Das Deutsche Wörterbuch als Quelle für die Historische Semantik

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Das Deutsche Wörterbuch als Quelle für die Historische Semantik Volker Harm (Göttingen)

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Zum Vorhaben 1838-1960: Erstbearbeitung des Deutschen Wörterbuchs A-Z in 33 Foliobänden (1DWB) 1960-: Neubearbeitung des DWB in seinen am stärksten veralteten Teilen, d. h. den Buchstabenbereichen A-F, in 9 Bänden (2DWB) Projektträger: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (vormals Deutsche Akademie der Wissenschaften) und Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Berlin: A-C, Göttingen: D-F 2006: Abschluss des Göttinger Anteils D-F in 4 Bänden Bis 2016: Arbeit an der verbleibenden Buchstabenstrecke B-C 2004: Retrodigitalisierung des 1DWB (woerterbuchnetz.de) Retrodigitalisierung des 2DWB ist beantragt.

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Zur Konzeption Das 2DWB (wie in Grundsätzen auch das 1DWB) beschreibt den in der neuhochdeutschen Schriftsprache von der Mitte des 15. Jhs. bis zur Gegenwart gebräuchlichen Wortschatz, einschließlich seiner Vorgeschichte im Alt- und Mittelhochdeutschen. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Bedeutungsgeschichte der Einzelwörter. Konsequente Korpusbasierung: Alle lexikographischen Befunde – zur Bedeutung, Grammatik, Schreibung sowohl des vergangenen als auch des gegenwärtigen Deutschen – werden aus dem Belegarchiv erarbeitet. Belegarchiv des 2DWB: ca. 8.000 Quellen von 8. Jh. bis in die Gegenwart, ca. 5 Mio. Belege

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Zur Konzeption

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Artikelbeispiel Belegarchiv des 2DWB: ca. 8.000 Quellen von 8. Jh. bis in die Gegenwart.

Die Digitalisierung des 2DWB: Perspektiven und Mehrwert Vernetzungen: Vernetzungen: Aktivierung wörterbuchinterner und -externer Verweise „Durchgriff“ von der Belegstellenangabe auf das Quellendigitalisat Übergreifende Suchoperationen, z. B.: Suche in spezifischen Informationsschichten (nur Stichwortebene, Belegtext, nur Bedeutungsbeschreibung etc.) „Suche alle Belegstellen, die auf 1513 datiert sind.“ „Suche alle Wörter, die aus dem Französischen entlehnt sind (‚lehnwort aus frz./afrz.‘)“ „Suche alle Belege von Luther“ „Suche alle Erstbeleg von Luther für ein Lemma bzw. eine Bedeutung“ > Ausdrucksseitige Vernetzungen und Suchoperationen sind relativ unproblematisch.

Semantische Erschließung des 2DWB: Externe Vernetzung auf Bedeutungsebene? Vision: Wenn man die Epochenwörterbücher Althochdeutsches Wörterbuch (8. Jh. bis ca. 1050) Mittelhochdeutsches Wörterbuch (ca. 1050 bis 1350) Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (ca. 1350 bis 1650) ggf. 2DWB (8. Jh. bis Gegenwart, Schwerpunkt ab 1500) nicht nur auf der Stichwortebene, sondern auch auf der Bedeutungsebene miteinander verknüpfte, würden Grundzüge der Historischen Semantik des Deutschen sichtbar. An die Stelle des weitgehend überholten 1DWB, das die Historische Semantik von den Anfängen bis in die jeweilige Gegenwart der Bearbeitung umfasst, träte dann ein digitaler Wörterbuchverbund. „Interlinking the dictionaries, as in the conversion of existing cross-references between the works to hyperlinks and the generation of new cross-references at a semantic level, should prove [...] revealing“ (Moulin 2010: 603 mit Bezug auf Dialektwörterbücher, Hervorhebung V.H.).

Semantische Erschließung des 2DWB: Externe Vernetzung auf Bedeutungsebene? Fallbeispiel arm arm Adj. im Mittelhochdeutschen Wörterbuch (MWB) (1050-1350): 1. von Personen 1.1 Mangel an etw. habend 1.2 gering, machtlos, abhängig 1.3 mittellos, bedürftig 1.4 unglücklich, bemitleidenwert 1.5 sündig, erlösungsbedürftig 1.6 in der Paarformel arm unde rîche 2. von Sachen ‚unbedeutend, minderwertig, ärmlich‘ 3. in Sprichwörtern

Semantische Erschließung des 2DWB: Externe Vernetzung auf Bedeutungsebene? arm Adj. im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB) (1350-1650): arm, bedürftig, besitzlos (eines Besitzes, einer Fähigkeit) beraubt, um etwas gekommen aus eigener Entscheidung in Armut lebend dient der Kennzeichnung von Personen, die in irgendeiner Form der Abhängigkeit .. stehen als Bettler im Land umherziehend untreu, böse, unehrlich erbärmlich, verachtenswert (von Handlungen) phrasematisch am ehesten an 4 anzuschließen: mit seinen armen leuten abziehen [...] Als Phrasem armer Ritter

Semantische Erschließung des 2DWB: Externe Vernetzung auf Bedeutungsebene?   2DWB AWB MWB FWB unglücklich, bedauernswert 1a (8.Jh.-1998) IV 1 1.4 10 sündig, erlösungsbedürftig 1b (863-1775) I 2 b 1.5 14 armer Sünder 1bα (1100-1974) - 1.5 – arme Seele 1bβ (12.Jh.-1974) IV 2 demütig 2a (800-1972) I 2 c 1.1(?) 3(?) gering, machtlos, abhängig 2b (863-1957) I 1 1.2 4 unwürdig, unbedeutend - von Sachen 2c (863-1873) 2c – (1360-1878) I 2a 2 mittellos, bedürftig - arme Ritter 3a (800-1998) 3a – (14. Jh.-1996) III 1 1.3 1 16 Mangel an etw. habend 3b (1200-1998) 1.1 schwach, kraftlos - im christl. Bereich - krank, gebrechlich 4 (9.Jh.-1921) II 1 II 2 11 12 von Sachen ‚kümmerlich, minderwertig’ - von Bodenschätzen ‚wenig ergiebig’ 5 (v1022-1998) 5 – (1562-1987) III 2 15 angeklagt, verurteilt - armer Sünder 6 (1335-1672) 6 – (1593-1986) 13 in der Paarformel arm und reich 7 (863-1965) passim 1.6 9 in Sprichwörtern / Phraseologismen / Verbb 3 8 Als Bettler umherziehend 5 untreu, böse, unehrlich 6 verachtenswert 7 Als Bezeichnung für den Mensch gewordenen Erlöser IV 3 (Harm/Scheider 2011: 184f.)

Semantische Erschließung des 2DWB: Externe Vernetzung auf Bedeutungsebene?   2DWB AWB MWB FWB unglücklich, bedauernswert 1a (8.Jh.-1998) IV 1 1.4 10 sündig, erlösungsbedürftig 1b (863-1775) I 2 b 1.5 14 armer Sünder 1bα (1100-1974) - 1.5 – arme Seele 1bβ (12.Jh.-1974) IV 2 demütig 2a (800-1972) I 2 c 1.1(?) 3(?) gering, machtlos, abhängig 2b (863-1957) I 1 1.2 4 unwürdig, unbedeutend - von Sachen 2c (863-1873) 2c – (1360-1878) I 2a 2 mittellos, bedürftig - arme Ritter 3a (800-1998) 3a – (14. Jh.-1996) III 1 1.3 1 16 Mangel an etw. habend 3b (1200-1998) 1.1 schwach, kraftlos - im christl. Bereich - krank, gebrechlich 4 (9.Jh.-1921) II 1 II 2 11 12 von Sachen ‚kümmerlich, minderwertig’ - von Bodenschätzen ‚wenig ergiebig’ 5 (v1022-1998) 5 – (1562-1987) III 2 15 angeklagt, verurteilt - armer Sünder 6 (1335-1672) 6 – (1593-1986) 13 in der Paarformel arm und reich 7 (863-1965) passim 1.6 9 in Sprichwörtern / Phraseologismen / Verbb 3 8 Als Bettler umherziehend 5 untreu, böse, unehrlich 6 verachtenswert 7 Als Bezeichnung für den Mensch gewordenen Erlöser IV 3 (Harm/Scheider 2011: 184f.)

Semantische Erschließung des 2DWB: Externe Vernetzung auf Bedeutungsebene? Vorläufiges Fazit: Eine wörterbuchübergreifende Verlinkung semantischer Positionen ist nur von Experten und nur manuell realisierbar. In einigen Fällen ist sie auch für Experten nicht möglich. Eine semantische Verlinkung ist auch für Experten zu aufwendig. Eine epochenübergreifende Darstellung der Historischen Semantik ist aus einer bloßen Synthese der Epochenwörterbücher nicht zu gewinnen.

Semantische Erschließung des 2DWB: Mögliche Fragestellungen und Suchoperationen Das 2DWB verfügt über eine komplexe Datenstruktur: Stichwortgruppe („Expedition f.“) Herkunftsangaben („lehnwort aus lat. expeditio“ ) Angaben zur hist. Grammatik Bedeutungsangaben Belege Metadaten: Belegdatierung, Kurztitel Der Wörterbuchtext des 2DWB verfügt ferner über eine relativ gut ausgebildete Informationsstruktur. Dies erlaubt genaue eine Auszeichnung der einzelnen Informationstypen im Zuge der Digitalisierung. Damit werden Korrelationsabfragen möglich, die unterschiedliche Informa-tionstypen miteinander in Beziehung setzen.

Semantische Erschließung des 2DWB: Korrelationsabfragen Genus und Herkunft: Welches Genus haben Lehnwörter aus dem Französischen im Vergleich zu Lehnwörtern aus dem Lateinischen? Morphologische und historische Informationen: Ab wann sind -ig-Bildungen bezeugt, bis wann gibt es Adjektive auf -icht? Morphologische und semantische Komplexität: Wieviele Bedeutungs-positionen haben Simplizia (Fuß); wieviele haben Komposita und Ableitungen (Fußball)? Wieviele Erstbelege für Bedeutungen bzw. Wörter stammen von Luther, wieviele von Goethe?

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen Das 2DWB ist ein semasiologisches Wörterbuch, d. h. es ist auf das einzelne Wort und seine Bedeutungsgeschichte gerichtet. Für die Darstellung von Wortschatzusammenhängen - sog. onomasiologische Fragestellungen - ist das 2DWB nicht ausgelegt. Können onomasiologische Fragen auf der Basis des digitalen 2DWB möglicherweise dennoch beantwortet werden? In welcher Weise ist es möglich, „semasiologische Wörterbücher onomasiologisch nutzbar zu machen“ (Reichmann 1986: 176)?

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen Hier sind folgende Formen der Abfrage zu unterscheiden: Einfache onomasiologische Abfrage: Taxonomie ‚Baum‘: ‚Suche alle Stichwörter, die mit Hilfe des Wortes X in der Bedeutungsangabe (Baum) beschrieben werden.‘ Problem: Ahorn m. ‚laubbaum mit drei- bis fünflappigen spitzen blättern [...]‘ (2DWB 2, 93) Fichte f. ‚zur gattung der kieferngewächse gehörendes immergrünes nadelholz [...]“ (2DWB 9,466)

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen 2) Kumulative onomasiologische Abfrage: ‚Schlage die Beschreibungswörter solange als Stichwörter nach, bis keine neuen Wörter mehr auftreten‘ 1. Rolle ‚Walze‘ 2. Walze ‚Welle‘ 3. Welle ‚Rad‘ 4. Rad ‚Scheibe‘ > Dem Konzept ‚Rolle‘ entsprechen die Wörter {Rolle, Walze, Welle, Rad, Scheibe} (Bsp. Reichmann 1986: 176-178)

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen Probleme der kumulativen Abfrage: Polysemie: Rolle ‚Aufgabe‘, Welle ‚berg- und talförmige Bewegung der Wasser-oberfläche‘ (vgl. Reichmann 1986) Verfahren setzt synonymische Definition voraus, häufiger sind aber Paraphrasen des Typs „genus proximum - differentia specifica“, z. B.: Finte ‚vorgetäuschte bewegung [...]‘ (2DWB 9, 528) Fasching ‚die der vorösterlichen fastenzeit vorangehenden wochen [...]‘ (2DWB 9, 156) Eine einfache rekursive Suche nach dem Genus-Ausdruck läuft schnell ins Leere: 1. Finte ‚Bewegung‘ 2. Bewegung ‚das Bewegen‘ > ?{Finte, Bewegung, Bewegen} statt {Finte, Haken, Trick, Schlenzer ...}

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen Mögliche Lösungen: Man müsste nach semantischen Merkmalen suchen, die Synonymie ja letztlich konstituieren Im Fall von Finte 1 könnte man das relevante semantische Merkmal über eine Suche nach der Wurzel „täusch-“ als Teil von Beschreibungsparaphrasen ermitteln (täuschend, Vortäuschung, zur Täuschung). Heuristisches Wortfeld: {Baum, Blatt, Stamm, Nadel} > Baum-Lexeme Onomasiologische Suchen können nicht mechanisch nach den jeweiligen Defini-tionselementen erfolgen, sondern bedürfen besonderer wort- bzw. wortfeld-spezifischer Suchstrategien.

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen 3) Historisch-onomasiologische Suchoperationen: Fallbeispiel faszinieren 1. Schritt: Suchbegriff „faszinieren“ in Bedeutungsbeschreibungen faszinieren ‚jmdn. magisch anziehen‘ (1794) fesseln ‚faszinieren, ganz einnehmen‘ (1519) anziehen: ‚anlocken, interesse wecken, faszinieren, in seinen bann ziehen‘ (1491)‚ in seinen bann ziehen: ‚stark interessieren, faszinieren, fesseln‘ (1781) 2. Schritt: Kumulative Suche anlocken ‚anziehen, für sich einnehmen‘ (1590) einnehmen: ‚jmdm. gefallen, entzücken‘ (1650) entzücken ‚begeistern, bezaubern, sehr erfreuen‘ (17. Jh.) gefallen (1DWB 4,2099ff.) begeistern ‚interesse, lust an etwas wecken‘ (1787) bezaubern: ‚in entzücken versetzen‘ (1644) [...]

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen Ergebnisse Synonymegruppe: {anziehen, anlocken, in seinen bann ziehen, begeistern, bezaubern, einnehmen, entzücken, faszinieren, fesseln} Nahe Synonyme: {in seinen bann ziehen, fesseln, anziehen} werden durch faszinieren beschrieben. Verweispaare/-gruppen: {anlocken, anziehen}, {anziehen, faszinieren}

Semantische Erschließung des 2DWB: Onomasiologische Abfragen Zeitleiste: 1491 anziehen 1519 fesseln 1590 anlocken 1624 entzücken 1644 bezaubern 1650 einnehmen 1781 in seinen bann ziehen 1787 begeistern 1794 faszinieren Arbeitshypothesen: Kritische Phasen in der Entwicklung des Wortschatzsegments: 1624-1650 (Opitz, Fleming, Harsdörffer) und besonders Ende 18. Jh. Im Mittelalter scheint das Konzept nicht lexikalisiert zu sein. Nach 1800 offenbar keine neuen Lexeme mehr.

Semantische Erschließung des 2DWB: Fazit und Ausblick Semantische Erschließung mittels externer Vernetzung geht nur manuell; Aufwand und Ergebnis stehen kaum in einem angemessenen Verhältnis. Das 2DWB weist eine ausgeprägte mikrostrukturelle Gliederung auf; bei einer entsprechenden Annotierung können daher zahlreiche Korrelationsabfragen durchgeführt werden, die viele gängige Hypothesen überprüfbar und viele Frage-stellungen überhaupt erstmals beantwortbar machen. Auf der Basis onomasiologischer Abfragen können – trotz der gezeigten Schwierigkeiten – interessante Arbeitshypothesen zur Historischen Semantik des deutschen Wortschatzes gewonnen werden, die auf anderem Wege nur mühsam oder gar nicht erreichbar wären.

Zitierte Literatur Harm, Volker (2015): Einführung in die Lexikologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Harm, Volker/Marco Scheider (2011): Modul statt Monument? Zur Perspektive der historischen Lexikographie nach dem Abschluß der DWB-Neubearbeitung. In: Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 2 (Historische Semantik), 179-192. Moulin, Claudine (2010): Dialect dictionaries – traditional and modern. In: Peter Auer/Jürgen-Erich Schmidt (Hg): Language and Space. An International Handbook of Linguistic Variation, Volume I. Theories and Methods. Berlin; New York: de Gruyter, 592-612. Reichmann, Oskar (1986): Die onomasiologische Aufbereitung semasiologischer Dialektwörterbücher. In: Hans Friebertshäuser (Hg.): Lexikographie der Dialekte. Beiträge zu Geschichte, Theorie und Praxis. Tübingen: Niemeyer, 173-184.