Auf dem Weg zu einer semiotischen Diskurstheorie

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 Präsentation transkript:

Auf dem Weg zu einer semiotischen Diskurstheorie Martin Siefkes, IUAV Venedig Doris Schöps, TU Berlin Università IUAV di Venezia

Fragestellung Zwei Fragen sollen untersucht werden: Was sind Diskurse? (Definition) Welche Zeichenaspekte haben Diskurse?

Hintergrund Heft der Zeitschrift für Semiotik: Neue Methoden der Diskursanalyse (geplant für Ende 2013) Konzeption: breite Auffassung Vorwort für dieses Heft: Integration unter semiotischer Perspektive

Foucault Regeln des Diskurses definieren (für ein bestimmtes Thema oder Wissensgebiet), was sagbar ist, bei welchen Anlässen es gesagt wird, usw. Sinnzusammenhang, der Machtstrukturen als Grundlage hat, aber diese auch wieder erzeugt Diskurse können sprachliche und nicht-sprachliche Aspekte haben (z.B. Architektur)

Discourse analysis Angloamerikanischer Raum: „discourse analysis“ als Gesprächsanalyse oder sogar allgemein als „Textanalyse“ Z.B. DRT („discourse representation theory“; Kamp/Reyle 1993) und SDRT (Asher/Lascarides 2003) Vorteil: präzise linguistisch fassbar Nachteil: als Synonym für „Textanalyse“ sinnlos Perspektive: Repräsentation des Inhalts (Diskurselemente, Aussagen) in logischer Form Analyse rhetorischer Relationen (z.B. „Narration“, „Explanation“) führt zu Gattungen

Korpusanalyse „Sprachgebrauchsmuster“ (Bubenhofer 2009) Diskurs als Muster, die primär auf der Ausdrucksebene verortet werden Nachteil: es wird kein Verfahren angegeben, das inhaltliche Muster findet Wissensstrukturen oder bloße Formulierungskonventionen?

Frames Frames sind Strukturen, die Weltwissen enthalten (Fillmore 1982; Ziem 2008) Für Textverstehen nötiges Hintergrundwissen Diskurse und Frames Diskurs ein bestimmter Typ von (Meta-)Frame? über „Constraints“ der Verwendung von Frames in Texten? als Bezüge zwischen Frames: z.B. „Homosexualität als Krankheit“, „Migration als Vermischung verschiedener Zutaten [‚melting pot‘-Diskurs]“

Anforderungen an eine Definition Diskurse können in allen Zeichensystemen auftreten, und dabei auch mehrere umfassen (multimodale/multimediale Diskurse) Korpusanalytisch erfassbar, d.h. Ausdrucksebene explizit berücksichtigt Inhaltsebene berücksichtigt Wissens- und Denkmuster berücksichtigt → Mehrebenen-Modell verschiedene Medien und Modi

Definition Diskurse sind kulturelle Einheiten, die durch Beschränkungen auf vier Ebenen gekennzeichnet sind. Ein bestimmter Diskurs definiert sich durch (1) Thema (2) Ausdrucksweisen (3) Inhalte (semantischer Gehalt) (4) (a) Denkweisen bzw. kognitive Modelle; (b) gesellschaftliche Verhältnisse

Definition (1) Abgrenzungsbedingungen: Thema, Ortsrahmen [z.B. Europa], Zeitrahmen [z.B. nach dem 2. Weltkrieg bis zur „Wende“] (2) Strukturen auf der Ausdruckebene (Formulierungen; Idiome; von außerdiskursiven Texten abweichende Häufigkeiten; …) Strukturen auf der Inhaltsebene (nach Foucault:) Episteme; Wissensstrukturen; kognitive Modelle. Bestimmen Grenzen des Denk- und Sagbaren. Diese sind Ursache und Wirkung von Diskursen. Institutionen; gesellschaftliche Bedingungen; Machtstrukturen; Interessen der Beteiligten; technische Bedingungen. Diese sind Ursache von Diskursen (Wirkung allenfalls indirekt). Beeinflussung & Rückkopplung: (4) → (3) → (2) → (1) → (4a) → (3) …

Beispiel 1 Sprachlich und bildlich repräsentiert (1) Thema: Liebe und Ehe; Zeit/Ort: 19. Jahrhundert; Deutschland (2) Ausdruck: romantisches Vokabular; differenzierte Ausdrücke für Emotion und Reflexion darüber (3) Inhalt: Wichtigkeit der Liebe; Nuancen von Gefühlen; Konflikte zw. Gefühl und äußeren Umständen (a) Denkweisen: (neu zu etablieren:) Notwendigkeit einer emotionalen Grundlage für die Ehe (b) Gesellschaft: Ende der sozialen Festlegungen des Feudalismus; bürgerliche Gesellschaft und wirtschaftlich selbständige Kleinfamilie; freie Konkurrenz um Partner

Beispiel 2 Sprachlich repräsentiert (Beispiel für Veränderung eines Diskurses) (1) Thema: Einwanderung (2) Ausdruck: (bis 1990er Jahre) „Ausländer“, (heute) „Migranten“ (3) Inhalt: (bis 1990er) Debatte über Unterschiedlichkeit und über Konflikte; (heute) Debatte über Integration (a) Denkweisen: (bis 1990er) Forderung, dass die Ausländer wieder gehen sollen; Ängste vor fremdartig Aussehenden; (heute) Forderung, dass sie sich anpassen sollen; Ängste vor kultureller und religiöser Fremdheit (b) Gesellschaft: (durchgehend) Bedarf an ausländischen Arbeitskräften; (bis 1990er) Bedarf an Fabrikarbeitern; (heute) Bedarf an Facharbeitern und Akademikern, die nicht beliebig austauschbar sind

Beispiel 3 Beispiel aus: Betscher (in Vorb.) Sprachlich und visuell repräsentiert = multimodaler Diskurs (1) Thema: Demokratie in Westeuropa; Ort/Zeit: DDR kurz nach Staatsgründung (2) Ausdruck: „Prügeldemokratie“, typische Bilder (auf Demonstranten einprügelnde Polizisten) (3) Inhalt: werden als Prügeldemokratien (d.h. autoritäre Pseudo- Demokratien, die vor allem die Arbeiterklasse unterdrücken) dargestellt (4) (a) Denkweisen: Zurückweisung des demokratischen Anspruchs des Westens (b) Gesellschaft: Staatsgründung DDR; Abgrenzung von der BRD; Etablierung staatlicher Autorität; Systemkonkurrenz

Beispiel 4 Beispiel aus: Betscher (in Vorb.) Visuell repräsentiert (1) Thema: Getreidelieferungen durch die Sowjetunion; Ort/Zeit: sowjetische Besatzungszone während der Luftbrücke (1948/49) (2) Ausdruck: Getreidelieferungen durch die Sowjetunion werden visuell dargestellt wie die Luftbrückenbilder im Westen (3) Inhalt: ‚USA als Helfer in der Not‘ wird durch ‚Sowjetunion als Helfer in der Not‘ gekontert. (4) (a) Denkweisen: Westbindung der BRD wird mit Ostbindung der Sowjetunion beantwortet (b) Gesellschaft: Blockintegration; militärische und wirtschaftliche Notwendigkeit einer Ostbindung

Zeichenaspekte von Diskursen (1) Ebene (1) dient der Abgrenzung eines Diskurses (Welche Texte werden betrachtet? Welche thematischen Aspekte in diesen Texten gehören zum Diskurs?) Ebene (3) wird aus Ebene (2) durch Dekodierung (bei Zeichensystemen, z.B. der Sprache) und/oder durch Interpretation nicht-kodierter Zeichen (z.B. Erkennen des Abgebildeten auf einem Bild) gewonnen Ebene (4) wird aus Ebene (2) und (3) erschlossen (durch Anzeichen- oder Anzeigeprozesse sowie Kommunikationsakte)

Zeichenaspekte von Diskursen (2) Die Kombination von Mustern auf Ausdrucks- und Inhaltsebene, die einen Diskurs kennzeichnet, wird zum Anzeichen für bestimmte Denkweisen und Vorstellungen Ebene (4) erzeugt im Bereich, der durch (1) angegeben wird, Ebene (2) und (3) (2) und (3) sind daher Anzeichen (auch höherer Stufe, d.h. Anzeigen oder Kommunikationsakte) für (4) und können entsprechend interpretiert werden Bei Konventionalisierung: Diskurse können zu „Zeichen 2. Ordnung“ werden Sie bestehen dann aus Strukturen auf der Ausdrucksebene (2) und Inhaltsebene (3), die wiederum Bedeutungen haben (4)

Multimodale Diskurse Multimodal: weiter vs. enger Multimodalitätsbegriff weit: mehrere Kodes bzw. Medien in einen Kode integriert (z.B. Bilder und Schriftsprache) eng: auch mehrere Sinnesmodalitäten beteiligt (z.B. Bilder und Musik) Multimodale Diskurse: z.B. Bilder, Sprache und Film Methoden der „multimodalen Korpusanalyse“ erforderlich; vgl. Bateman/Schmidt 2011; Schöps (in Vorb.) Korpusanalyse: diese untersucht quantitativ Ebene (2), woraus bei Bekanntheit der Zeichensysteme direkt Ebene (3) erschließbar ist. Ebene (4) kann nur durch qualitative Methoden aus den Ergebnissen einer Korpusanalyse gewonnen werden.

Abgrenzung von Diskursen Wo endet ein Diskurs, wo beginnt der nächste? Diskurse lassen sich über Ebene (1) abgrenzen (Thema, Ort und Zeit der beteiligten Texte) Ein weiteres Kriterium sind intertextuelle Bezüge; wo sie fehlen, können manchmal auch bei Ähnlichkeit auf Ebenen (1) bis (4) Diskursgrenzen angenommen werden definitionsabhängig verschiedene Abgrenzungen ineinander greifender Diskurse möglich z.B. der Diskurs „Private vs. öffentliche Gesundheitsvorsorge“, der als Bestandteil der allgemeineren Diskurse „Gesundheit“ sowie „Privatisierung“ angesehen werden kann Einzelne Aussagen können daher unterschiedlichen Diskursen angehören Texte können zudem mehrere Diskurse enthalten

Literatur Asher, Nicolas & Alex Lascarides (2003), Logics of Conversation. Cambridge, MA: Cambridge University Press. Bateman, John & Karl-Heinrich Schmidt (2011), Multimodal Film Analysis. How Films Mean. London: Routledge. Betscher, Silke (in Vorb.), Von großen Brüdern und falschen Freunden. Visuelle Kalte-Kriegs- Diskurse in ost- und westdeutschen Nachkriegsillustrierten 1945-49. Essen: Klartext. Bubenhofer, Noah (2009), Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/New York: de Gruyter. Fillmore, Charles (1982), “Frame semantics”, in: Linguistics in the Morning Calm. Papers presented at the Seoul International Conference on Linguistics. Seoul: Hanshin, 111-137. Kamp, Hans & Uwe Reyle (1993), From Discourse to Logic: Introduction to Model-theoretic Semantics of Natural Language, Formal Logic and Discourse Representation Theory. Dordrecht: Kluwer. Ziem, Alexander (2008), Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Berlin/New York: de Gruyter.