Verfassunggebung und Verfassungsentwicklung

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
NS-Verbrechen in anderen Ländern
Advertisements

Externe Faktoren bei Demokratisierungen
Europa Heute und Morgen.
Quote, Parität oder Freiwilligkeit? Mehr Frauen in die Parlamente!
Huntingtons „Kampf der Kulturen“
Willkommen bei dem Europa Quiz!
BM ‚Politische Systeme‘
Viele wollen hinein!(Stimmt das? Wer will noch hinein?)
Die Europäische Union.
Neue Politische Ökonomie: Comparative Politics Vorlesung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg SS 2008 Prof. Dr. Lars P. Feld Ruprecht-Karls-Universität.
Die europäische Union Die Geschichte ihrer Entstehung.
Religion und Politik.
Prekäre Beschäftigung in Europa
Geschichte und Sozialkunde kombiniert
Die Deutsche Demokratische Republik
Die Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Christina Sejpka.
Grundstrukturen der neuen Regierungssysteme
Politische Parteien (Fortsetzung) Zivilgesellschaft und gesellschaftliche Akteure PD Dr. Silvia von Steinsdorff Vorlesung: Demokratien, Autokratien,
Grundlagen des Vergleichs
Zivilgesellschaft und politische Kultur
Wahlen und Wahlverfahren
Der Epochenwechsel von 1989: Die westliche Perspektive
Wie weit reicht Europa – und wer gehört dazu?
EuropaRAThaus Erklärung Für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger „Wir einigen keine Staaten, wir verbinden Menschen“ (Jean Monnet) Anlässlich.
Eliten in Wellen der Demokratisierung und Lustration (verkürzte Version) Internationale wissenschaftliche Tagung Lustration, Konsolidierung der Demokratie.
Ausblick des Geschäftsführers
Menschen- und Bürger-rechte Politische Philosophie Wahlen und
Aufgaben/Fragen und Lösungen/Antworten
Die Demokratiequalität in Österreich, Deutschland und der Schweiz im Vergleich Daniel Voglhuber,
Dr. Nicole Gallina Einführung in die Politikwissenschaft Sitzung vom 5
Dr. Nicole Gallina Einführung in die Politikwissenschaft Sitzung vom 28.9.
Die Politik in Deutschland
Politisches System Schweiz
Politisches System Schweiz
Partner im Dialog: Volksentscheide, Demokratie und Rechtsstaat. Das rheinland-pfälzische Reformprojekt mehr Bürgerbeteiligung wagen im Lichte schweizerischer.
Politik der DDR in den 70er und 80er Jahren
Deutschland Das Politische System
Informationelle Politik und die Krise der Demokratie Christian Luksch Jascha Nouri.
Die Bundesrepublik Deutschland
Zagorski, Vertiefungsseminar: Europäische Sicherheit Russland im System Europäischer Sicherheit.
Das politische Quiz Personen und Ämter Aus der Geschichte Wahlen und
Politische Parteien PD Dr. Silvia von Steinsdorff Vorlesung: Demokratien, Autokratien, Grauzonenregime. Die politischen Systeme in Ost- und Südosteuropa.
Österreichische Geschichte
Probleme der Wiedervereinigung
Präsentiert von Christian Meder und Michael Zynga
Neue Mitglieder der EU ab Juni 2004:
4. Sitzung Dr. Petra Bendel
法學德文名著選讀(一) Lektion 3 Text 1

Überblick Die Beteiligten Datum Ort Beginn Ende Wilhelm Friedrich IV
Überblick Die Beteiligten Datum Ort Beginn Ende
Parlamentarische Demokratie in der BRD
Geschichte in fünf Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949)
Gastprofessor Dr. Árpád v. Klimó Katholische Kirche und Katholiken: Österreich im europäischen Kontext (19. und 20. Jahrhundert)
Das Demokratiemodell des Grundgesetzes
Dr. Petra Bendel Vorlesung: Einführung in die Politische Wissenschaft Vorlesungsteil Internationale Politik II: Empirischer.
Zukunft des EU-Legislativverfahrens und seiner Darstellung IRIS 2007 Salzburg 22. Februar 2007 Pascale Berteloot Amt für Veröffentlichungen der EU.
Parteienlandschaft Deutschland
Neue Politische Ökonomie Vorlesung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg SS 2008 Prof. Dr. Lars P. Feld Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg,
Berg-Schlosser : VL : Vergleichende Politikwissenschaft Vergleichende Demokratieforschung Entstehung und Verbreitung demokratischer Systeme eine.
Demokratiequalität Österreichs, unter Berücksichtigung des EU- Beitritts Gmeiner, Elik-Gülen, Süzgen.
Europäische Union & Vertrag von Lissabon
Das politische System in Brasilien
Öffentliches Wirtschaftsrecht I
Oliver W. Lembcke (HSU-HH) PS-1: Neo-Institutionalismus Ansätze und theoretische Zugänge Vorlesung im Wintertrimester 1/2012 Neo-Institutionalismus Ansätze.
 Verfassungsgesetze und Bestimmungen des Bundesrechtes › Gesetze › Einzelne Bestimmungen › Staatsverträge  Beschluss 1920  Unterbrechung
Schweizer Frühling Liberec, den 27. März 2013 Die direktdemokratischen Instrumente und ihre Wirkungsweise in der Schweiz Dr. Corsin Bisaz c2d-center for.
Tschechische Republik Die Liebfrauenschule präsentiert.
Direkte Demokratie und Populismus Prof. Dr
Rechtsruck in Europa Dildar Gök FRAU Wiedbrauk 10aR.
 Präsentation transkript:

Verfassunggebung und Verfassungsentwicklung PD Dr. Silvia von Steinsdorff Vorlesung: Demokratien, Autokratien, Grauzonenregime. Die politischen Systeme in Ost- und Südosteuropa 24. Mai 2007 (Ersatztermin)

Resümee zur Vorlesung Grundlagen des Vergleichs (1) Wandel politischer Systeme empirisch nachweisbar  3-4 „Demokratisierungswellen“ seit 1828 Verschiedene Erklärungsansätze für den Wandel System- und Strukturtheoretische Modelle Systemstabilität als oberstes Ziel  Modernisierungstheorie  Strukturtheorien (Machtressourcen etc.) Kulturtheoretische Erklärungsmodelle kulturelles Erbe, nationale Traditionen, Religion etc. begründen einem bestimmten „Entwicklungspfad“  Samuel Huntington: Clash of Civilizations Akteurszentrierte Erklärungsmodelle Interessenmaximierung der Akteure als oberste Maxime; Institutionen als Handlungskorridor für die Akteure PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Resümee zur Vorlesung Grundlagen des Vergleichs (2) Grundfragen der Transformationsforschung: Explizit oder implizit: (liberale) Demokratie als Ziel des Wandels? Minimale versus maximale Definitionen: Wie viele Kriterien erforderlich?  Wahldemokratie, Polyarchie, „embedded democracy“ Quantitative versus qualitative Messverfahren zur Bestimmung der „Demokratiequalität“?  Sinnfrage! PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Nachtrag: Verfahren des Demokratiemessung (1) Beispiel 1: Quantitative Demokratiemessung Vanhanen-Index  174 Länder verglichen (1997)  Polyarchie-Messung (nach Dahl), zwei Faktoren: Partizipation P (Anteil der Wähler Z an der Gesamtbevölkerung B bei der letzten Wahl): P = Z : B x 100 Wettbewerb W (Stimmenanteil S der größten Partei, abstrahiert von 100): W = 100 – S Demokratie = (P x W) : 100 PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Nachtrag: Verfahren des Demokratiemessung (2)  je größer die Zahl (zwischen 0 und 100), desto demokratischer!  wenn ein Faktor 0, dann alles 0 Ergebnis: - alle Werte ab 30 = etablierte Demokratie - Italien (48,3) und Belgien (47,1) Tschechien (40,3) auf Platz 1 bis 3 - Deutschland: 37,3 - Russland: 27,0 - Schweiz: 23,7 - USA: 20,7 PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Nachtrag: Verfahren des Demokratiemessung (3) Beispiel 2: Qualitative Demokratiemessung Freedom-House-Index Seit 1972 jährlich für alle Staaten der Erde erhoben Kombinationsindex aus 8 politischen und 13 individuellen Freiheitsrechten Skala von 1 = frei bis 7 = unfrei; Summe beider Bereiche ergibt Gesamtergebnis drei Kategorien: frei (1-2,5) halbfrei (3-5,5) und unfrei (6-7) Fragebogen wird von Experten ausgefüllt anfangs: Auslandskorrespondenten US-amerikanischer Zeitungen heute: Regionalexperten, NGO’s PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Schwellenwerte und Konsolidierungskriterien Gibt es ein klares Kriterium, „ab wann“ ein politisches Regime als Demokratie bezeichnet werden kann?  „Demokratie mit Adjektiven“  Hybride Regime oder Grauzonen- regime als eigener Systemtyp? Grundantwort: Konsolidierung als mehrstufiger Prozess PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Vier Ebenen der demokratischen Konsolidierung (nach W. Merkel) Institutionelle Konsolidierung (Verfassung, Regierungssystem) Repräsentative Konsolidierung (Parteien, Interessenverbände) Verhaltenskonsolidierung (z.B. Oligarchen) Konsolidierung der demo- kratischen politischen Kultur Stabilität Zeit PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Gliederung Verfassunggebung und -entwicklung 1. „Institutitons do matter“ 1.1 Zusammenhang von Institutionalisierung und demokratischer Konsolidierung 1.2 Zeitpunkt und Voraussetzungen der Verfassunggebung 1.3 Verfassung als Rahmen des neuen Regierungssystems 2. Beispiele der Verfassunggebung in MOE 2.1 Ungarn: Schrittweise Revision statt Neubeginn 2.2 Lettland: Vorwärts in die Vergangenheit 2.3 Russland: Verfassungskrieg PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

„Institutions do matter“ MOE als Beweis der These Überall dort, wo die Institutionalisierung (vorübergehend) gestört war, verzögerte sich bzw. scheiterte die Konsolidierung der Demokratie Ex-Jugoslawien, Russland, Ukraine, (Polen), (Slowakei) PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Zusammenhang Institutionalisierung / Demokratie Definition von Institutionalisierung: „investment of personalized power into impersonal institutions“ (J. Elster) Definition von institutioneller Konsolidierung: „Existenz sicherer Verfahren, innerhalb derer unsichere politische Entscheidungen produziert werden können, um erfolgreich auf unsichere Umwelten zu reagieren (F. Rüb) PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Zeitpunkt und Voraussetzungen der Verfassunggebung „revolutionäres Zeitfenster“? Legitimitätsvoraussetzungen: - Elitenkompromiss - Inklusives Verfahren der Ausarbeitung - Akzeptanz durch das Volk (Referendum?) PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

Verfassung als Rahmen des Regierungssystems Aufbau/Teile einer Verfassung: Präambel, Grundrechtskatalog, Staatsorganisationsbestimmungen, Föderale Ordnung, Finanzverfassung… Institutionelle Grundentscheidungen zur Staatsorganisation: - Parlamentarisch/Präsidentiell - Konsens-/Konkurrenzmodell (- Verhältnis-/Mehrheitswahl) PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 1: Ungarn (1) Alte Staatlichkeit, aber keine Verfassungstradition Wesentliche Rechtsstaats-Errungenschaften seit 1850 de facto verankert Recht als Schlüsselbegriff des paktierten Systemwandels PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 1: Ungarn (2) Mehrere Wellen der Verfassungsrevision anstatt einer (ursprünglich geplanten) Verfassunggebung Bedeutung des Verfassungsgerichts in der Transformationsphase („Unsichtbare Verfassung“) „Revolution der Juristen“ (Paradox??) Elitenkonsens und Inklusion wichtiger als die „Form“ des institutionellen Wandels PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 2: Lettland (2) Mai 1990 Unabhängigkeitserklärung, Parlamentsbeschluss zur Wiedereinsetzung der Verfassung von 1922 (satversme) ABER: Die dort verankerten Staatsorgane z.T. gar nicht (mehr) vorhanden Grundrechtsteil fehlt PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 2: Lettland (2) Wirrwarr zwischen Unabhängigkeit (Dez. 1991) und ersten freien Wahlen (Juni 1993) - sozialist. Verfassung gilt weiter, sofern sie der satversme nicht widerspricht - „Verfassungsgesetz“ zur Ergänzung Staatsbürgerschaftsfrage ungelöst (Gesetz von 1937 wieder eingesetzt) Einheitliches Verfassungsdokument erst seit 1998 Fehlender Elitenkonsens, unklare „Spielregeln“ Hypothek für die demokratische Konsolidierung PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 3: Russland (1) Ab 1990: Überlagerung des Systemwandels durch den Staatszerfall Übernahme der sowjetischen „Halbdemokratisierung“ auf die Ebene der RSFSR 1989-1993: sozialistische Verfassung von 1978 gilt weiter, einzelne Verfassungsänderungen und Verfassunggebungsprozess laufen parallel  über 150 Änderungen, großer Wirrwarr  Beispiel: Art. 3 (neu) Gewaltenteilung, Art. 104 (alt): „Parlament“ als „oberstes Verfassungsorgan“ mit Generalkompetenz PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 3: Russland (2) Doppelherrschaft zwischen Staatspräsident Jelzin (1991 direkt vom Volk gewählt = demokratische Legitimität) und Parlament (nach geltender Verfassung allein für die Verfassunggebung zuständig = formale Legalität) wechselseitige Blockade, Diskreditierung der neuen demokratischen Ordnung bereits vor ihrer Institutionalisierung Okt. 1993: Verfassungsrechtlicher Neuanfang nach gewaltsamer Auflösung des Parlaments als Sieg der MACHT über das RECHT PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime

PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime Beispiel 3: Russland (3) Fehlender Elitenkonsens Exklusion statt Inklusion wichtiger gesellschaftlicher Kräfte bei der Verfassunggebung Akzeptanz durch das Volk fragwürdig (Referendum mit niedriger Beteiligung und äußerst knapper Zustimmung) PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime