Grundlagen der Toxikologie / Desinfektionsmittel Vorlesung Pharmakologie für Zahnmediziner Universitätsmedizin Göttingen 30. November 2009 Herbert Desel
Toxikologie - Die Wurzeln toxicon / toxicum Pfeilgift (chemischer Kampfstoff, Herodot: seit 3. Jt. vor Chr. bei den Skythen) „Gift“? engl.: Gabe, Geschenk (!) chemischer Stoff, das unerwünschte Wirkung (Schädigung, Funktionsstörung) im Körper hervorruft (alternative Bezeichnung: toxisches Agens)
Gegenstand der Toxikologie: Vergiftung (Intoxikation): Aufnahme eines toxischen Agens (Reichl et al. 2007) der Prozess des schädlichen (toxischen) Einwirkung von Agens auf den Organismus Mechanismus molekular, zellulär, organbezogen zugehöriges Krankheitsbild (Roche Lexikon Medizin)
Gegenstand der Toxikologie: Agens (Noxe, Gift) Schaden Symptome Kausalität Kausalität
Toxikologische Grundbegriffe toxisches Agens chemischer Fremdstoff (Xenobioticum) Kontakt: Exposition Lebewesen Mensch 1. Welcher Schaden ist möglich? Toxizität (Stoffeigenschaft) 2. Wie groß oder wie wahrscheinlich ist ein zu erwartender Schaden? Vergiftungs-Risiko qualitativ (Zielorgan) quantitativ im Standard- test
Paracelsus (1493-1541)
Paracelsus 1493 - 1541 “Wenn Ihr jedes Gift richtig erklären wollet, was ist dann kein Gift? Alle Dinge sind Gift, nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.” Exposition: Dosis, Expositionspfad, Expositionsmuster
Übung zur Risikobewertung Natriumchlorid auf Frühstücksei Heroin i.v. in Überdosis Wasser bei Marathonlauf Acrylamid in Pommes frites
Toxikologische Risikobewertung Gefährdung niedrig Gefährdung hoch Exposition gering geringes Risiko (NaCl in der Nahrung) ? (z. B. Acrylamid in Kartoffelchips) Exposition hoch (Wasser beim Marathonläufer) hohes Risiko (Heroin-Überdosis)
weitere wichtige Grundbegriffe Toxikokinetik Aufnahme (Resorption), Verteilung, Umwandlung und Ausscheidung von Stoffen (Giftung = metabolische Aktivierung) Toxikodynamik Beschreibung der Wirkungen (molekular, zellulär, organbezogen, klinisch)
Bedeutung der Toxikologie Toxikologische Untersuchungen sind vorgeschrieben vor der Vermarktung von Arzneimitteln, Tierarzneimitteln Medizinprodukten Nahrungsmittelzusätzen Pflanzenschutzmitteln, Bioziden Kosmetika Chemikalien (REACH)
wichtige toxikologische Untersuchungsmethoden akut-toxische Wirkung: „LD50“ Chronisch-toxische Wirkung: „NOAEL“ no observed adverse effect level Cancerogenität Mutagenität Reproduktionstoxikologische Wirkungen Hautverträglichkeit Sensibilisierungspotential Toxikokinetik Abbaubarkeit (Ökotoxikologie)
Vergiftungsrisiken heute (Todesfälle pro Jahr in Deutschland, gerundete Zahlen) 140.000: Tabakrauch (Lungenkrebs, Herzinfarkt u.a.) 55.000: Arzneimittel-Therapie, Komplikationen 40.000: chronischer Alkoholkonsum 8.000: Dieselruß (Lungenkrebs, koronare Herzkr.) 4.000: Ozon (Atemwege, Herz-Kreislauf) 2.000: Östrogen-Ersatztherapie (Brustkrebs) 1.500: Asbest (Brustfellkrebs u.a.) 1.400: illegaler Drogenkonsum ca. 500: Brandgase (Lungenödem, zentrales Atemversagen) ca. 100: Chemikalien, Pestizide, Kosmetika
Allergische Sensibilisierung Fehlprägung des Immunsystems durch Erstkontakt mit einzelnen chemischen Stoffen (4 Wochen) bei wenigen der Exponierten ohne klinische Symptome starke allergische Reizung-/Entzündungsreaktion bei allen Folgekontakten
Allergietypen nach Gell und Coombs (1963) Clinical Aspects of Immunology. London: Blackwell Soforttyp-Reaktion (Typ 1): Rötung der Haut, Urtikaria, Schwellung der Schleimhaut (Quincke-Ödem) Flush, Nasensekretion, Bronchialverengung, Vasodilatation (anaphylaktischer Schock) Therapie: Adrenalin ...
Allergietypen nach Gell und Coombs (1963) Clinical Aspects of Immunology. London: Blackwell Reaktion vom verzögerten Typ (Typ 4): allergisches Kontaktekzem (= allergische Kontaktdermatitis): Entzündung mit Pruritus, Verhornungsstörung
Toxikologie der Desinfektionsmittel
Desinfektionsmittel Vermindern die Dichte pathogener Bakterien auf Oberflächen auch Haut und Schleimhaut durch toxische Wirkung auf Zielorganismen möglichst geringe toxische Wirkungen auf Patienten
Chemische Wirkprinzipien und Wirkstoffe stark oxidierende Wirkung durch Bildung reaktiver Sauerstoffverbindungen (z. B. Singulett-Sauerstoff = 1O2) chlorhaltige Agenzien, Peroxide medizinischer Nebeneffekt: Oxidation von Häm, Entfärbung bei Blutungen Protein-denaturierende Wirkung Verdrängung von Wasser in Protein durch Alkohole (ca. 70 %) unspezifische Wirkmechanismen!
Oxidierende Mittel Natriumhypochlorit-Lösung (2,5 -5,0 %) z. B. Wurzelkanalspülung, infizierte Wunden Chlorhexidin (0,12 - 0,15 %) Mundspülung Povidon-Iod (Poly(1-vinyl-2-pyrrolidon)-Iod-Komplex 7,5 %) Mundantiseptikum Wasserstoffperoxid (3 %) Ozon (!)
Toxikokinetik Oxidationsmittel: wegen hoher Reaktivität am Anwendungsort wenig Absorption schnelle Diffusion ins Gewebe (H2O2) Elimination durch Reaktion mit Blutbestandteilen PVP-Iod: Freisetzung von Iodid kurze biologische Halbwertszeiten
Toxizität I Toxische Gefahren am Ort der Einwirkung Lokale Reizung von Schleimhaut oder Haut Rötung, Schwellung, Schmerz oder Anaesthesie nach Verschlucken: Übelkeit und Erbrechen H2O2: Gewebs-Emphysem (weiße Verfärbung) Verätzung Gewebsnekrose (Verätzung, an der Schleimhaut: weiße Verfärbung) Ulcera nach Verschlucken: Perforation
Toxizität II Toxische Gefahren nach Absorption Systemische Akutwirkungen nach Absorption (Resorption) Methämoglobinämie Oxidation Häm-Fe2+ Häm-Fe3+ Hämolyse PVP-Iod: thyreotoxische Krise bei Schilddrüsen-Erkrankung, z. B. Euthyreote Struma
2-Propanol (=Isopropanol) Alkohole Ethanol 1-Propanol 2-Propanol (=Isopropanol) 60-80 %ige Lösungen
Toxikokinetik Alkohole: Schnelle und vollständige Absorption nach Aufbringen auf die Haut oder Schleimhaut Verteilung im wässrigen Milieu schnelle Überwindung der Blut-Hirn-Schranke Elimination durch Metabolismus in der Leber (Ethanol zu Acetat, 2-Propanol zu Aceton)
Toxizität I Toxische Gefahren am Ort der Einwirkung Lokale Reizung von Schleimhaut oder Haut Rötung, Schwellung, Schmerz oder Anaesthesie nach Verschlucken: Übelkeit und Erbrechen keine Verätzung
Toxizität II Toxische Gefahren nach Absorption Systemische Akutwirkungen nach Absorption (Resorption) Euphorie, Sedation, Koma Ethanol: Hypoglycämie Isopropanol: arterielle Hypotonie Chronische Wirkungen Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung (Ethanol) viele verschiedene Folgeerkrankungen
Risikobewertung I für alle Desinfektionsmittel Bei Desinfektionsmittel-Anwendung in sachgerechter Verdünnung in sachgerechter Dosierung in sachgerechter Anwendungsweise sind allenfalls minimale toxische Wirkungen zu erwarten CAVE: Iod-Unverträglichkeit
Risikobewertung II für alle Desinfektionsmittel Bei nicht sachgerechter Desinfektionsmittel-Anwendung Verwechslungen Infiltration ins Gewebe wg. Verwechslung mit Lokalanästhetikum Unfällen können (auch schwere) Vergiftungen entstehen, deren Art stark von den verwandten Wirkstoffen und den Expositionsumständen abhängt
Veranstaltungsvorschau SS 2010 Seminar „Klinische Toxikologie“ mittwochs 16:00-17:30 Uhr im Giftinformationszentrum-Nord Vorstellung akuter Vergiftungen (Toxikologie, Diagnostik, Therapie)