Psychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung bei Geständniswiderruf

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 Präsentation transkript:

Psychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung bei Geständniswiderruf Prof. Dr. Max Steller Fachpsychologe für Rechtspsychologie BDP/DGPs Professor für Forensische Psychologie a. D. am Institut für Forensische Psychiatrie Charité–Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10), 13437 Berlin www.forensik-berlin.de max.steller@charite.de

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf Kieler Nachrichten vom 16.01.10 (S. 15): Freispruch für Angeklagten im Mordprozess ohne Leiche Angeklagter: 46 Jahre alt Anklage: Vor 20 Jahren Tötung der damaligen Freundin Motiv: Sie wollte, dass er seinen Vater ins Heim gebe. Fakt: Die Frau verschwand im Sommer 1989 spurlos. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf DER SPIEGEL 6/2010 (S. 39 f.) „Lange genug weichgekocht“ Kieler Mordprozess ohne Leiche 2009: Geständnis über angebliche Tat vor ca. 20 Jahren in diversen Versionen, nachdem ein verdeckter Ermittler acht Monate lang mit ihm tätig war. Tätigkeit des verdeckten Ermittlers: Freundschaftsbildung mit dem Verdächtigen und endlose Gespräche über dessen Interessen und Leidenschaften, u. a. dreißigjähriger Krieg, ungeklärte Todesfälle, Dämonen, Geister, Werwölfe. Zur Persönlichkeit des Angeklagten: langjährige Unterbringung in einer Einrichtung für geistig Behinderte, 2010: durchschnittliche Ergebnisse in einem Intelligenztest und Borderline-Diagnose, die Jahrzehnte zuvor: Psychose. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

„I´d know a false confession if I saw one“ Saul Kassin, 2004 Aber: Es gibt – neben spektakulären Einzelfällen (central park jogger, Guildford four u. a.) Hinweise auf eine beachtenswerte Häufigkeit falscher Geständnisse bei Kapitaldelikten aus Analysen von Wiederaufnahmeverfahren (Peters, 1970 und 1972) und „the innocence project“ (Gründung 1992 in USA: gemeinnützige Organisation zur Identifikation von Fehlern bei Schuldsprüchen durch DNA-Analysen, vgl. auch Drizen & Leo, 2004). Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Risikofaktoren für falsche Geständnisse (nach Drizen & Leo, 2004) Personale Voraussetzungen jugendliches Alter intellektuelle Beeinträchtigungen psychiatrische Erkrankungen Persönlichkeitsstörungen (bes. Cluster B) Vernehmungsbedingungen Vorannahmen („interviewer bias“, „guilty bias“) Ausüben von „Druck“ und Verwenden von „Tricks“ Konfrontation mit „Beweisen“ Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Taxonomie falscher Geständnisse (nach Kassin & Wrightsman, 1985) Voluntary false confessions Coerced-compliant false confessions Coerced-internalized false confessions Zwei Dimensionen: selbständig vs. in einer Befragung bewusst vs. unbewusst Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Qualitative Inhaltsanalyse (Aussageanalyse) Logik: Qualitative Überlegenheit von wahren gegenüber erfundenen Erlebnisschilderungen im intraindividuellen Vergleich (Lüge als geistige Leistung mit hohen Anforderungen an kreative und Kontrollprozesse) Volbert, R. & Steller, M. (2009). Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit. In Venzlaff/Förster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage, 39. Kapitel (S. 817-850). München: Urban & Fischer Verlag. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Glaubhaftigkeitsbeurteilung bei Prüfung der Lügenhypothese durch Vergleich von Aussagequalität mit Kompetenz der Aussageperson i. S. von Erfindungs(Lügen)kompetenz unter Berücksichtigung von Motivationen und Dispositionen der Aussageperson und Fehlerquellen in der Aussageentwicklung Volbert, R. & Steller, M. (2009). Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit. In Venzlaff/Förster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage, 39. Kapitel (S. 817-850). München: Urban & Fischer Verlag. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf Wegener, H. (1991). Die Geständnissituation im Lichte psychologischer Theorien. In H. Schütz, H.-J. Kaatsch & H. Thomsen (Hrsg.). Medizinrecht, Psychopathologie, Rechtsmedizin. Festschrift für Günter Schewe (S. 309-319). Berlin: Springer Verlag. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Der Holzklotz-Fall I. Landgericht Oldenburg (Old.) Ostersonntag (23.03.) 2008: Wurf eines 6 kg schweren Holzklotzes von einer Brücke über die A 29 bei Oldenburg, der die Windschutzscheibe eines PKW durchschlug mit Tötung der Beifahrerin vor den Augen ihrer beiden Kinder und ihres Ehemannes Ca. 2 Wochen später: Nach Ankündigung von Gentests Meldung des Nikolai H. bei der Polizei als Hinweisgeber (er habe einen Holzklotz, eine Felge und einen Ast vom Radweg der Brücke geräumt) Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Der Holzklotz-Fall II. Landgericht Oldenburg (Old.) Wiederholung durch Nicolai H. in zwei Zeugenvernehmungen: Er habe Holzklotz, Ast und Felge vom Radweg geräumt. In Vernehmung als Beschuldigter ca. zwei Monate nach Ostern: Geständnis mit Schilderung des Transports von Holzklotz und Felge auf Fahrrad zur Brücke und Beschreibung des Holzklotzwurfs. Kurze Zeit nach Inhaftierung: Widerruf. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf Der Holzklotz-Fall III.: Ist eine Erfindung des Geständnisinhalts denkbar? Hohe inhaltliche Qualität des Geständnisses zum Zeitpunkt eines psychophysischen „Zusammenbruchs“ mit „Täterwissen“ bei Ausschluss von entsprechenden Vorgaben Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf Der Holzklotz-Fall IV.: Lüge als geistige Leistung (William Stern, 1904) Zu wenig oder zu viel inhaltliche Qualität als Konstruktionsfehler einer Lüge Si tacuisses, Nikolai H.! Rechtskraft des Urteils LL seit Jan. 2010 Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Charakteristika von Scheinerinnerungen Erinnerungssuche, Erinnerungsarbeit Erinnerungskonkretisierungen Scheingenauigkeiten bizarre oder irreale Inhalte Imaginationsübungen, Visualisierungstechniken bzw. Grübeleien, Tagträume u. ä. Volbert, R. (2004). Beurteilung von Aussagen über Traumata. Bern: Huber Verlag. Stoffels,H. (2002). Erinnerung und Pseudoerinnerung. Über die Sehnsucht, Traumaopfer zu sein. Nervenarzt 73, S. 445-451. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Zur Entstehung suggerierter Vorstellungsinhalte (Scheinerinnerungen) Erleben von Unsicherheiten und Erklärungsbedarf (kognitive und emotionale Mangelzustände im Sinne von William Stern, 1904) Direkte und indirekte Vorgaben zur Reduktion der Unsicherheiten durch Autoritätspersonen mit hohem sozialen Prestige (z. B. Therapeuten, Vernehmungsbeamte), aber auch autosuggestive Prozesse („Grübeleien“, „Imaginationen“) Folge: sukzessive Übernahme und Ausgestaltung der indirekten und direkten Vorgaben sowie eigener Vorstellungen als vermeintliche Erinnerungen (Pseudoerinnerungen) Funktion: Externalisierung von subjektivem Insuffizienzerleben, Reduktion psychischer Belastungen Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Konfirmatorisches Hypothesentesten Selektive Verarbeitung und einseitige (affirmative) Interpretation von Daten Gegenstrategie: Systematische Prüfung von Gegenhypothesen (Leitfrage der Glaubhaftigkeitsbegutachtung, Falsifizierungsprinzip, BGHSt 45, 164: Postulat der Nullhypothese) v. Schemm, K. & Köhnken, G. (2008). Voreinstellungen und das Testen sozialer Hypothesen im Interview. In R. Volbert & M. Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie (S. 322-330). Göttingen: Hogrefe. Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf 2008 Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf

Forensische Aussagepsychologie Glaubhaftigkeitsbegutachtung Beitrag zu Tatsachenfeststellungen Beitrag zu gerechten Urteilen Max Steller, 2011 Geständnis und Geständniswiderruf