripheren Läsionen Elektroneurographie und Elektromyographie: Art der Nervenschädigung (demyelisierend oder axonal) und Ausmass Lokalisation einer Nervenläsion Cave: Kann bei isolierter small fiber neuropathy normal sein! Sudomotorische Reizantwort: Anhidrose (Beteiligung der autonomen Fasern)? Hautstanzbiopsie: Verminderte Hautinnervationsdichte: small fiber Neuropathie Hautstanzbiopsie Dichte Innervation in der Epidermis gesunder Haut [Quelle: Kennedy et al., 2004] Deutlich verminderte Nervenfasern-dichte in der Epidermis diabetischer Haut [Sorensen et al., 2006] Neurologische Zusatzdiagnostik Nur im Ausnahmefall sollte man bei neuropathischen Schmerzen mit vermuteter peripherer Läsion auf eine elektrophysiologische Zusatzdiagnostik verzichten. Diese ist hilfreich bei folgenden Fragestellungen: Organisches Substrat eines Schmerzsyndroms? Polyneuropathie oder Radikulopathie? Periphere Nervenläsion versus Plexus- oder Wurzelaffektion? Lokalisation der Nervenläsion (Engpass? Atypische Stelle?) Axonale versus demyelinisierende Läsion? Davon abgeleitet auch Hinweise auf die Aetiologie einer Polyneuropathie. Aber cave: eine normale Neurographie schliesst eine Polyneuropathie nicht aus, da nur die dickmyelinisierten Fasern erfasst werden (Aδ- und C-Fasern nicht). Um die dünnmyelinisierten Fasern zu erfassen, kann man in Einzelfällen eine Hautstanzbiopsie veranlassen. Das Hautstanzbiopsat kann aber nur in ganz wenigen spezialisierten pathologischen Instituten in der Schweiz zuverlässig untersucht werden. Alle diese Untersuchungen, insbesondere das Elektromyogramm, sind schmerzhaft. Deshalb wird von exzessiven Untersuchungen ohne klare Fragestellung oder aus reiner Freude am Dokumentieren abgeraten. [Quelle: Kennedy et al., 2004] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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7. Diagnose Diagnose Neuropathischer Schmerz ist ein Symptom, keine Diagnose per se. Neuropathische Schmerzen werden diagnostiziert aufgrund des besonderen Schmerzcharakters und des Nachweises einer Läsion oder Funktionsstörung des Nervensystems. Die Klassifikation richtet sich nach dem zugrundeliegenden neurologischen Reiz- oder Ausfallssyndrom. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Klinisch-aetiologische Einteilung
7. Diagnose Klinisch-aetiologische Einteilung Periphere fokale oder multifokale Neuropathien Periphere, generalisierte, schmerzhafte Neuropathien (Polyneuropathien) Zentrale Ursachen neuropathischer Schmerzen Sonderstellung: Sympathisch unterhaltene Schmerzen (z.B. complex regional pain syndrom, CRPS) Neuropathische Schmerzen im engeren Sinne lassen sich klinisch nach aetiologischen Kriterien folgendermassen einteilen: Periphere fokale oder multifokale Neuropathien, z.B. Ischiadikus Läsion nach Hüft- Totalprothesenimplantation Periphere, generalisierte, schmerzhafte Neuropathien (Polyneuropathien), z.B. diabetische distal symmetrische Polyneuropathie Zentrale Ursachen neuropathischer Schmerzen, z.B. Poststroke Pain-Syndrom, spinale Läsion (MS) Eine Sonderstellung nimmt das sympathisch unterhaltene Schmerzsyndrom ein (SMP: sympathetically maintained pain). Typische durch den Sympathikus unterhaltene Schmerz-Syndrome sind das CRPS I und II. CRPS steht für den englischen Terminus „complex regional pain syndrome“. Diese Syndrome sind gekennzeichnet durch chronischen Schmerz und trophische Veränderung (Haut, Knochen). Eine sympathische Dysfunktion scheint massgebend für die Symptomgestaltung und Chronifizierung. Tritt das Schmerzsyndrom nach Nervenläsionen auf, spricht man von einem CRPS II, ohne Nervenläsion von einem CRPS I. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 36
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Periphere fokale oder multifokale Neuropathien
7. Diagnose Periphere fokale oder multifokale Neuropathien Engpassyndrom (entrapment) Karpaltunnelsyndrom Tarsaltunnelsyndrom Posttraumatische Neuropathie Ischiasläsion nach Hüft-TP Traumatische Nervendurchtrennung Deafferenzierungsschmerz z.B. Phantomschmerz Anaesthesia dolorosa Klassische Neuralgien Trigeminusneuralgie Glossopharyngeusneuralgie Kompressive Radikulopathien Infektiös Bannwarth-Syndrom (Borreliose: Meningopolyneuroradikulitis) Akuter Herpes zoster Postzoster-Neuralgie Autoimmun Guillain-Barré-Syndrom Neuralgische Schulteramyotrophie Vaskulitis Varia Plexusinfiltration durch Tumor Diabetische Radikuloneuritis oder Mononeuropathie Morton-Neurom Ischämische Neuropathie Periphere fokale oder multifokale Neuropathien Ob eine Nervenläsion schmerzhaft ist und zur Chronifizierung neigt, ist von vielen Faktoren abhängig. Warum gewisse Nervenläsionen schmerzhaft sind, andere nicht, ist noch weitgehend ein Rätsel. Eine Kompression des N. medianus im Karpaltunnel ist fast immer schmerzhaft – aber auch nicht bei allen Patienten – eine Kompression des N. ulnaris im Guyon‘schen Kanal, d.h. knapp 2 cm neben dem Karpaltunnel praktisch nie! Und dies, obwohl der Läsionsmechanismus und der Läsionsort sehr ähnlich sind! Auch eine Peroneusläsion ist selten schmerzhaft, eine Ischiadikusläsion aber fast immer schmerzvoll. Ein schwerer Plexusschaden ist fast nie schmerzhaft, eine Wurzelläsion aber fast immer. Manche Guillain- Barré-Patienten leiden unter massiven neuropathischen Schmerzen, andere gar nicht. Das Ausmass der Paresen ist dabei nicht entscheidend, ob es zu neuropathischen Schmerzen kommt. Die interindividuelle Variabilität ist gross. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 37
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7. Diagnose Periphere, generalisierte, schmerzhafte Neuropathien (Polyneuropathien) Metabolisch Diabetische distal symm. PNP Postgastroplastie PNP Toxisch Alkoholische PNP Ciguatera-Intoxikation Medikamentös Disulfiram (Antabus) Antiretrovirale Substanzen Cisplatin Taxol Thalidomid Vincristin Autoimmun HIV: „Diffuse infiltrative lymphocytosis syndrome DILS“ Kryoglobulinämie Ganglionopathien Paraneoplastisch (Anti-Hu pos) M. Sjögren Hereditär M. Fabry Amyloidose Erworben Die wichtigsten peripheren, generalisierten, schmerzhaften Neuropathien (Polyneuropathien) Hier ist eine Liste besonders häufiger Neuropathien, die mit generalisierten Schmerzen vergesellschaftet sein können. Mitunter die stärksten neuropathischen Schmerzen sieht man bei der paraneoplastischen Polyneuropathie, die eigentlich eine systemische Erkrankung der sensiblen Ganglien darstellt und oft Anti- Hu positiv ist (Kleinzelliges Karzinom). Auch viele der medikamentösen Neuropathien sind extrem schmerzhaft, oft dosisabhängig (Cisplatin, Taxol, Thalidomid). Hereditäre schmerzhafte Neuropathien sind mit Ausnahme des M. Fabry absolute Raritäten. Aber: lange nicht jeder Diabetiker mit einer Polyneuropathie hat Schmerzen! DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 38
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Zentrale Ursachen neuropathischer Schmerzen
7. Diagnose Zentrale Ursachen neuropathischer Schmerzen Vaskulär Thalamusinfarkt Entzündungen Vorwiegend bei spinalen Läsionen Multiple Sklerose Myeloradikulitis bei Lues, Sarkoidose, Borreliose, HIV, etc. Tumore Syringomyelie Rückenmarksläsionen Traumatisch, ischämisch Zentrale Ursachen neuropathischer Schmerzen Am häufigsten begegnet man neuropathischen Schmerzen nach Rückenmarksschädigungen. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES 39
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Differentialdiagnose
Nozizeptiver Schmerz z.B. chron. Osteomyelitis mit persistierender lokaler Allodynie Pseudoradikuläres (spondylogenes) Syndrom Funktionelle Schmerzen Insbesondere somatoformes Schmerzsyndrom Kombinierte Schmerzen (nozizeptiv + neuropathisch) Da die Diagnose neuropathischer Schmerzen zu einem grossen Teil auf der Anamnese und Untersuchung beruht, deren Güte in wesentlichen Teilen auch patientenabhängig ist (Kooperation), bereitet es mitunter Mühe, neuropathische Schmerzen von nozizeptiven Schmerzen zu unterscheiden: Gutes Beispiel ist des spondylogene Syndrom mit pseudoradikulärer Schmerzprojektion. Dies lässt sich oft nicht sicher von neuropathischer Schmerzausstrahlung eines radikulären Syndromes unterscheiden. Die Abgrenzung echter neuropathischer Schmerzen von somatoformen Schmerzen und funktionell ausgestalteten Schmerzen ist – jeder weiss dies – ein Kapitel für sich. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Mechanismus-orientierte Therapie für neuropathische Schmerzen
Animierte Grafik Darstellung unter «Bildschirmpräsentation» im Powerpoint 8. Therapie Mechanismus-orientierte Therapie für neuropathische Schmerzen Opioide (Oxycodon, Tramadol) μ-Receptor-Agonisten SNRIs (Duloxetin, Venlafaxin) Serotonin/Noradrenalin TCA (Amitriptyline) Serotonin/Noradrenalin/Dopamin NaV+-Block α2-Antagonisten (Pregabalin, Gabapentin) Ca2+-channel Modulation Ältere Antikonvulsiva (Carbamazepine, Lamotrigine) NaV+-Block Lokale Anästhetika (Lidocain) Angriffspunkte der verschiedenen Medikamente, die bei chronischen neuropathischen Schmerzen positive Resultate zeigen Folgendes Slide gibt die vermuteten Hauptangriffspunkte der verschiedenen Wirkstoffgruppen wieder, die bei neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden. Es ist auch eine Hilfe, die Schmerzen basierend auf dem zugrundeliegenden Schmerzmechanismus zu verstehen und zu behandeln. Opioide binden an den μ Opioid-Rezeptor, der im zentralen und peripheren Nervensystem weit verbreitet ist. Einer der Hauptmechanismen ist die Stärkung der deszendierenden Inhibition. Selektive Serotonin Noradrenalin Reuptake Hemmer (SNRI) wirken ebenfalls wahrscheinlich hauptsächlich auf die deszendierende Inhibition (Beispiel: Duloxetine), indem sie die Konzentration von Serotonin und Noradrenalin an den Synapsen erhöhen. Die trizyklischen Antidepressiva wirken zusätzlich zu den Mechanismen wie bei den SNRI’s beschrieben, noch an den spannungsabhängigen Na-Kanälen. Der Calciumkanalmodulator Pregabalin beeinflusst die zentrale Schmerzverarbeitung wahrscheinlich vorwiegend im Rückenmark und führt zu einem verminderten Ca-Einstrom mit konsekutiver Drosselung der sekundären zentralen Sensibiliserung der nozizeptiven Afferenzen im Hinterhorn. Antiepileptika mit Wirkung auf die Na-Kanäle wirken membranstabilisierend und sind dadurch insbesondere wirksam gegen ektope Impulsgeneration in geschädigten Nerven. Vanilloid Rezeptoren ganz in der Peripherie werden durch Capsaicin aktiviert und führen zu einer Depletion der proexzitatorischen Substanz P. Vanilloide (Capsaicin) Leert Substanz P-Reservoirs SNRI = Serotonin Norepinephrine reuptake Hemmer TCA = Trizyklisches Antidepressivum [Jensen et al., 2006; Kroenke et al., 2009] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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8. Therapie Therapie - Grundsätze Möglichkeiten der kurativen oder kausalen Massnahmen ausschöpfen, Immer nach potentiellen Ursachen suchen (siehe Folie 37, 38, 39) !! Kausale Therapien sind immer effizienter als symptomatische! Medikamente (symptomatische Therapie) eintitrieren und lange genug beibehalten, auch wenn Wirkung noch ungenügend ist (mind. 2, besser 4 Wochen) Realistische Erwartung (Schmerzfreiheit kann selten das Ziel einer symptomatischen Schmerztherapie sein; wohl aber Schmerzreduktion) Nebenwirkungsprofile der verschiedenen Pharmaka beachten Einige Grundsätze der Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen erscheinen selbstverständlich, sind aber eminent wichtig. Es ist unsinnig, ein auf Ruhigstellung therapieresistentes Karpaltunnelsyndrom mit Pregabalin, Neurontin oder einem trizyklischen Antidepressivum zu behandeln, wenn man mit der Retinakulumspaltung eine einfache und fast ausnahmslos zum Erfolg führende, kausal ansetzende chirurgische Methode besitzt. Ganz wichtig ist, die Patienten zu motivieren, lange genug einen Therapieversuch durchzustehen. Oft nicht einfach, aber für einen Therapieerfolg ganz essentiell. («Zuerst kommen immer die Nebenwirkungen – die erwünschte Wirkung erst nach 1-2 Wochen!») Was sind realistische Erwartungen: Schmerzreduktion nach 4 Wochen um 30-50% Verbesserung der Schlafqualität Verbesserung der Lebensqualität Erhaltung der sozialen Aktivität und des sozialen Beziehungsgefüges Erhaltung der Arbeitsfähigkeit («sofortige Schmerzbefreiung» ist meistens utopisch) DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Kausale Therapieansätze
Ursache neuropathischer Schmerzen Kausale Therapie Engpasssyndrom Karpaltunnelsyndrom Neurolyse z.B. Chirurgische Spaltung des Retinaculums Wurzelkompression Mikrochirurgische Dekompression Periradikuläre Infiltration Herpes zoster Acyclovir in der Frühphase Bannwart-Syndrom (Borrelien-Polyradiculoneuritis) Antibiotika (Rocephin oder Doxycyclin) Trigeminusneuralgie Dekompression nach Janetta Glycerolinjektion retroganglionär Diabetische Polyneuropathie Optimale Blutzuckereinstellung M. Fabry Enzymersatztherapie Multiple Sklerose Verlaufsmodifizierende Therapie früh beginnen Poststroke Pain Thrombolyse, optimale Akuttherapie und Prophylaxe Einige Ursachen neuropathischer Schmerzen können kausal angegangen werden und die sekundären neuropathischen Schmerzen damit verhindert oder gelindert werden. Einige wichtige Beispiele sind oben aufgeführt. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Medikamente/1
Trizyklische Antidepressiva (TCA) Amitryptilin Clomipramin Desipramin, Nortryptilin (vorwiegend NA-reuptake-Hemmer) Wirkungsweise: Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA) und Serotonin (5-HT) aus dem synaptischen Spalt vermindert → höhere Konzentration von NA und 5 HT im ZNS. Fazilitiert die deszendierende Inhibition. Wirksam: postzosterische Neuralgie, diabetische PNP, poststroke Schmerz u.v.a.m TCA können bei fast allen neuropathischen Schmerztypen eingesetzt werden. Amitryptilin: Zieldosis 50 bis 75 mg/d. Einmaldosis spätabends. Beginn mit 10 mg, langsam auftitrieren. Nebenwirkung: leider oft limitierend! Mundtrockenheit (anticholinerg), Sedation, orthostatische Dysregulation, Harnverhalt, Hang-over, Glaukom, AV-Block (Cave bei älteren Patienten, EKG-Kontrolle). Trizyklische Antidepressiva [Finnerup et al., 2005] In vielen Studien haben diese Medikamente eine deutliche Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen bewiesen. Die Dosierung liegt unterhalb eines relevanten antidepressiven Effektes. Wahrscheinlich modulieren die trizyklischen Antidepressiva die Schmerzverarbeitung auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mechanismen. Die Erhöhung monoaminerger Transmitter auf Rückenmarksebene und damit eine Stärkung der inhibitorischen Systeme sind möglicherweise hauptverantwortlich für den günstigen Effekt auf chronische neuropathische Schmerzen. Die number needed to treat ist mit 2-3 sehr tief, d.h. es kann von einer hohen Wirksamkeit ausgegangen werden. Insgesamt ergibt sich ein Trend hinsichtlich besserer Wirksamkeit der unselektiven Reuptakehemmer (Amitryptilin) gegenüber den noradrenergen (z.B. Nortryptilin). Die oft deutlichen Nebenwirkungen limitieren den Gebrauch der TCA, insbesondere bei älteren Patienten. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Medikamente/2
Selektive duale Serotonin- und Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Duloxetin, Venlafaxin Wirkungsweise: Ähnlich wie TCA. Weniger NW, da fehlende rezeptorblockierende Wirkung Duloxetin Venlafaxin Wirksam: diabetische PNP (1,4,5), Fibromyalgiesyndrom (2,4), chronische Lumbago (6). Wirksam: diabetische PNP (3), schmerzhafte PNP, Postmastektomie-Syndrom Dosis: Beginn mit 30 mg, Zieldosis 60 mg (120 mg) Dosis: Beginn 37.5 mg. Zieldosis mg/d. Morgens geben, wirkt antriebssteigernd NW: Harnverhalt, Inappetenz, Nausea, Obstipation, Mundtrockenheit, Schwitzen NW: Nausea, Schlafstörungen, Unruhe Selektive duale Serotonin- und Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer: SNRI Es handelt sich um eine neuere Substanzgruppe, die vorwiegend in der antidepressiven Therapie eingesetzt wird. Im Gegensatz zu den trizyklischen Antidepressiva hemmen diese zwar auch die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt, ohne jedoch zusätzlich rezeptorblockierende Wirkung zu haben. Dadurch ist das Nebenwirkungsprofil ungleich besser als das der Trizyklika. Venlafaxin ist erst in höherer Dosis noradrenerg wirksam. Der sedierende Effekt ist gering. Beide Substanzen sind bei diabetischer Polyneuropathie wirksam. Duloxetin (Cymbalta®) hat sich in mehreren Studien auch beim Fibromyalgiesyndrom als wirksam erwiesen bei guter Sicherheit und Verträglichkeit [Choy et al., 2009] Die klassischen SSRI‘s wirken bei neuropathischen Schmerzen ohne relevante Depression nicht gut. Die Studienergebnisse waren meist ernüchternd. [(1) Wernicke et al., 2006; (2) Choy et al., 2009; (3) Rowbotham et al., 2004; (4) Sultan 2008; (5) Sun 2012; (6) Skljarevski 2010] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Medikamente/3
Antikonvulsiva vom Na-Kanal-Typ Membranstabilisierend, Unterdrückung ektoper Impulse, zusätzlich GABA-erge Wirkung und antiglutaminerge Effekte an NMDA-, AMPA- und Kainat-Rezeptoren. Carbamazepin, Oxcarbazepin 1. Wahl bei Trigeminusneuralgie. Ansonsten kaum mehr zu empfehlen bei neuropathischen Schmerzen aufgrund der dürftigen Studienlage. Bei schwersten Exazerbationen einer Trigeminisneuralgie, Schnellaufsättigung mit Phenytoin erwägen (15 mg/kg über 4 h) Lamotrigin Kontroverse Studienlage: wirkt bei diabetischer PNP nur marginal und nur in der hohen Dosierung von 400 mg/d [Vinik et al., 2007]. Wirksam als Add on zu Carbamazepin bei Trigeminusneuralgie Wirksam als Monotherapeutikum bei postischämischen zentralen Schmerzsyndromen u. bei neuro- pathischen Schmerzen infolge einer kompletten o. inkompletten spinalen Läsion zeigen [Finnerup et al., 2002] Dosis: Zieldosis mg (evtl. Serumspiegel). Beginn mit 25 mg, wöchentlich steigern. Bei zu schneller Aufdosierung erhöhte Gefahr allergischer Nautnebenwirkungen. NW: sehr gut tolerabel. Keine Müdigkeit. Antikonvulsiva vom Na-Kanal-Typ Nicht alle Antiepileptika sind bei neuropathischen Schmerzen wirksam. Topiramat zum Beispiel hat in grossangelegten Studien keinen nennenswerten Effekt bei einer Vielzahl neuropathischer Schmerzen gezeigt, obwohl vom Wirkmechanismus her das Medikament vielversprechend wäre (hemmt Glutamat- Freisetzung am AMPA-Rezeptor, ist gabaerg). Am besten dokumentiert ist die Wirkung von Antiepileptika vom Na-Kanal-Blocker-Typ. Carbamazepin (Timonil ret®, Tegretol CR®, Neurotop®) und der direkte Abkömmling Oxcarbazepin (Trileptal®) sind bei der Trigeminusneuralgie klar die Medikamente der ersten Wahl. Für andere neuropathische Schmerz-Syndrome sind diese Medikamente nicht mehr erste Wahl, obwohl in kleineren Studien ein positiver Effekt mit kleiner number needed to treat bei schmerzhafter Polyxneuropathie und bei zentralen Schmerzsyndromen beobachtet wurde. Die Nebenwirkungen von Carbamazepin und Oxcarbazepin sind praktisch identisch, die Vertäglichkeit von Oxcarbazepin aber besser, weil keine Epoxidbildung eintritt. Umrechnung Carbamazepin auf Oxcarbazepin: 1:1.5. Lamotrigin (Lamictal®, Lamotrigin desitin®…) ist aufgrund des (abgesehen von seltenen schweren dermatologischen Nebenwirkungen) sehr günstigen Nebenwirkungsspektrums interessant. Es ist eines der einzigen Antiepileptika ohne sedierenden Effekt. Die Studienlage ist aber sehr kontrovers: am besten dokumentiert ist der Nutzen als Add on Gabe zu Carbamazepin oder Phenytoin bei Trigeminusneuralgie, bei postischämischen zentralen Schmerzsyndromen und bei neuropathischen Schmerzen infolge einer kompletten oder inkompletten spinalen Läsion. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Medikamente/4
Gabapentin, Pregabalin Lyrica ist in vitro und in vivo wahrscheinlich wirksamer als Gabapentin. Wirkungsweise: Pregabalin bindet selektiv an die präsynaptischen α2δ-Untereinheiten spannungsabhängiger Kalziumkanäle und reduziert bei neuronalen Übererregungszuständen den Kalziumeinstrom in die Neurone. Die Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter wie z.B. Substanz P oder Glutamat wird vermindert. Wirksam: gute Studienlage für diabetische PNP, postzosterische Neuralgie, Schmerzen nach Rückenmarksläsionen und Fibromyalgie. Dosis: Beginn 75 mg abends. Tag 2: 2 x 75 mg. Innert 3-7 Tagen auf 2 x 150 mg aufdosieren. Evtl. Dosissteigerung bis 2 x 300 mg. Nebenwirkungen: Schwindel, Benommenheit, Schläfrigkeit, periphere Oedeme. Dosisreduktion bei Niereninsuffizienz. Der Kalziumkanalmodulator Pregabalin (Lyrica ®) ist bei einer Vielzahl von neuropathischen Schmerzen wirksam, was durch mehrere randomisierte Studien belegt ist [Freynhagen et al., 2005; Siddall et al., 2006]. Klinische und in vitro-Daten sprechen für eine etwas grössere Wirksamkeit gegenüber Gabapentin. In einer open label Studie [Toth, 2010] haben sich einige der Patienten mit neuropathischen Schmerzen verschiedener Ursache, die auf Gabapentin in hoher Dosis (≥1800 mg/d) keine suffiziente Schmerzreduktion erzielen konnten, nach Wechsel auf Pregabalin erheblich verbessert. Nebst der guten Wirksamkeit ist das Nebenwirkungsprofil von Pregabalin und Neurontin sehr günstig und man kann insbesondere Pregabalin rasch aufdosieren. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Medikamente/5
Opioide (WHO-Klasse II und III) Tramadol (0.1), Morphin (1.0), Oxycodon (1-1.5), Fentanyl (80-100), Buprenorphin (40-50) Neu: Targin®: Retardpräparat mit Oxycodon und Naloxon: Naloxon als Opiatrezeptorantagonist wirkt per os fast nur im Darm (Bioverfügbarkeit <3%) und verhindert deshalb die Obstipation ohne den analgetischen Effekt von Oxycodon zu antagonisieren. Wichtig: langwirksame, resp. retardierte Formulierungen verwenden Wirkungsweise: Analgetischer Effekt durch Bindung an µ-Rezeptoren im ZNS. Auch bei neuropathischen Schmerzen gut wirksam. Einzelne Vergleichsstudien mit Tricyclica ergeben eine ähnliche Wirksamkeit [Raja et al., 2002] Wirksam bei fast allen Formen neuropathischer Schmerzen Nebenwirkungen sind limitierend, insbesondere das Suchtpotential. Cave Atemdepression angeritzter Schlafmohn [Istockphoto] Opioide Entgegen der landläufigen Meinung, Opioide wirken nur bei nozizeptiven Schmerzen, können Opiate oft auch erfolgreich bei neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden. Eine randomisierte und placebo- kontrollierte Studie zeigte sogar einen Trend zugunsten der Opioide in der Behandlung neuropathischer Schmerzen gegenüber trizyklischen Antidepressiva [Raja et al., 2002]. Die Nebenwirkungen der Opiate und ein nicht wegzudiskutierendes Suchtpotential limitieren den Einsatz allerdings erheblich. Insbesondere bei akuten neuropathischen Schmerzen, wie z.B. bei der neuralgischen Schulteramyotrophie oder dem akuten Bandscheibenvorfall mit Wurzelkompression, kann die Indikation mit Opiaten grosszügig gestellt werden. Gut überlegt werden muss der Einsatz von Opioiden bei Patienten mit Chronifizierung und gleichzeitigen schweren psychiatrischen Auffälligkeiten. Noch problematischer ist die Opioidlangzeittherapie bei Patienten mit vermuteten somatoformen Schmerzen. Schlafmohn [Istockphoto] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Medikamentenkombinationen
Da die einzelnen Substanzen nur einen Teileffekt erzielen und deren oft limitierende Nebenwirkungen dosisabhängig sind, ist es naheliegend, verschiedene Medikamentengruppen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen zu kombinieren Durch tiefere Dosen können damit die Nebenwirkungen eher gering gehalten werden bei additiver Wirkung auf den Schmerz. In Studien wurde dieses Konzept bisher als effizient nachgewiesen für die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie und die postherpetische Neuralgie (PHN) und zwar für die Kombination von: Gabapentin (1800 mg /die) und Morphin (34 mg/ die) [Gilron 2005] Gabapentin (1800 mg /die) und Nortriptylin (50 mg /die) [Gilron 2009] Aber es bieten sich auch andere Kombinationen an: - Opiate & TCA - Antiepileptika & TCA - Antiepileptika & Opiate & TCA DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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SymptomatischeTherapie - Topische Anwendung/1
Capsaicin (Extract aus rotem Pfeffer) Peripherer Wirkmechanismus: Vanilloid-Rezeptor Antagonist (TRPV-1), Substanz P-Speicher werden entleert, axonaler Substanz P-Transport- und Speicherung blockiert. Reversibler Funktionsausfall der Nozizeptoren. Initial brennender Schmerz durch anfängliche Reizung der C-Fasern. Trick: Vor ersten Applikationen Lokalanästhetikum (EMLA) auftragen. Nicht vergessen: Handschuhe mitverschreiben zur Salbenapplikation. Kontakt mit Schleimhäuten vermeiden. Als 0.075%ige Salbe 4 x täglich: Dauer 4-6 Wochen Wirksam bei postzosterischer Neuralgie und beim Postmastektomiesyndrom, wahrscheinlich auch bei diabetischer Neuropathie (hier kontroverse Studienlage) Capsaicin Capsaicin ist ein Inhaltsstoff aus rotem Pfeffer. Als Salbe aufgetragen entleert es die Substanz P-Speicher, verhindert dessen axonalen Transport und Speicherung. Nachteilig an der Verwendung dieser Substanz ist einerseits eine initiale Schmerzverstärkung, die teilweise durch Vorbehandlung mit Lokalanästhetika verhindert werden kann, andererseits die Aufwändigkeit der 4 mal täglichen Salbenapplikation mit Handschuhen. Die Studienlage ist mangelhaft, am besten ist die Wirksamkeit bei der postzosterischen Neuralgie erwiesen [Watson et al., 1993] [Istockphoto] [Istockphoto] DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Topische Anwendung/2
Lidocain Wirkungsweise: Unspezifische Blockade der Na-Kanäle Wirksam bei postzosterischer Neuralgie, in mehreren Studien nachgewiesen Nebenwirkungen: lokale Hautreaktionen, Blasen Ist auf jeden Fall einen Versuch wert, bei lokalisierter Allodynie/Hyperalgesie 5%iges topisches Lidocain als Pflaster (Neurodol tissugel®) oder Salbenpflaster (z.B. EMLA®) ist hoch wirksam bei postzosterischer Neuralgie und macht keine relevanten systemischen Nebenwirkungen. Da es sich oft um ältere Patienten mit Polymedikation handelt, ist eine topische Anwendung umso vorteilhafter. In einer randomisierten, open label Studie zeigte sich der Lidocain-patch gegenüber Pregabalin sogar leicht überlegen bei postzosterischer Neuralgie, in der Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie gleichwertig [Baron et al., 2009]. Topisches Lidocain kann auch bei anderen fokalen Allodynie-Syndromen ausprobiert werden. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Topische Anwendung/3
TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation) Über Hautelektroden Applikation von geringen Strommengen → soll afferenten Input im Rückenmark modulieren; bzw. den afferenten (nozizeptiven) Input in den peripheren Nervenfasern blockieren. Wirksamkeit wird in Studien kontrovers beurteilt. Versuch insbesondere bei fokalen Nervenläsionen durchaus lohnenswert. Elektroden nicht auf Allodynie-Arealen anbringen. TENS Nicht medikamentöses und nicht invasives Analgesieverfahren. Durch die nicht schmerzhafte Reizung von Aβ-Fasern sollen inhibitorische Prozesse im Rückenmark aktiviert werden. Durch wechselnde Reizmuster wird der Habituation entgegengewirkt. Die Elektroden werden in der Nähe der schmerzhaften Partien auf die Haut gebracht, über den geschädigten Nerven, aber proximal der Läsionsstelle. Zonen mit Allodynie müssen allerdings als Applikationsort vermieden werden. Die Ansprechrate ist mit ca. 30% bescheiden. Die weitgehend fehlenden Nebenwirkungen rechtfertigen aber einen Versuch allemal. Bei Überstimulation wird manchmal als Nebenwirkung eine passagere Schmerzverstärkung beobachtet. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie - Interventionelle Verfahren/1
Sympathikolytische Interventionen Sympathisch unterhaltene Schmerzen (SMP) lassen sich durch sympathikolytische Interventionen positiv beeinflussen. Sprechen die Schmerzen nicht auf eine lege artis vorgenommene Sympathikolyse an, ist es ein sympathikusunabhängiger Schmerz (SIP). Bezeichnung Verfahren Wirkort Grenzstrangblockade Injektion von LA an den sympathischen Grenzstrang Prä- und postganglionäre Blockade sympathischer Efferenzen Intravenöse regionale Sympathikolyse Injektion von Guanethidin in eine ausgewickelte und dann gestaute Extremität Ausschliesslich postganglionäre Blockade Ganglionäre lokale Opioidanalgesie (GLOA) Injektion von niedrig dosierten Opioiden an den sympathischen Grenzstrang Unbekannt Keine efferente Blockade Interventionelle Schmerztherapien Generell gesehen sollten interventionelle Therapieoptionen erst nach Ausschöpfung der anderen medikamentösen Therapien angewandt werden, weil alle Interventionen ein gewisses Risiko periinterventioneller Läsionen und Komplikationen mit sich bringen. Eine Ausnahme davon ist ein gravierender Schmerzzustand durch eine Nerven- oder Wurzelläsion, um die Wartezeit bis zu einem potentiell kurativen Eingriff (Neurolyse, Bandscheibenoperation) zu überbrücken. Blockaden mit Lokalanästhetika können auch diagnostisch hilfreich sein, z.B. periradikuläre Wurzelinfiltration oder Radiofrequenzablation. Wird der Schmerz durch eine lokale Anästhesierung des Nervenstammes oder der Wurzel nicht gelindert, ist entweder der anästhesierte Nerv, resp. die Wurzel, nicht Ursache des Schmerzes oder die Läsionsstelle liegt noch proximaler. Manche Schmerzsyndrome werden durch eine Dysfunktion des sympathischen Nervensystems ausgelöst und unterhalten. Typisches Beispiel ist das CRPS 1 (complex regional pain syndrome), früher unter dem Namen M. Sudeck oder Algodystophie bekannt. Auch andere neuropathische Schmerzen sind manchmal vom Sympathikus mitverursacht. Falls durch eine lege artis durchgeführte Sympathikusblockade keine deutliche Schmerzlinderung auftritt, handelt es sich um einen Sympathikus-unabhängigen-Schmerz, was zum Teil auch diagnostisch hilfreich sein kann. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Symptomatische Therapie: Interventionelle Verfahren/2
Epidurale Rückenmarksstimulation (SpinalCordStimulation) Elektroden im Epiduralraum → elektrische Stimulation der Hinterstränge → Parästhesien im Schmerzareal (Gegenirritation) Mechanismus der Schmerzreduktion unbekannt Komplikationsrate: 20-50%, meist nicht schwerwiegend Therapieeskalation bei Postdiskektomie-Syndrom [Kumar et al., 2008] meistens: ultima ratio [adaptiert nach Medtronic, Inc.] Epidurale Rückenmarksstimulation Was kann man Patienten mit therapieresistenten, starken chronischen Schmerzen anbieten, wenn alle andere Massnahmen versagt haben? Bei selektionierten Schmerzpatienten mit neuropathischen Schmerzen aufgrund einer chronisch radikulären Reizsymptomatik, sog. failed back surgery syndrome, ist die Implantation von Stimulationselektroden in den Epiduralraum zu erwägen. Dabei werden die Elektroden perkutan im Epiduralraum positioniert und man evoziert mit schwachen Strömen Parästhesien im Schmerzgebiet. Der Wirkmechanismus ist letztlich ungeklärt, es wird eine Stärkung der Inhibition diskutiert. In einer neueren, randomisierten Studie zeigte sich bei Postdiskektomiepatienten ein signifikanter Effekt gegenüber konventionell medikamentös behandelten Patienten [Kumar et al., 2008], nicht nur auf die Schmerzreduktion, sondern auch auf Quality of life-Endpunkte. Der Effekt hielt 24 Monate an, was ein Argument der Gegner dieser Methode partiell entkräftet, dass der analgetische Effekt dieser Methode von nur kurzer Dauer ist. Allerdings ist die Studienlage unbefriedigend, meist existieren nur kleinere unkontrollierte Fallserien. Neben dem Postdiskektomiesyndrom wird der Einsatz der SCS auch beim CRPS (Sudeck), der Postzosterneuralgie und den Phantomschmerzen diskutiert. Hier sind allerdings weitere Studien abzuwarten. Weitere, invasive Methoden sind die tiefe Hirnstimulation und die Implantation von Pumpensystemen, die Opiate und andere Analgetika, wie Clonidin, Ketamin, Lokalanästhetika, in den Intrathekalraum abgeben. Die Patientenselektion für diese Massnahmen ist schwierig und die Anwendung nicht unproblematisch bei neuropathischen Schmerzen. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Therapie - Psychotherapie
sozialer Rückzug Depression Schmerzen Frust/Angst Schmerz im Zentrum Der berühmte „circulus vitiosus“. Wenn Schmerzen sich zu chronifizieren beginnen, führt dies zu emotionalen, sozialen und vegetativen Folgen, die selbst wieder negativ auf die Schmerzperzeption einwirken und den Schmerz unterhalten und verstärken können. Eine begleitende Psychotherapie ist in solchen Fällen sicherlich sinnvoll, obwohl es keine randomisierten Therapiestudien gibt. Zwei Faktoren machen die Anwendung der Psychotherapie bei chronischen Schmerzpatienten erfahrungsgemäss aber sehr schwierig : Die Stigmatisierung durch den Beizug eines Psychiaters („ich spinne doch nicht“) Die mangelnde Verfügbarkeit von Psychiatern und Psychologen, die Erfahrung und ein gewisses Flair haben, mit chronischen Schmerzpatienten umzugehen. Es geht bei der Psychotherapie vor allem auch darum, Schmerzbewältigungsstrategien zu entwickeln bzw. zu erlernen. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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9. Prognose Prognose Aktuelle symptomatische Therapien mit bescheidener Wirksamkeit In den Studien mit Pregabalin und Duloxetin 1 von 4 Patienten (nur 25 %!) spricht auf die Therapie gut an, d.h. 50% Schmerzreduktion [Finnerup et al., 2005] Im klinischen Alltag kann mit einer optimalen medikamentösen Therapie nur 30-40% der Patienten mit einer Schmerzreduktion von >40-50% geholfen werden. [Backonja et al., 2006] Somit ist die Prognose von chronischen neuropathischen Schmerzen nicht besonders günstig. Ausnahmen: Trigeminusneuralgie, Postzosterneuralgie: Den meisten Patienten kann gut geholfen werden. Prognose neuropathischer Schmerzen Die Prognose neuropathischer Schmerzen ist nicht besonders gut. In einer Metaanalyse von über 100 randomisierten Studien [Finnerup et al., 2005] ist mit den neueren, gut verträglichen Substanzen Pregabalin und Duloxetin nur einem von 4 Patienten befriedigend zu helfen. Die neuropathischen Schmerzen haben eine ausgesprochene Tendenz zur Chronifikation trotz engagierter ärztlicher Betreuung und optimaler medikamentöser Therapie. Am besten ist die Prognose bei den Neuralgien, die auf Antiepileptika meist gut ansprechen. Auch die Postzosterneuralgie zeigt an sich einen guten Spontanverlauf und ist medikamentös gut therapierbar. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Wichtige Krankheitsbilder
10. Die wichtigsten Krankheitsbilder Wichtige Krankheitsbilder Trigeminusneuralgie Klinik Tic douloureux (V3>V2/V1), oft getriggert durch Kauen, Sprechen, Niesen etc. Therapie 1º Carbamazepin 2º Oxcarbazepin 3º Lamotrigin, Gabapentin, Baclofen 4º Kombination Non-responder: Invasiv: mikrovaskuläre Dekompression, Glycerolinjektion, Thermoablation Aetiologie meistens Gefäss-Nervenkonflikt an der Wurzeleintrittszone → segmentale Demyelinisierung → ephaptische Impulsgeneration (Hypothese!) Ausnahme: Multiple Sklerose Trigeminusneuralgie Häufiges und gut zu behandelndes Krankheitsbild mit verschiedenen Therapieoptionen. Die Patienten berichten über kurze vernichtende, streng einseitige stereotype Schmerzstösse im Gesicht. Da oft der 2. oder 3. Trigeminusast betroffen ist, landen viele Patienten zuerst beim Zahnarzt. In der neurologischen Examination zeigt sich in aller Regel kein sensibles Defizit im betroffenen Trigeminusast (-> idiopathische Trigeminusneuralgie). In einer Vielzahl von Patienten ist diese Neuralgie verursacht durch eine vaskuläre Kompression der Wurzeleintrittszone des N. trigeminus durch eine abnorm verlaufende Gefässschlinge, wie auf dem Operationssitus dargestellt. Durch die Pulsationen kommt es zur segmentalen Demyelinisierung und konsekutiv zur lokalen ephaptischen Impulsgeneration in der Demyelinisierungszone (nie bewiesene Hypothese!). Freipräparierung der Gefässschlinge führt in den meisten Fällen zur Remission in kürzester Zeit. Da diese mikrovaskuläre Dekompressions-Operation (Janetta-Operation) nicht risikolos ist, soll nur in therapieresistenten Fällen eine solche Intervention evaluiert werden. Thermokoagulation des Ganglion gasseri oder Glycerolinfiltrationen zeigen oft auch ein gutes Resultat und sind mit weniger schwerwiegenden potentiellen Komplikationen verbunden. Allerdings ist bei der Infiltrationstherapie resp. Thermokoagulation die Ansprechrate tiefer und die Rezidivrate höher. In den meisten Fällen erreicht man mit Carbamazepin aber innert 1-2 Wochen eine Remission. Wenn hohe Dosen verwendet werden müssen, sind die Nebenwirkungen limitierend (Nausea, Schwindel, Dysarthrie). In solchen Fällen kann Oxcarabazepin (Trileptal®) anstelle von Carbamazepin gegeben oder eine Add on- Therapie mit Lamotrigin in die Wege geleitet werden. Operationssitus zur Verfügung gestellt von PD Dr. med. J. Fandino, KS Aarau DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Wichtige Krankheitsbilder
10. Die wichtigsten Krankheitsbilder Wichtige Krankheitsbilder Schmerzhafte diabetische Polyneuropathie Facts Prävalenz 7% in den USA bei Patienten mit Diabetes mellitus Häufigste neurologische Komplikation: diabetische Neuropathie Häufigste PNP in den industrialisierten Ländern Korrelation: Dauer und Ausmass der Hyperglykämie mit PNP Prävention der diabetischen PNP durch verbesserte Diabeteseinstellung nachgewiesen [The Diabetes Control and Complications Trial Research Group, 1993] C-Fasern als erste betroffen Schmerz oft initiales Symptom Neuropathischer Schmerz oft abends akzentuiert Restless legs? Zumindest mengenmässig das wichtigste Krankheitsbild mit neuropathischen Schmerzen ist die diabetische distal symmetrische Polyneuropathie. Rund 25% der Diabetiker leiden unter der diabetischen Polyneuropathie, rund 50% derjenigen, die mindestens 25 Jahre eine diabetische Stoffwechsellage haben. Die Polyneuropathie ist die häufigste neurologische Spätkomplikation. Da die C-Fasern als erste betroffen sind, sind Schmerzen, nebst Symptomen der verminderten Schmerz- und Temperaturwahrnehmung, typisch. Zudem erklärt sich dadurch die oft massive autonome Mitbeteiligung. Das Spektrum der autonomen Mitbeteiligung reicht von der erektilen Dysfunktion bis hin zu Gastroparese, stummen Myokardinfarkt und orthostatischer Dysregulation. Für die Prävention und die Verlangsamung der Progression der PNP ist die gute Blutzuckereinstellung essentiell. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Wichtige Krankheitsbilder
10. Die wichtigsten Krankheitsbilder 10. Die wichtigsten Krankheitsbilder Wichtige Krankheitsbilder Schmerzhafte diabetische Polyneuropathie Symptomatische Therapien Wichtigste Therapiemassnahme (kausal): optimale Glykämiekontrolle Physikalische Massnahmen individuell versuchen: Warme Socken, warme oder kalte Fussbäder Massage mit Lotionen L-Dopa oder Dopaminagonisten bei RLS 1. Pregabalin oder Gabapentin fehlende Kontraindikationen - Effekt Trizyklische AD Amitryptiline Nortryptine 2. Duloxetine oder Venlafaxine (SNRI) Die Therapie der neuropathischen Schmerzen bei diabetischer Polyneuropathie kann nach folgendem Schema erfolgen: Die Rolle der trizyklischen Antidepressiva wird kontrovers diskutiert: einerseits erwiesen sie sich in vielen Therapiestudien als gut wirksam mit kleiner number needed to treat [Finnerup et al., 2005], andererseits ist die Verträglichkeit erfahrungsgemäss nicht so gut. Insbesondere die Mundtrockenheit kann quälend sein. Gerade bei Diabetikern mit autonomer Mitbeteiligung ist die orthostatische Dysregulation ein limitierender Faktor für den Einsatz von Trizyklika, zumindest in höherer Dosis. Pregabalin und Gabapentin haben bei guter Verträglichkeit oft eine zufriedenstellende Wirkung. Ähnliches gilt auch für die SNRI. - Effekt 3. Opioide DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Wichtigste Krankheitsbilder
10. Die wichtigsten Krankheitsbilder Wichtigste Krankheitsbilder Postzoster-Neuralgie Oft ältere Patienten betroffen Typisch: Allodynie Frühe Therapie mit Virostatika (<72 h) kann wahrscheinlich das Risiko von Postzosterneuralgie vermindern Prognose meist gut: spontan remittierend innert Monaten Post-Zoster-Neuralgie Lidocain patch Kontraindikation TCA TCA Pregabalin SNRI SNRI Pregabalin Postzoster-Neuralgie Alter und zu späte oder fehlende antivirale Therapie sind Risikofaktoren für die Entwicklung der Postzoster- Neuralgie. In der Mehrzahl der Fälle kommt es nach Monaten zu einer spontanen Remission dieser schmerzhaften Neuralgie mit Dauerschmerzen und einschiessenden Schmerzen. Eine medikamentöse Therapie dieser hartnäckigen Schmerzen kann nach obigem Stufenschema erfolgen [Baron et al., Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 2008]. Da es sich meist um ältere Patienten handelt, sollen trizyklische Antidepressiva trotz der oft befriedigenden Wirkung mit einer gewissen Zurückhaltung angewendet werden. Dieses Stufenschema kann auch auf andere fokale Neuropathien angewandt werden. Man beachte: der Lidocain patch ist ganz oben in der Rangfolge der Therapiewahl. Er kann auch mit Pregabalin, SNRI‘s, TCA‘s oder Opiaten kombiniert werden. Tramadol, Oxycodon TCA= trizyklische Antidepressiva; SNRI= Duloxetine oder Venlafaxin DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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11. Ausblick Ausblick Möglichkeiten der Verbesserung in der Therapie neuropathischer Schmerzen Prävention verbessern (z.B. gute Diabeteseinstellung) Neue medikamentöse Ansatzpunkte (z.B. Na-Kanal Nav1.7) Bessere Typisierung der Schmerzen, Mechanismus-basierende Therapie [Scholz et al., 2009] Grosse Durchbrüche in der Therapie neuropathischer Schmerzen sind in den nächsten Jahren eher nicht zu erwarten. Verbesserungspotential liegt in den Bereichen Prävention und der besseren Typisierung neuropathischer Schmerzphänomene. Ziel ist dabei, anhand einer präzisen Erfassung der Qualität und Quantität der Schmerzen und Sensibilitätsstörung auf den zugrundeliegenden Mechanismus der Schmerzentstehung zu schliessen und zielgerichteter zu handeln. Neue Medikamentenklassen sind ebenfalls Hoffnungsträger für die Zukunft. Und nochmals: Immer genau nach Ursachen suchen, denn kausale Therapien sind in der Regel bedeutend effizienter als symptomatische! DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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11. Ausblick Ausblick Laufende randomisierte, kontrollierte Studien bei neuropathischen Schmerzen mit Substanzen mit neuen Aktionsmechanismen Wirkstoff Pharmaindustrie Ziel/Mechanismus Tezampanel TorreyPines AMPA/Kainate-Rezeptor RGH-896 Forest Labs NR2B (Subtyp eines NMDA-Rezeptors) IP 751 Indevus CB1r (Cannabinoid1-Rezeptor) KDS2000 Kadmus Cannabinoid-Rezeptor NGD8243 Neurogen TRPV1 (Transient receptor potential cation channel, subfamily V, 1) GRC-6211 Glenmark TRPV1 Ralfinamide Newron Nav/MAOI (Nav=spannungsabhängiger Na-Kanal) Retigabine Valeant KCNQ2/3 (spannungsabhängiger Kalium-Kanal-Subtyp) Hier ein Überblick über die sich aktuell in Phase 2 oder 3 befindlichen Studien mit Wirkstoffen, die einen neuen Aktionsmechanismus aufweisen [Backonja and Woolf, 2010]. DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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Inhalt Geschichtliche Einführung Seite 06 Definition: Schmerztypen 08
Klassifikation 11 Physiologie des Schmerzes 17 Pathophysiologie 25 Klinik: Anamnese und Befunde, Zusatzuntersuchungen 30 Diagnose und Differentialdiagnose 35 Therapie 42 Prognose 58 Die wichtigsten Krankheitsbilder 60 Ausblick 65 Referenzen 68 DIAGNOSE UND THERAPIE DES NEUROPATHISCHEN SCHMERZES
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