Einführung in die Sprachvermittlung

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
VERB KONJUGATION (Regular Verbs)
Advertisements

Deutsch als plurizentrische Sprache
ReLv Rechtschreiben erforschen- Lesen verstehen Gütersloh
Die Plural.
Tina John Mehrfache Ketten in Sprachdatenbanken. Mehr als eine Kette wird benötigt wenn wir nicht alle Ebenen miteinander assoziieren wollen. zB möchten.
FH-Hof Extensible Markup Language Richard Göbel. FH-Hof Extensible Markup Language XML XML ist universeller Ansatz für die Strukturierung von Zeichenketten.
Mikro und Makroprosodie
1. Satzbetonung, Töne, und Grundfrequenz
Prosodie und Intonation: ein Überblick
Die Prosodie Jonathan Harrington Felicitas Kleber.
Was sind die unterschiedlichen Vorhersagen der Quantal Theory (QT) und der Theory of Adaptive Dispersion (TAD) bezüglich der Verteilung der Vokale in den.
Seminarthema: Morphosyntaktische Analyse
Grundkurs Linguistik Programm der Vorlesung Oktober
Einführung in die Sprachvermittlung
Einführung in die Sprachvermittlung
Einführung in die Sprachvermittlung
Einführung in die Sprachvermittlung
Einführung in die Sprachvermittlung 3. Die Module der Sprache
Optimierung von Volltextindices
Kategoriale Wahrnehmung
Mehrsprachigkeit aus psycholinguistischer Sicht
Gedanken zum ersten Versuch einer VWA, also der LFA der 7B 2013/14.
Verfahren zur Stammformreduktion
DENKEN.
GRAMMATIK DEKLINATION.
Was siehst du?-- Ich sehe ____ Mann und _____ Hund/ Hunde.
Die Deklination der Substantive im Singular
Pluralbildung der Substantive
SUBSTANTIVE.
find out .... who? Wer sind Sie? Wie heißen Sie? Wie ist Ihr Name?
GERMAN 1013 F1 Kapitel 2 1.
TRANSAKTIONEN (Transaktionsanalyse)
Germanische Sprachen und Kulturen/2.
Wortbildung: Grundlagen, Klassen von Affixen
SUBSTANTIVE Kind), Dingen und Begriffen (Liebe, Freundschaft)
Übung zu Einführung in die LDV I
Pluralbildung Com formar el plural en alemany Aina Pujol Ferrà apfD11013 v.1.2.
Internationale Frankfurter Sommerkurse 2005
Entwicklung Schreiben
Auslösung von Gewalt und Angstzustand
SUBSTANTIVE Kind), Dingen und Begriffen (Liebe, Freundschaft)
SEMANTISCHE KLASSIFIKATION DER SUBSTANTIVE
Nominalphrase Vorlesung 4
Theoretischer Hintergrund Systematische Wortschatzarbeit –
KLASSIFIZIERUNG DER VERBEN NACH MORPHOLOGISCHEN KRITERIEN
Übung zu Einführung in die LDV I
Sommersemester 2015 Dr. Ileana-Maria RATCU
Wie erwerben/lernen Kinder Sprache(n)?
Grammatikalische Begriffe im Unterricht
EINFÜHRUNG IN DIE MORPHOLOGIE Morphologie = Formenlehre
Grundzüge der Morphologie des Deutschen Hilke Elsen ISBN: © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Abbildungsübersicht / List of.
Inhalt Einordnung und Funktion der lexikalische Analyse Grundlagen
IB+IA Anfänger Structura limbii Sommersemester 2015 Dr. Ileana-Maria Ratcu.
Rechtschreibung.
Lexikalische Semantik
Adjectivendungen GRM 314.
Was ist Lyrik.
2. Vorlesungseinheit: Grammatik-Übersetzungsmethode
Kognitive Methoden  Als eine Auseinandersetzung mit der behavioristischen Lerntheorie Skinners  entsteht in den späten 60-er Jahren eine Verbindung.
Die Negation kein, keine, kein = Artikel und Negation von Substantiven
Thema 4: Das Wort als linquistische Grundeinheit Teil 1. Das Wort als sprachliches Zeichen.
S UBSTANTIV K ATEGORIEN DES S UBSTANTIVS P RÄPOSITION T EMPORALE P RÄPOSITIONEN Sklenárová Simona 2014/ Bc.
Die Kategorie der Bestimmtheit/ Unbestimmtheit
1) Das Wort als sprachliche Grundeinheit; 2) Das Problem der Grundeinheit der Sprache 3) Die Definition des Wortes;
VORLESUNG 1 Sprachbau Sememe Sätze Redeteilen Wortformen Wortgruppe Morpheme (Begriffe)
VO#3: Aspekte der Bedeutung Semantik I Matej-Bel-Universität in Banská Bystrica Zuzana Tuhárska.
Der Numerus des Substantivs Conf dr. Ileana-Maria RATCU
Sommersemester 2016 Dr. Ileana-Maria RATCU
ALLES UM ADJEKTIV.
Das Nomen. Das Namenwort / das Nomen Das Nomen gehört zur großen Gruppe der Haupt- oder Namenwörter und bezeichnet Personen oder Dinge. Nomen haben entweder.
 Präsentation transkript:

Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Ist die Wort-und-Regel-Theorie universell gültig? Universalien der Sprache (248f.) Sprachtypologie: Klassifizierung von Sprachen nach ihrer Struktur Ausgangsfrage: Abkopplung der Regularität von der Häufigkeit? (254) Beispiele: Pluralbildung in Deutsch, Niederländisch / Französisch, Ungarisch, Arabisch, Hebräisch / Klassifikatoren von Nomina in Chinesisch und Arupesh (Neuguinea)

Sprachtypen isolierend: jedes Morphem bildet ein eigenes Wort, auch Grammatische Morpheme wie „Präteritum“, „Plural“ oder „Steigerung“ werden mit eigenen Wörtern ausgedrückt agglutinierend: „anklebend“: grammatische Bedeutung werden jeweils in eigenen Suffixen an die Stämme angehängt flektierend: grammatische Bedeutung werden durch Suffixe oder Stammänderungen ausgedrückt; ein Morphem kann verschiedene Funktionen haben (Synkretismus); in einem Morphem können verschiedene Funktionen gleichzeitig ausgedrückt sein (-st = 2.Person+Singular)

Sprachtypen und Sprachwandel agglutinierend flektierend isolierend kombinierend analytisch = zerlegend synthetisch = zusammensetzend 1SG+geh+PRÄT 1SG+ geh-PERF geh-PRÄT-1S geh.PRÄT.1SG 3 Wörter 2 Wörter 1 zergliederb. 1 nicht–zerglie- Wort derb. Wort wo xing le bin gegangen git-ti-m ging Chinesisch Deutsch Türkisch Deutsch

Universalgrammatik Idee einer angeborenen Grammatik, die allen Menschen gemeinsam ist Problem: wie kann Sprachverschiedenheit erklärt werden (warum haben Chinesen keine morphologischen Gene? S. 283) Trennung von allgemeinen Universalien (Prinzipien) und sprachspezifischen Ausprägungen (Parameter) Pinker: abgeschwächte Theorie der Universalgrammatik: nur sehr allgemeine Prinzipien, z.B. Wörter und Regeln – Thema: Welcher Regelbegriff?

Regelbegriffe Regel als Mehrheitsfall, nach dem sich die meisten Wörter einer Kategorie richten Kann immer auch aufgrund der Häufigkeit der Fälle durch Analogien und Muster erschlossen werden. „Menschen richten sich, wie Miusterassoziatoren , nach Zahlen oder Häufigkeiten.“ (254) (stützt konnektionistische Theorie) Regel als Default: „…Flexionsmuster, das die Sprecher auf beliebige Wörter einer Kategorie anwenden können, auch wenn das betreffende Wort nie mit diesem oder irgendeinem anderen Muster im Gedächtnis gespeichert worden ist.“ (253) = psychologische Definition (257)

Pluralbildung im Deutschen   + Umlaut: -e -e + Umlaut -er -er + Umlaut -(e)n -s der Daumen – die Daumen die Mutter - die Mütter der Hund – die Hunde die Kuh – die Kühe das Kind – die Kinder der Wald – die Wälder die Straßen – die Straßen das Auto – die Autos „Die Autoren von deutschen Sprachbüchern haben heldenhafte Anstrengungen unternommen, in dieses Durcheinander eine Ordnung zu bringen, doch… gibt es mehr Gegenbeispiele als Beispiele.“ (S. 263)

Verteilung des s-Plurals s-Plural: nur 4% der Nomina (von 25.000 types) Häufig bei Fremdwörtern Häufig bei Eigennamen Im Lexikon auch in Nachbarschaft von anderen Pluralsuffixen (Schecks – Flecken, Labels – Kabel, Relings – Ringe) Akronyme: PC‘s, GmbH‘s Fehlen im Innern von Komposita Häufig an zweisilbigen Nomina mit Vollvokal in der 2. Silbe = Präferenz für nicht kanonische Stämme des Deutschen! (263-269)

Erklärungen des s-Plurals Pinker / Wunderlich Minority Default Einzige reguläre Form Einzige produktive Form Übertragung anderer Pluralformen auf Pseudowörter wegen Assoziatismus Köpcke / Eisenberg / Bybee Ein Schema neben mehreren Schemata Mehrere reguläre Formen Mehrere produktive Formen Übertragung bei Pseudowörtern folgt zugrundeliegenden Schemata

Vergleich: engl. Präteritum / deutscher Plural Default (-ed) = häufigste Form Nur reguläre Form produktiv Nur reguläre Form Suffix, irreguläre Formen nur stammverändernd S-Plural relativ seltene Form Mehrere produktive Formen (-en, -e) Überwiegend Suffigierung (Stammveränderung marginal) Sprachtypologisch sehr unterschiedliche Fälle. Pinkers Erklärung wird hier vielfach infrage gestellt. Die Kritik hat Rückwirkungen für den Regelbegriff!

Eisenberg, Peter: Grundriss der deutschen Grammatik Eisenberg, Peter: Grundriss der deutschen Grammatik. Band I: Das Wort, S. 158

Systematik der Pluralformen nach Eisenberg S-Plural nicht beliebig, sondern bevorzugt an Wörter mit Vollvokal (vV) in der unbetonten zweiten Silbe (1= Pinker 8) Pluraltyp an Genusunterscheidung gebunden (Fem / Mask+Neut) Bei Mask außerdem Unterscheidung von starker (3) und schwacher Flexion (4) -en ist regulär für Feminina, (2+4 = Pinker 7) -e für Maskulina und Neutra (3 = Pinker 3/4) [Umlaut lexikalisch geregelt!] Wortbildungssuffixe (auch bei Fremdwörtern) nehmen –en (Feminina) oder –e (Maskulina) -heit / -keit / -ung / -(er)ei / -tion / -tät // -ling

Systematik der Pluralformen II Markierte (irreguläre) Formen verhalten sich spiegelbildlich zu unmarkierten (reguläre): (4) - schwache Maskulina (auf Konsonant oder auf -e) nehmen –en (n) (5) - einsilbige Feminina nehmen –e [immer mit Umlaut, Teilgruppe von Pinker 4] (6) – einsilbige Neutra dominieren bei –er [immer mit Umlaut! Pinkers Gruppen 5+6 fallen zusammen, wenn man die phonologische Umlautregel berücksichtigt ]

Phonologisches Kriterium der Pluralbildung Pluralformen enden zweisilbig mit Betonung auf der ersten Sil-be (Trochäus: Einheit von betonter (S‘) u.unbetonter Silbe (S0)) einsilbige Feminina der Gruppe (2) bilden daher immer silbischen Plural (-en) zweisilbige Feminina der Gruppe (2) bilden Plural nur mit (-n) einsilbige starke Maskulina und Neutra (3) bilden Plural auf –e Maskulina auf –e bilden Plural mit –n (schon zweisilbig) S‘ S0 A R A R N E H u n d e B ü ch er

Irreguläre Pluralformen Mutter / Tochter: einzige Feminina, die nur mit Umlaut Plural erzeugen; größer ist Gruppe der Maskulina (Pinkers Gruppe 2) Maskulina auf Pseudosuffix (-er, -el): ohne Pluralmarkierung (konform mit Silbenregel) (Pinkers Gruppe 1) Maskulina mit –er-Plural (kleine Gruppe) (in Pinkers Gruppe 6) Lexikalisierter Umlaut in Gruppe 3 (nur Maskulina: Bach – Bäche neben Schaf – Schafe) (in Pinkers Gruppe 4) FAZIT: Nur ein kleiner Teil der Nicht-s-Plurale im Deutschen ist in demselben Sinne wie bei den Präteritumsformen irregulär und daher Teil des Lexikons!

Signalstärke der Pluralmarkierungen „Salienz ist die Bestimmung des Ausmaßes, mit dem eine morphologische Markierung vom Hörer identifizierbar ist, also ihre akustische Prominenz.“ „Signalvalidität meint die Frequenz, mit der ein bestimmtes Merkmal in der Kategorie auftaucht, die mit der Zielkategorie kontrastiert.“ Köpcke, Klaus-Michael: Schemata der Pluralbildung im Deutschen. Tübingen 1993, S. 82

Signalstärken der Pluralsuffixe (Köpcke) Markie-rung Salienz Type Fre-quenz Token Frequenz Validität Silben-bildend -(e)n -s -e -er Umlaut + - +/- + / - Salienz: Suffixe sind wahrnehmbarer als Stammveränderungen (Umlaut). (??) Validität: -s und –n selten Endung im Singular  –e / -er auch dort häufig

Pseudowortexperiment: Sprecher behandeln alle Suffixe (bis auf –lein) zu 90% und mehr als regulär: „der Klirmling / die Schergung / das Quettchen…“ Nomina auf Schwa (Woge, Hase) erhalten in sehr hohem Maße den –n-Plural „der Knumpe“ „die Muhre“ Köpcke, 1993, S. 184

Pseudowortexperiment: Nomina auf Vollvokal: Generalisierung von –s etwas niedriger; Alternative: Generalisierung von –n mit Vokalausfall: Pizza – Pizzen / Pizzas Köpcke, 1993, S. 184 4. Nomina mit Pseudosuffix: -en: Endungslosigkeit dominant bei Maskulina / Neutra auf –en („Wagen“), -er (Koffer“), bei –el („Säbel“) etwas schwächer. Endung –n bei Feminina auf –el („Gabel“) ; nicht regelkonform: Feminina auf –er („Kiefer“)

Pseudowortexperiment: Einsilbige Nomina: Größter Einfluss irregulärer / konkurrierender regulärer Muster: a) Maskulina: stark 59% vs. schwach 21% Übergeneralisierung von -en b) Feminina: Sogwirkung der Familie: Hand / Hände (27%) c) Neutra: Sogwirkung der Familie: Tuch / Tücher (14%); Übergeneralisierung von –en; -e- Suffix eher untergeneralisiert Köpcke, 1993, S. 184

Deutsche Plurale und die Wort- und Regeltheorie Erklärung des s-Defaults unbefriedigend Reines Auswendiglernen oder Muster-Assoziieren der anderen Formen nicht bestätigt Regularisierung von –en als stärkstes Pluralaffix (neben Ausbreitung des –s) Relative Stabilität von –e (zur Herstellung von Zweisilbigkeit) Einzelne Familiencluster mit irregulären Formen wirken assoziativ (-er; Umlaut+ -e) „Multiple Regularitäten“ / Regeln eines mittleren Abstraktionsgrades