Entwicklungspsychologie für Lehrer Die intellektuelle Entwicklung im Schulkindalter
Inhalt der Veranstaltung Intelligenzentwicklung nach Jean Piaget Kognitive Veränderungen im Schulkindalter: Wahrnehmung Entwicklung der Begriffsbildung Entwicklung des Gedächtnisses Intelligenz und Denken
Literaturhinweise Hackfort, Dieter (2003): Studientext Entwicklungspsychologie 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag. Kap II. Keller, Gustav (2000): Schulische Entwicklungspsychologie. Donauwörth: Auer Verlag. Kap. 4.4 Oerter, Rolf (Hrsg.) (2002): Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz Verlag. (Präsenzbestand Uni-Bibliothek) Rossmann, Peter (1996): Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters. Bern: Hans Huber Verlag. Kap. 10.2. Sander, Elisabeth: Skript-Auszug
Intelligenzentwicklung nach Jean Piaget
Intelligenzentwicklung nach Jean Piaget Stufenförmige Intelligenzentwicklung: Sensumotorik (1. Lebensjahr) Voroperatorisches-anschauliches Denken (2.-7. Lebensjahr) konkrete Operation (7.-11. Lebensjahr) formal-logisches Denken (ab 11. Lebensjahr)
Sensumotorische Intelligenz praktische Intelligenz Kleinkind lernt Wahrnehmung & Motorik miteinander zu koordinieren Kleinkind kann nur verstehen, was sich „begreifen“ & bewegen lässt
Sensumotorische Intelligenz Unterteilung in 6 Stufen: Übung angeborener Reflex- mechanismen: (1. Monat) Säugling ausgerüstet mit angeborenen Reflexen & Sinnesorganen
Sensumotorische Intelligenz 2. Primäre Kreisreaktionen: (1.- 4. Monat) Wiederholung von Handlungen, die zu einem angenehmen Ergebnis führen Erste Gewohnheiten bilden sich aus Generalisierende Assimilation
Sensumotorische Intelligenz 3.Sekundäre Kreisreaktionen: (4.-8.Monat) Differenzierung von Mittel und Zweck Entdeckung: bestimmte Handlungs-weisen führen immer zum selben Ergebnis Motorisches Erkennen
Sensumotorische Intelligenz 4. Koordinierung erworbener Handlungs-schemata & Anwendung auf neue Situationen: (8.-11.Monat) Anwendung mehrerer Handlungsschemata auf den gleichen Gegenstand Differenzierung der Handlungsschemata Anpassung der Handlungsschemata auf den Gegenstand
Sensumotorische Intelligenz 5. Tertiäre Kreisreaktionen: (1-1 ½ Jahren) Entdeckung neuer Handlungsschemata durch aktives Experimentieren Systematisches Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten
Sensumotorische Intelligenz 6. Übergang von sensumotorischer Intelligenz zur Vorstellung: (1 ½ -2 ½ Jahre) Werkzeugdenken Ergebnisse der eigenen Handlungen werden antizipiert (2 ½ Jahren) Handlungen werden innerlich vollzogen Aha-Erlebnis
Entwicklung der Darstellungs- und Symbolfunktion Entdeckung der Objektpermanenz: (6.-8. Monat) Erkenntnis - Gegenstand existiert auch dann noch, wenn man ihn nicht sieht Kinder beginnen nach einem versteckten Gegenstand zu suchen
Entwicklung der Darstellungs- und Symbolfunktion Entdeckung der Objektpermanenz
Entwicklung der Darstellungs- und Symbolfunktion Nachahmungsverhalten: Handlung wird nachgeahmt, wenn sie innerlich repräsentiert ist Symbolhandlung: Objekt / Handlung wird durch ein Zeichen oder Symbol ersetzt z.B. Schlafen spielen
Voroperatorisches - anschauliches Denken Charakteristika: 1.Denken und Urteilen in Analogien 2. Animistische Weltdeutungen: Vorstellung des Kindes alle Dinge, Objekte seien belebt Vorstellung der Personifizierung, Beseelung, phantastische Belebungen der Erscheinungen in Natur und Gesellschaft
Voroperatorisches - anschauliches Denken 3.Denken durch eingeschränkte Beweglichkeit und fehlendes Gleichgewicht charakterisiert 4. Finalistische Erklärungen: Objekten werden menschliche Züge, Verhaltensweisen zugeschrieben
Voroperatorisches - anschauliches Denken 5. Egozentrismus: Unvollständige Unterscheidung zwischen Selbst & Außenwelt Tendenz die Welt aus eigener Perspektive wahrzunehmen
Voroperatorisches - anschauliches Denken Demonstration egozentrischer Wahrnehmung: 3-Berge-Versuch
Voroperatorisches - anschauliches Denken Mengenbegriff: Fehlen des Begriffs der Mengenkonstanz im Vorschulalter = Mengeninvarianz Umschüttversuche Piagets mit 4-5 jährigen Kindern
Voroperatorisches - anschauliches Denken Prüfung der Einsicht in die Invarianz der Menge bei Operationen des Umfüllens
Konkret-operatives Denken Denken löst sich vom unmittelbar Anschaulichen Operationen beziehen sich jedoch auf Gegenstände, die das Kind sieht Denkoperationen werden nach logischen Regeln ausgeführt
Neue Fähigkeiten im konkret-operativen Stadium Einsicht in die Umkehrbarkeit konkreter Operationen Reversibilität (Fähigkeit Handlungen nicht nur konkret, sondern auch in der Vorstellung umzukehren) Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division Bilden von Rangreihen
Neue Fähigkeiten im konkret-operativen Stadium Durchführung von Mengenoperationen & Einsicht in die Mengeninvarianz (Umschüttversuch) Invarianzbezüge bei Anzahl, Länge, Fläche können hergestellt werden
Neue Fähigkeiten im konkret-operativen Stadium Experiment der Klasseninklusion Bilder von 5 Erwachsenen / 3 Jungen / 5 Mädchen Präoperatives Stadium = noch kein System der Klassenverschachtelung Konkret-operatives Stadium =Einsicht, dass Objekte gleichzeitig mehreren Kategorien angehören, welche in logischen Beziehungen stehen
konkret-operativen Stadium Neue Fähigkeiten im konkret-operativen Stadium Material zur Prüfung der Einsicht in die Klasseninklusion
Formal-operatives Denken Denken geht über vorgefundene / gegebene Informationen hinaus Denkstrukturen anwendbar auf abstrakte, hypothetisch deduzierte Beziehungen Formulieren von Hypothesen & Überprüfung dieser Aufbau binatorischer Strukturen = Basis systematischer Hypothesenbildung & planvollen Experimentierens
Formal-operatives Denken Experiment mit 2 binären Variablen: Biegung einer Angelrute (schwache, starke Biegung) in Abhängigkeit von der Länge (lang, kurz) 4 Kombinationen der Ausprägungen beider Variablen denkbar 16 mögliche Abhängigkeiten (16 binäre Operationen) = logische Beziehung welche die 2 Variablen theoretisch eingehen können
Formal-operatives Denken Pendelversuch: Faktoren von denen die Frequenz eines Pendels abhängt = Gewicht / Länge
Formal-operatives Denken Pendelversuch: Dimensionen Gewicht & Länge
Formal-operatives Denken Unterschiedliche Problemerfassung: Präoperatives Stadium = nur eine Dimension wird beachtet Konkret-operatives Stadium = Kind kombiniert bereits mehrere Faktoren Formal-operatives Stadium = Loslösung von konkret-beobachtbaren Fällen sieht diese als zwei von vier möglichen Kombinationen der Variablen Gewicht & Länge
Kritik an Piagets Theorie Unterschätze Kompetenzen: Kinder viel früher zu kognitiven Leistungen fähig als von Piaget angenommen Kausales Denken von Vorschulkinder ähnelt dem Erwachsener Mehr Fähigkeiten angeboren als vermutet
Kritik an Piagets Theorie Stufenförmige Entwicklung Asynchrone Entwicklung zum Stadienkonzept häufig vorzufinden Vernachlässigung sozialer, kultureller & historischer Faktoren
Kognitive Veränderungen im Schulkindalter Charakteristische Strukturveränderung: Größere Selbständigkeit Größere Distanz vom Eigenerleben Größere Komplexität der Lernprozesse Größere Fähigkeit zur Strukturierung / Planung Zunehmende Abstraktionsfähigkeit Zunehmende Bedeutung der Sprache bei Wissenserwerb und Problemlösung
Kognitive Veränderungen im Schulkindalter kognitive Struktur = menschliches Informationsaufnahme- und Verarbeitungssystem Synonyme Bezeichnung = Gedächtnis
Kognitive Veränderungen im Schulkindalter Unterscheidung versch. Funktionsbereiche innerhalb der Struktur: Wahrnehmung (Input) Begriffsbildung Einpräge- & Abrufvorgänge Informationsverarbeitungsvorgänge (Kurzzeit- & Langzeitspeicher) Prozess der Handlungssteuerung (Output)
Wahrnehmung Wahrnehmungsprozesse haben Selektionscharakter Enge Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmungsentwicklung & intellektuelle Entwicklung
Wahrnehmung Neue Grundhaltung in Wahrnehmungs-prozessen: Kritisch, analysierend und auf Details gerichtet Ausdauernd und verstärkt gelenkt bzw. geplant Zunehmend von augenblicklicher Bedürfnislage abstrahierend Zunahme des Einsatzes ökonomischer Wahrnehmungsstrategien (Blickbewegungsexperiment)
Wahrnehmung Differenzierende, analysierende Wahrnehmung = Voraussetzung für Erlernen des Lesens, Schreibens & elementaren Rechnens Zunehmende Raumorientierung Allmähliche Loslösung der Zeitwahrnehmung von räumlicher Gebundenheit an anschauliche räumliche Ordnungen
Entwicklung der Begriffsbildung Begriffe: Grundlage des Denkens & Sprechens (Denken in Begriffen) Abstrahierende & selektive Modelle der Wirklichkeit
Entwicklung der Begriffsbildung Funktionen von Begriffen: Mittler zwischen einströmenden Reizen & Handlung des Individuums Ordnung (Schema, Plan) der kognitiven Struktur operative Schemata mit denen die Welt aktiv erkundet wird Selektionscharakter
Entwicklung der Begriffsbildung Denken erfordert innere Vergegenwärtigung / Repräsentation von Inhalten Bruner: Entwicklung der begrifflichen Repräsentation Unterscheidung in 3 Repräsentationsformen: Handlungsmäßige / aktionale Repräsentation Bildhafte / ikonische Repräsentation Symbolische Repräsentation
Entwicklung der Begriffsbildung Handlungsmäßige, aktionale Repräsentation: Erste Erklärungsschema (Anfang des kindlichen Begriffs) Be-greifen Bildhafte / ikonische Repräsentation: Allmähliche Lösung von der, an unmittelbare Handlung gebundene Repräsentation
Entwicklung der Begriffsbildung Symbolische Repräsentation: erste Anfänge im 2. Lebensjahr Sprache erleichtert symbolische Repräsentation Fähigkeit zur Abstraktion erleichtert Erwerb von Wissen & Lösung von Problemen
Entwicklung der Begriffsbildung Entwicklungsschritte: 1. perzeptuelle Begriffsbildung (Gruppierung nach wahrnehmbaren Gegenstandsmerkmalen) Bildhafte, anschauliche Art der Begriffsklärung Banane & Apfelsine = beide gelb
Entwicklung der Begriffsbildung 2. relationale Begriffsbildung (vom Eigenerlebnis bestimmt) funktionale Ordnungspunkte Banane & Apfelsine sind beide essbar
Entwicklung der Begriffsbildung 3. Bildung von Oberbegriffen Mit zunehmenden Verständnis für Oberbegriffe = Zunahme des strategischen Gebrauchs von Begriffen bei Problemlösungen Bsp. Berufe-raten = vom Raten zur systematischen Eingrenzung
Entwicklung des Gedächtnisses Erheblicher Anstieg der Gedächtnisleistung im Laufe des Schulkindalters Einprägung des Lehrstoffes durch Herstellung von Sinnbezügen Voraussetzung: Sinnzusammenhang des Inhalts muss Entwicklungsstand des Kindes entsprechen & kognitiv erfassbar sein
Entwicklung des Gedächtnisses Flavell (Harvard Universität USA) Entwicklung von Gedächtnisstrategien: Erkenntnis: ab gewissen Alter spontane Verwendung von Methoden des Einprägens Vorschulkinder: kein spontanes Einsetzen von Einprägungsstrategien Wandel - nicht beim Gedächtnis – sondern bei Strategien des Einprägens & Abrufens
Verschiedene Gedächtnisstrategien Wiederholen (von Zahlen, Wörtern, Vokabellernen) Kategorisierung (Gruppieren und organisieren nach logischen oder anderen Gesichtspunkten) Kodieren, Enkodieren (Etikettieren) Kodieren = zentrale Leistung für das Behalten enthalten in allen genannten Gedächtnisstrategien
Verschiedene Gedächtnisstrategien Herausfiltern der Hauptidee Nutzung von Hinweisen (cues) beim Reproduzieren (z.B. Oberbegriff, Kerngedanke suchen) Elaboration (7 5 3 – Rom kroch aus dem Ei) Herstellung einer Verknüpfung zwischen den Begriffen Bildung von Superzeichen (chunking) Einprägen des Wortes WIND durch einen Analphabeten und einen geübten Leser)
Entwicklung des Gedächtnisses Production-deficiency-Hypothese: schlechtere Gedächtnisleistung jüngerer Kinder zurückzuführen auf schlechtere spontane Nutzung von Gedächtnisstrategien
Entwicklung des Gedächtnisses Aufgabe der Schule: Gedächtnisstrategien vermitteln & Anleitung zur Nutzung metakognitiver Aktivitäten Metakognition / Metagedächtnis = Das Wissen über das eigene Denken (eigene kognitive Prozesse) Aufbau des Metagedächtinisses = Voraussetzung für Gedächtnisentwicklung
Entwicklung der Intelligenz & des Denkens Intelligenzleistung bleibt im Laufe der Entwicklung nicht konstant Intelligenztest - teilweise wenig Aufschluss über individuelle Leistungsfähigkeit (Insbesondere vor dem 4. Lebensjahr)
Entwicklung der Intelligenz & des Denkens Förderung / Erziehungseinfluss: Infantildeterminismus = Bloom: Umwelteinflüsse & pädagogische Fördermaßnahmen nur in früher Kindheit wirksam – in späteren Lebens-abschnitten keine Einflussmöglichkeiten
Entwicklung der Intelligenz & des Denkens These Bloom´s kann nicht bestätigt werden: Individuelle Leistungsveränderungen auf unterschiedliche Erziehungseinflüsse zurückzuführen Spezielle Förderung des abstrakten Denkens & Problemlösens auch im Schulkindalter effektiv