Psychologische Diagnostik und Begutachtung von Univ-Prof Dr Reinhard Haller, Gerichtspsychiater, Feldkirch/Vorarlberg
Ü B E R S I C H T Teil I: Kriminologie Gefährlichkeit von Menschen mit psychischen Störungen Teil II: Psychologisch-psychopathologische Diagnostik Teil III: Begutachtungskunde
Gefährlichkeit von Menschen mit psychischen Störungen Teil I: Kriminologie Gefährlichkeit von Menschen mit psychischen Störungen
D I E V E R B R E C H E N S B E G R I F F E soziologischer strafrechtlicher Natürlicher Verbrechens- begriff
Heute werden biopsychosoziale, ganzheitliche und integrative K R I M I N A L I T Ä T S T H E O R I E N biologische psychologische soziologische Heute werden biopsychosoziale, ganzheitliche und integrative Ansätze bevorzugt.
„Verbrechertypen” (nach Cesare Lombroso, 1899)
Delinquenzmodelle nach FREUD (1915) und ADLER (1931) Ödipuskomplex Unbewusstes, prägexistentes Schuldgefühl Strafbedürfnis (bei strengerem Über-Ich) Anknüpfen von Schuldgefühl und Strafbedürfnis an eine konkrete Straftat Seelische Erleichterung durch Bestrafung für die konkrete Straftat (unbewusst für den Ödipuskomplex) Organminderwertigkeit Minderwertigkeitsgefühl Mangelhafte Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls Soziale Entmutigung Überwindungswille Machtstreben Straftat Verbrechen aus Schuldbewusstsein nach S. FREUD Verbrechen aus sozialer Entmutigung nach A. ADLER
A G G R E S S I O N S T H E O R I E N Aggressive Monomanie Hoher Testosteronspiegel Verminderte Impulskontrolle Überkontrollierter Charakter Todestrieb Frustration – Aggression Sündenbock Milgram (1963) Autorisierte Aggression Crowding
Untersuchungsansätze zum Zusammenhang zwischen psychischer Störungen und Kriminalität 1. Hospitalisierte psychiatrische Patienten 1.1 Retrospektive Erfassung des Kriminalverhaltens 1.2 Prospektive Erfassung des Kriminalverhaltens 1.3 Kriminalverhalten während der Hospitalisierung 2. Inhaftierte 2.1 Untersuchungshäftlinge 2.2 Strafhäftlinge 2.3 „Mörder“ 3. Untergebrachte psychisch kranke Rechtsbrecher 4. Geburtenkohorten
95%-Konfi-denzintervall Risiko eines Mordes oder Totschlages bei psychisch erkrankten Männern im Vergleich zur männlichen Allgemeinbevölkerung (nach Angermeyer & Schulze, 1998) Diagnose Rate in % Odds ratio 95%-Konfi-denzintervall Angststörungen 1 1,5 0,3 0,2 – 0,5 Dysthymie 1 1,4 0,6 0,3 – 1,0 Geistige Behinderung 1 1,2 0,9 – 2,2 Major Depression 1 3,0 1,6 1,1 – 2,4 Schizophrenie ohne Alkoholismus 2, 4 3,7 7,2 5,4 – 9,7 Alkoholismus 1 39,2 10,7 9,4 – 12,2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung 1 11,3 11,7 9,5 – 14,4 Alkoholismus und früher begangene Morde oder Totschläge 3 -,- 13,3 8,9 – 20,0 Schizophrenie mit Alkoholismus 2 2,9 17,2 12,4 – 23,7 Schizophrenie und früher begangene Homizide 3 25,8 9,6 – 69,6 1 Eronen et al 1996 a 2 Eronen et al 1996 c 3 Eronen et al 1996 b 4 geschätzt
TWENTY-THREE PERCENT of the patients engaged in physical aggression against other people during hospitalization. Assaultive patients were overrepresented in the diagnostic categories of schizophrenia, mania, and organic psychotic conditions. Mc Niel D. E., Binder R. L. (1994)
Motive für sexuell aggressives Verhalten Die Ausübung von Macht und Kontrolle Der Ausdruck von Ärger und Hass Die Gruppendynamik bei einer Vergewaltigung durch mehrere Täter Sexuelle Bedürfnisse im eigentlichen Sinn
Typologie sexueller Gewalttäter neurotisch-aggressionsgehemmte und depressive Täter dissoziale egozentrische Täter sexuell deviante (oft sadistisch veranlagte) Täter
(John Steinbeck) „Es gibt Leute unter uns, die in Erlebniswelten leben, die wir niemals betreten können“ (John Steinbeck)
Typologie der Serienmörder: (nach Holmes und De Burger, 1985) visionäre missionarische hedonistische Macht / Kontrolle - orientierte
Spezifische Kennzeichen von Serientötungen: (nach Holmes und De Burger, 1988) Wiederholungszwang Taten ohne Zeugen Täter und Opfer kennen sich nicht Keine Motive wie Bereicherung, Provokation, Affekt intrinsische, tiefenpsychologisch ergründbare Motive
Einteilung der Sexualmörder (1): 1. Organisierter Typus: - genaue Planung der Tat - hohes Maß an Vorsicht - Kontrolle über Situation und Opfer - Opfer meist unbekannt - Ergreifungschancen gering - keine Traumatisierungen in der Kindheit - stabiles Primärmilieu - sozial angepasst, aufrechte Partnerbeziehung - jahrelange sadistische Phantasien - Verstimmungen und psychosomatische Störungen vor der Tat Entspricht dem Typus der „destruktiven Dynamik“
Einteilung der Sexualmörder (2): 2. Desorganisierter Typus: - Tat ungeplant - Opfer häufig bekannt - Tötungen sind abrupte Durchbrüche destruktiver Impulse - sexuelle Akte eher nach der Tötung - frühe Verwahrlosungssymptome - multiple Delinquenz - soziale Instabilität - meist ohne Partnerschaft lebend - sexuelle gehemmt - vorausgehende narzisstische Spannungen Entspricht dem Typus der „destruktiven Dynamik“
Verbindung zwischen Narzissmus und Sadismus 1. Macht und übersteigertes Selbstwertgefühl 2. Gefühllosigkeit 3. Destruktivität, Wut, Aggressionspotential (gegen Frauen) 4. Spaltung
Definition – Maligner Narzissmus: (Kernberg, 1985 / 1996) narzisstische Persönlichkeitsstörung antisoziales Verhalten paranoide Haltung ich-syntone Aggression oder Sadismus
S C H L U S S F O L G E R U N G E N Zwischen schweren psychischen Störungen und Gewalttätigkeit besteht eine moderate, aber zuverlässige Assoziation Zusätzlicher Substanzmissbrauch und comorbide Persönlichkeitsstörungen erhöhen das Risiko deutlich Umfassende psychiatrische Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen reduzieren das Risiko deutlich Der rechtliche Unterbringungsrahmen ist ein bedeutsamer modifizierender Faktor Innerhalb der Gesamtgruppe der Gewalttäter stellen Psychotiker eine sehr kleine Größe dar
psychopathologische Diagnostik Teil II: Psychologisch- psychopathologische Diagnostik
Einteilung der psychologischen Testverfahren Fragebogentests Projektive Testverfahren Leistungstests 3.1 Intelligenztests 3.2 Allgemeine Leistungstests 4. Eignungstests
Kategorie der psychologisch-psychopathologischen Befunderhebung (1) Allgemeinerscheinung, „outfit”, Kleidung, Körperpflege, Gestik, Mimik, Physiognomie Äußeres Erscheinungsbild Verhalten in der Untersuchungssituation Sprechen und Sprache Auftreten, Auskunftsbereitschaft, Kooperation, Simulation, Dissimulation, interaktionelles Verhalten Klang, Modulation, Sprechstörungen (Stammeln, Stottern, Sprachverständnis und Ausdrucksvermögen)
Kategorie der psychologisch-psychopathologischen Befunderhebung (2) Bewusstsein quantitative und qualitative Störungen Orientierung zeitlich, örtlich, situativ und zur Person Auffassung Sinnesfunktionen, Aufmerksamkeit, Konzentration Intelligenz Normbereich, intellektuelle Minderbegabung, Oligophrenie, Genialität
Kategorie der psychologisch-psychopathologischen Befunderhebung (3) Gedächtnis Kurz-, Mittel- und Langzeitgedächtnis (Vergesslichkeit) Formales Denken Verlangsamung, Hemmung, Umständlichkeit, Weitschweifig-keit, Kohärenz, eingeengtes Denken, Perseveration, Grübeln, Gedankendrängen, Ideenflucht, Zerfahrenheit, Vorbeireden, Sperrungen, Gedankenabreißen, Neologismen Inhaltliches Denken Zwang, Phobien, Hypochondrie, überwertige Ideen, Wahn
Kategorie der psychologisch-psychopathologischen Befunderhebung (4) Ich-Gefühl Depersonalisation, Gedankenausbreitung, -entzug, -eingebung, Beeinflussungserlebnisse, Derealisation Sinnestäuschungen Illusionen, Halluzinationen Stimmung und Affektivität Gefühl der Gefühllosigkeit, Affektarmut, Störungen der Vitalge- fühle, Depressivität, Hoffnungslosigkeit, Ängstlichkeit, Euphorie Dysphorie, Insuffizienzgefühle, gesteigertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Verarmungsgefühle, Ambivalenz, Parathymie, Affektlabilität, Affektdurchlässigkeit, (-inkontinenz), Affektstarre
Kategorie der psychologisch-psychopathologischen Befunderhebung (5) Antrieb und Psychomotorik Antriebsarmut, -gehemmtheit, -steigerung, motorische Unruhe, Parakinesen, Hyperkinesen, Akinese, Hypokinese, Stupor, Raptus, Manieriertheit, Mutismus, Logorrhoe Biorhythmusstörungen Morgen- oder Abendtief, jahreszeitliche Verschlechterung Sonstige Merkmale Aggressivität, Suizidalität, Krankheitseinsicht, Sozialverhalten Suchtverhalten, vegetative Störungen
Hauptpunkte des psychopathologischen Befundes Störungen des Bewusstseins der Orientierung von Aufmerksamkeit, Konzentration, Auffassung der Intelligenz von Gedächtnis und Erinnerung des formalen Denkens und Sprechens der Denkinhalte (Wahn) des Ich-Gefühls der Wahrnehmung (Illusionen und Halluzinationen) von Stimmung und Affekt von Antrieb und Psychomotorik Suizidalität Vegetative Störungen
Teil 3: Begutachtungskunde
Probleme der Gutachterrolle Neutralität versus therapeutische Grundhaltung Stellung im Verfahren („Beweismittel“, Unparteilichkeit) Vermitteln zwischen zwei parallelen Denksystemen Fehlen einer gemeinsamen Sprache Kompetenzstreit Ermessensspielraum
Aufbau des Gutachtens (1) Adressierung an die auftraggebende Stelle Personalien des zu Untersuchenden und Aktenzahl Auftragserteilung und Fragestellung Darlegung der Untersuchungsgrundlagen Auszüge aus den Akten und medizinische Unterlagen Allgemeine Exploration: - Familienanamnese (Heredität) - Medizinische Anamnese - Biographie - „Innere Lebensgeschichte“ - Tatschilderung / Vorfallsschilderung / Leidensangaben
Aufbau des Gutachtens (2) 7. Befunde: - Psychischer Befund - Testpsychologie - Körperlicher Befund - Zusatzbefunde (Labor, EEG, Röntgen, CCT, MRI...) 8. Toxikologische Befundung: - Berechnung der Blutalkoholkonzentration zur Vorfallszeit - Verwertung etwaiger Harnanalysen auf Drogen usw 9. Gutachterliche Beurteilung 10. Zusammenfassung
PSYCHOLOGISCHES STOCKWERK „BIOLOGISCHES STOCKWERK“ Schritte des gutachterlichen Vorgehens Symptom Juristische Kategorie PSYCHOLOGISCHES STOCKWERK „BIOLOGISCHES STOCKWERK“ Medizinisch-psychiatrische Diagnose Vorgeschichte (Biographie, Anamnese, Milieu Med. Zusatzbefunde (EEG, CCT, Labor) Primärpersönlichkeit Testpsychologie Syndrom
Die wichtigsten psychopathologischen Syndrome Syndrome der Bewusstseinstrübung (Amnesie, Dämmerzustand) Rauschsyndrome Verwirrtheitszustand / Delirantes Syndrom Neurasthenisches Syndrom Hirnorganisches Syndrom Depressives Syndrom Manisches Syndrom Halluzinatorisches Syndrom Wahnsyndrom Residuales Syndrom Oligophrenes Syndrom
§ 11 StGB - Zurechnungsfähigkeit Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen Schwachsinns, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft.
§ 287 StGB - Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung Wer sich, wenn auch nur fahrlässig, durch den Genuss von Alkohol oder den Gebrauch eines anderen berauschenden Mittels in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt, ist, wenn er im Rausch eine Handlung begeht, die ihm außer diesem Zustand als Verbrechen oder Vergehen angerechnet würde, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen. Die Strafe darf jedoch nach Art und Maß nicht strenger sein, als sie das Gesetz für die im Rausch begangene Tat androht. Der Täter ist nur auf Verlangen, auf Antrag oder mit Ermächtigung zu verfolgen, wenn die im Rausch begangene mit Strafe bedrohte Handlung nur auf Verlangen, auf Antrag oder mit Ermächtigung zu verfolgen ist.
Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nach der psychiatrischen Krankheitslehre I. KÖRPERLICH BEGRÜNDBARE STÖRUNGEN Psychosen nicht zurechnungsfähig Organische Persönlichkeitsveränderungen eingeschränktes Dispositionsvermögen
Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nach der psychiatrischen Krankheitslehre II. ENDOGENE PSYCHOSEN Akute schizophrene und nicht zurechnungsfähig affektive Psychosen Symptomfreie Intervalle und eingeschränktes leichte Residualzustände Diskretions- und Dispositionsvermögen
Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit nach der psychiatrischen Krankheitslehre III. PSYCHISCHE VARIATIONEN Schwachsinn, leichtere Formen eingeschränkt diskretionsfähig (intellektuelle Minderbegabung und Debilität) Schwachsinn, schwerere Formen nicht diskretionsfähig (Imbezillität und Idiotie) Persönlichkeitsstörungen eingeschränktes Dispositionsvermögen Abnorme Erlebnisreaktionen zurechnungsfähig (mit Ausnahme der tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen) Sexuelle Deviationen im Allgemeinen zurechnungsfähig Suchterkrankungen zurechnungsfähig, eingeschränktes (mit Ausnahme der qualitativ und Dispositionsvermögen quantitativ abnormen Rauschzustände)
Hauptmerkmale der Affektdelikte nach Sass (1983) Spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit Konstellative Faktoren Abrupter, elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenz Charakteristischer Affektauf- und –abbau Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe Missverständnis zwischen Tatanstoß und Reaktion Erinnerungsvermögen Persönlichkeitsfremdheit Störungen der Sinn und Erlebniskontinuität
Tatmerkmale, die gegen eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sprechen können Aggressive Vorgestalten in der Phantasie Ankündigung der Tat Aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit Vorbereitungshandlungen für die Tat Konstellierung der Tatsituation durch den Täter Fehlender Zusammenhang Provokation – Erregung – Tat Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufes vorwiegend durch den Täter Lang hingezogenes Tatgeschehen Komplexer Handlungsablauf in Etappen Erhaltene Introspektionsfähigkeit bei der Tat Exakte, detailreiche Erinnerung Zustimmende Kommentierung des Tatgeschehens Fehlen von vegetativen, psychomotorischen und psychischen Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung
Werner W. verrechnete sich. FI-Schalter reagierte in Hundertstelsekunden. Vorarlberg, St Gallenkirchen, 1.12.1988: Es war nicht der erste Ehekrach. Doch an diesem Abend gingen bei Werner W. die Sicherungen durch. Er warf den laufenden Fön in die Badewanne, in der seine junge Frau (19) saß. Doch womit er nicht gerechnet hatte: Sein FI-Schalter von Schrack reagierte innerhalb von 4/100 Sekunden und unterbrach damit den Stromkreis in der Wohnung. (Vorarlberg Kurier vom 5. Dezember 1988). Der Sachverständige Ing Wilhelm Brugger aus Thüringen dazu: „Der im Haus der Familie W. installierte FI-Schalter 40-4-0 1A von Schrack hat so rasch ausgelöst, dass der jungen Frau kein körperlicher Schaden zugefügt wurde.“ Auch in den kleinsten Geräten von Schrack stecken große technische Leistungen, die Menschenleben schützen! Wer an Utopien nicht glaubt, muss sie realisieren.
§ 21 Abs 1 StGB - Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann er nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB) begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde.
§ 21 Abs 2 StGB - Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (2) Liegt eine solche Befürchtung vor, so ist in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher auch einzuweisen, wer, ohne zurechnungsfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die Unterbringung zugleich mit dem Ausspruch über die Strafe anzuordnen.
§ 22 Abs 1 StGB - Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher Wer dem Missbrauch eines berauschenden Mittels oder Suchtmittels ergeben ist und wegen einer im Rausch oder sonst im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung begangenen strafbaren Handlung oder wegen Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung (§ 287 StGB) verurteilt wird, ist vom Gericht in eine Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung an berauschende Mittel oder Suchtmittel eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen oder doch mit Strafe bedrohte Handlungen mit nicht bloß leichten Folgen begehen werde.
Prognoseverfahren Intuitive Prognose: Gefühlsmäßige Erfassung des Täters, keine methodische Vorgehensweise, eher „Prophezeiung“ (Dahle, 2000). Statistische Methode: Anhaltspunkt für „Basisrisiko“ auf dem sich die individuelle Einzelfallbeurteilung aufbaut. Klinische Prognose: Entspricht einer „Kriterienorientierten strukturierten Risikokalkulation (Dittmann, 2000). Kriterienkataloge: Wesentliche anamnestische und klinische Aspekte als potenzielle Beurteilungsfaktoren, denen keine generelle Wertigkeit zukommt. Entscheidungsrelevante Faktoren werden nicht übersehen. Prognoseinstrumente: Historische Parameter werden mit klinischen Kriterien und Aspekten der Perspektive zu einem Prognosescore verrechnet (Webster, 1995).
Beantwortung unterschiedlicher prognostischer Fragestellungen Einweisungsprognose: Vorhersage der generellen Wahrscheinlichkeit eines kriminellen Rückfalls Behandlungsprognose vor und während der Unterbringung: Vorhersage, ob bei dem Betroffenen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls durch eine Therapie deutlich verringert wird Lockerungsprognose während der Unterbringung: Vorhersage, ob es während Lockerungen zu (k)einem Zwischenfall kommen wird Entlassungsprognose nach einer Entlassung: Vorhersage der Unwahrscheinlichkeit eines Rückfalls
Struktur der gutachterlichen Überlegungen bei Prognosegutachten A. Ausgangsdelikt B. Prädeliktische Persönlichkeit C. Postdeliktische Persönlichkeits- entwicklung D. Sozialer Empfangsraum
A. Ausgangsdelikt Statistische Rückfallwahrscheinlichkeit (Basisrate) Situative Eingebundenheit des Delikts Ausdruck einer vorübergehenden Krankheit Zusammenhang mit der Persönlichkeit Motivationale Zusammenhänge
Basisrate für kriminelle Rückfälle Tötungsdelikte nach Mord: 0 - 6 % Infantizide / Neonatizid sehr selten Brandstiftung 4 - 11 % Körperverletzung 21,9 - 31,5% Häusliche Gewalt 17,2 % Raub 35 - 50 % Sexualdelikte behandelte Täter 13 - 27,5 % unbehandelte Täter bis 35 % Kindesmissbrauch 13 - 51 % Inzest 4 - 13,2 % Exhibitionismus 32 - 77,6 %
B. Prädeliktische Persönlichkeit Krankheitsentwicklung und Faktoren einer Fehlentwicklung Soziale Integration Lebensspezifische Umstände (Pubertät, Adoleszenz etc) Art und Dauer von krankhaften Verhaltensauffälligkeiten
C. Postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung 1. Anpassung 2. Nachreifung 3. Entwicklung von Coping-Mechanismen 4. Umgang mit bisheriger Delinquenz 5. Persistieren deliktspezifischer Persönlichkeitszüge 6. Aufbau von Hemmungsfaktoren Folgeschäden durch Institutionsalisierung
D. Sozialer Empfangsraum 1. Arbeit 2. Unterkunft 3. Soziale Beziehungen 4. Kontrollmöglichkeiten 5. Konfliktbereiche, die rückfallgefährdende Situationen wahrscheinlich machen 6. Verfügbarkeit von Opfern
Merkmale in der revidierten Psychopathie-Checkliste (PCL-R) Trickreich sprachgewandter Blender mit oberflächlichem Charme Erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl Stimulationsbedürfnis (Erlebnishunger), ständiges Gefühl der Langeweile Pathologisches Lügen (Pseudologie) Betrügerisch-manipulatives Verhalten Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein Oberflächliche Gefühle Gefühlskälte, Mangel an Empathie Parasitärer Lebensstil 10. Unzureichende Verhaltenskontrolle
Merkmale in der revidierten Psychopathie-Checkliste (PCL-R) Promiskuität Frühe Verhaltensauffälligkeiten Fehlen von realistischen, langfristigen Zielen Impulsivität Verantwortungslosigkeit Mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen Viele kurzzeitige ehe(ähn)liche Beziehungen Jugendkriminalität Missachtung von Weisungen und Auflagen Polytrope Kriminalität
Gesundheitsbezogene Maßnahmen im Sinne des § 11 Abs 2 SMG (§ 39 Abs 3 SMG) • Z 1: Ärztliche Überwachung des Gesundheitszustandes einschließlich Harnkontrollen • Z 2: Ärztliche Behandlung einschließlich der Entzugs- und Substitutionsbehandlung • Z 3: Klinisch-psychologische Beratung und Betreuung • Z 4: Psychotherapie • Z 5: Psychosoziale Beratung und Betreuung durch qualifizierte und mit Fragen des Suchtgiftmissbrauchs hinreichend vertraute Personen
Therapiemaßnahmen bei Drogenproblemen (1) Ambulante Beratung: • Probier- und Gelegenheitskonsum Ambulante Therapie: • Schädlicher Gebrauch „leichter Drogen” • Episodische Erfahrungen mit „harten Drogen” • Stützung von Abstinenzphasen Stationäre • Abhängigkeit von Cannabis, Kokain, Kurzzeittherapie: Amphetaminen • Kurzdauernde Abhängigkeit von Opiaten • Suchtverlagerung auf legale Substanzen
Therapiemaßnahmen bei Drogenproblemen (2) Stationäre • Mehrjährige Polytoxikomanie Langzeittherapie: • Längerdauernde Opiatabhängigkeit • Schwere Persönlichkeitsstörung • Wesensänderung • Soziale Desintegration Substitutions- • Langjährige Opiatabhängigkeit Therapie: mit gescheiterten Therapieversuchen • HIV • Kriterien gemäß Erlass
§ Jugendgerichtsgesetz (JGG) § 4 Abs 2 Z 1 JGG [Verzögerte Reife] Ein Jugendlicher, der eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, ist nicht strafbar, wenn 1. er aus bestimmten Gründen noch nicht reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln,... §
§ Marburger Richtlinien zur Reifebeurteilung (1) Realistische Lebensplanung versus Leben im Augenblick Eigenständigkeit gegenüber den Eltern versus starkes Anlehnungsbedürfnis und Hilflosigkeit Eigenständigkeit gegenüber der Peer-Gruppe und dem Partner versus starkes Anlehnungsbedürfnis und Hilflosigkeit Ernsthafte versus spielerische Einstellung gegenüber Arbeit und Schule Äußerer Eindruck §
§ Marburger Richtlinien zur Reifebeurteilung (2) Realistische Alltagsbewältigung versus Tagträumen, abenteuerliches Handeln, Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen Gleichaltrige oder ältere versus überwiegend jüngere Freunde Bindungsfähigkeit versus Labilität in den mitmenschlichen Beziehungen oder Bindungsschwäche Integration versus Eros und Sexus Konsistente berechenbare Stimmungslage versus jugendliche Stimmungswechsel ohne adäquaten Anlass (Esser, 1991) §
Häufigste Fehlerquellen bei forensisch- psychiatrischen Gutachten (1) A. Fehlerquelle ANAMNESE a) Unvollständige Exploration b) Nichteinbeziehung früherer Krankengeschichten und Gutachten c) Thematische Beschränkung der Anamnese und Aktenstudium d) Erhebung von Fehldaten B. Fehlerquelle BEFUNDE a) Kein psychiatrischer / psychologischer Befund b) Unvollständige Befunde: Tests, EEG c) Widersprüche d) Vermutungen (Psychoanalyse)
Häufigste Fehlerquellen bei forensisch- psychiatrischen Gutachten (2) C. Probandenbezogene ABWEHRHALTUNG a) Vorwürfe b) Verdächtigungen c) Einseitige Materialauswahl (§ 21 Abs 2 usw) d) „Verdammungsurteil“ D. Perzeption von PROZESSROLLEN a) Übersteigertes „Gehilfentum“ b) Anklagendes Interesse c) Tatermittelndes Interesse d) Richtendes Interesse
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Foto: Krankenhaus Maria Ebene Quelle: Univ-Prof Dr Reinhard Haller Grafik & Gestaltung: Margit Halbeisen