Einführung in die Angewandte Ethik PD Dr. Thomas Schramme 14.4.05 Gliederung: Vorstellung des Programms Was ist angewandte Ethik? Gibt es moralische Experten?
Programm: Bioethik 21.4. Geschichte, Krankheit/Gesundheit, Enhancement 28.4. Prinzipien der Medizinethik, medizinische Selbstbestimmung/informed consent, Verhältnis Patient-Arzt 5.5. Feiertag 12.5. Lebensbeginn/Status des Embryos, Reproduktionsmedizin 19.5. Tötungsverbot, Schwangerschafts-abbruch, Sterbehilfe/Euthanasie 26.5. Feiertag
2.6. Gerechtigkeit, Rationierung, Organtransplantation 9.6. Anti-Bioethik, Behindertenbewegung, Anti-Psychiatrie, Biomacht Naturethik 16.6. Der Natur folgen? Natürlichkeit als Wert 23.6. Biozentrismus/Pathozentrismus/ Anthropozentrismus, intrinsischer Wert der Natur? Tierethik Gewalt, Terror, Krieg 30.6. Pazifismus, Humanitäre Intervention 7.7. Terrorismus
Was ist angewandte Ethik übliche Unterscheidung: Metaethik allgemeine (normative) Ethik angewandte (spezielle) Ethik
→ aber: keine strikte Trennung möglich und sinnvoll "angewandte Ethik" = Reflexion über moral. Fragen in verschiedenen Bereichen des menschlichen Handelns; Oberbegriff für die Bereichsethiken (Medizinethik, ökologische Ethik…); verschiedene Fragestellungen, die auch Methodologie und Status von Urteilen betreffen
moralische Urteile benötigt auf partikularer Ebene (soll Patient X wiederbelebt werden?) genereller Ebene (darf man Krieg zur Verteidigung der Menschenrechte führen?) abstrakter Ebene (verfügt die Natur über einen eigenständigen Wert?)
Wie gewinnt man Antworten auf moralische Fragen? top-down: deduktiv (ausgehend von Axiomen; Prinzipien; Theorien); "Technikermodell" bottom-up: Orientierung an paradigmatischen Fällen (Kasuistik)
Probleme des top-down-Ansatzes: abstrakte Prinzipien zu unspezifisch (Bsp. Menschenwürde) mögliche Normkonflikte Interpretation von Prinzipien erst im Lichte von konkreten Fällen Moraltheorien (Prinzipien) selbst umstritten
Probleme des bottom-up-Ansatzes: keine allgemeingültigen Aussagen Induktionsproblem keine Urteilsverlässlichkeit und Stetigkeit Intuitionen als entscheidender Faktor
→ beide Richtungen wichtig: Revision und Spezifizierung von allgemeinen Prinzipien im Lichte konkreter Fälle und Änderung der Bewertung konkreter Fälle, wenn sie Prinzipien zuwider laufen
→ Kohärentismus: Gleichgewicht zwischen moralischen Prinzipien wohlüberlegten individuellen moralischen Überzeugungen (Intuitionen) Hintergrundtheorien (auch empirische)
Wer soll über moralische Fragen entscheiden? Gibt es Moralexperten?
Probleme der These von den Moralexperten: Gibt es moral. Tatsachen? Sind moral. Urteile wahrheitsfähig? moralisches Erkenntnisvermögen? de facto Relativismus Anti-demokratisch? ("Philosophenkönige") jeder Mensch ist zu moral. Überlegungen fähig (jeder kann Standpunkt der Moral einnehmen)
Moral stammt vom Menschen selbst, nicht aus externen Quellen (Religiöse Überzeugungen sind nicht allgemeinverbindlich) → wenigstens hypothetische (Mit)Entscheidung eines jeden über Regelungen in verschiedenen Handlungsbereichen
Aber: Ethik-Experten statt Moral-Experten denkbar → ethische Expertise genaueres Verständnis des (meist sehr komplexen) Problems Suche nach Ansätzen, die bei Lösung des Problems helfen können Suche nach am besten begründeter Auffassung dazu Vertrautheit mit bekannten Moraltheorien nötig
Benötigte Fähigkeiten der Experten (prakt. Wissen statt theoret Benötigte Fähigkeiten der Experten (prakt. Wissen statt theoret. Wissen): Begriffsverständnis Argumente, Widersprüche, Implikationen von Sichtweisen verstehen und darlegen Hintergrundwissen über ethische Theorien Unparteilichkeit Einfühlungsvermögen Wissen über relevante Fakten
sollen ethische Experten entscheiden oder nur Auswahl sinnvoller, begründeter Optionen liefern? → hängt vom Kontext ab (endgültige Entscheidungsfindung in klinischen Einzelfällen benötigt; bei Gesetzesfragen: eher Empfehlungen durch Kommission)
Konsensfindung in pluralistischen Gesellschaften: Enquete-Kommissionen Ethikkommissionen klinische Ethikkomitees Bürgerkonferenzen verfolgen jeweils verschiedene Absichten; Mitglieder benötigen jeweils spezifische Fähigkeiten
Resümee: Angewandte Ethik ist keine bloße Technik der Übertragung einer Moraltheorie auf Fälle Es gibt keine Moralexperten, aber Experten für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen