Wie zuverlässig sind auditive Analysen von Versprechern?

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 Präsentation transkript:

Wie zuverlässig sind auditive Analysen von Versprechern? Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung Hauptseminar: Die phonetische Analyse von Sprechfehlern Dozent: Prof. Dr. Jonathan Harrington Referentin: Sabine Barfüßer Sommersemester 2007 04.07.07

Verfahren zur Sammlung von Versprechern Natürliche Versprecher: On-line: Aufschreiben des Versprechers direkt nach dessen Wahrnehmung Off-line: Sammlung mit Hilfe von Tonaufzeichnungen Experimentell eingeleitete Versprecher

Ansatz von J. P. Stemberger Vergleich von natürlich auftretenden Sprechfehlern und experimentell eingeleiteten Sprechfehlern

Vergleich von Studien bei denen die selbe Fragestellung mit entweder natürlichen oder experimentell eingeleiteten Versprechern untersucht wurde In den meisten Fällen führte Beides zu dem selben Ergebnis In einigen widersprüchlichen Fällen war ein Ergebnis signifikant, das Andere nicht (null result). In 3 Fällen wurden unterschiedliche Ergebnisse erzielt → Können auf die unterschiedliche Aufgabenstellung zurückgeführt werden

Versprecher die unter natürlichen Bedingungen gesammelt wurden sind verlässlich →Ihre Ergebnisse können bei experimentellen Studien zu Versprechern wiederholt werden

Schlussfolgerungen Die experimentell gesammelten Daten zu Versprechern zeigen: Daten die unter natürlichen Bedingungen gesammelt wurden sind valide Wahrnehmungsfehler können ausgeschlossen werden Unter natürlichen Bedingungen gesammelte Daten zu Versprechern zeigen: Experimentell gesammelte Daten entsprechen gut der natürlichen Sprache

Ansatz von Rosa Ferber Studie: Datenmaterial von spontanen Versprechern wird auf seine Genauigkeit überprüft

Der Fachausdruck „Slip of the Tongue“ Keine genaue, zufrieden stellende Definition Häufigste Definition: „an unintended, nonhabitual deviation from a speech plan“ Bei Ferber 3 Kriterien zur Identifizierung eines Versprechers: Korrekte Äußerung muss vorhanden bzw. rekonstruierbar sein Nicht-korrekte Äußerung muss vollständig vorhanden sein Der Versprecher muss Hinzufügung, Auslassung, Ersetzung, Verschiebung, Vertauschung oder Vermischung von Einheiten, oder Mischung dieser Möglichkeiten sein

Mögliche Fehlerquellen bei der Sammlung von Versprechern Fehler während der Aufzeichnung Versprecher werden nicht erkannt Versprecher werden vergessen Unterscheidung Versprecher oder andere Redefluss-Störung wird zu langsam oder falsch getroffen Zeitmangel bei Anhäufung von Versprechern

Mögliche Fehlerquellen bei der Sammlung von Versprechern Fehlerhafte Aufzeichnung: Versprecher werden falsch wahrgenommen Es wird sich falsch an Versprecher erinnert Versprecher werden falsch notiert

Mögliche Fehlerquellen bei der Sammlung von Versprechern Fehlerhafte Klassifikation Versprecher werden falsch notiert Kontext der Versprecher wird falsch notiert Kontext der Versprecher ist ungenügend

Methode Material: Diskussionsrunde im Radio, ein Moderator, vier Teilnehmer Beim ersten Hören normales notieren der Versprecher 3 Versuchspersonen (Erfahren in Versprechersammlung) erhalten das Tonband und notieren Versprecher on-line → 4 on-line Verschriftungen zu den Versprechern in dieser Diskussion

Methode Anschließend off-line Verschriftung der Versprecher durch die Autorin Eliminieren falscher slips (laut Kriterien) in on-line Transkriptionen Vergleich: on-line Ergebnisse und off-line Ergebnis

Methode: Vergleich 1. cp: Versprecher in Äußerung, Versprecher notiert fn: Versprecher in Äußerung, kein Versprecher notiert fp: Kein Versprecher in der Äußerung, Versprecher notiert 2. Bei cp: Unterscheidung: Versprecher richtig transkribiert Versprecher falsch transkribiert 3. Wenn möglich: Einordnung der Versprecher in phonemisch, lexikalisch, grammatisch

Ergebnisse Off-line Analyse: 92 Sprechfehler, 51 davon slips Zwischen 14% und 50% der Versprecher wurden gefunden

Ergebnisse Ca. die Hälfte der gefundenen Versprecher wurde falsch protokolliert

Beispiel Versprecher falsch transkribiert Äußerung: in der (vorveri./.eh ? vorverie) ./. vorvorigen Periode Transkriptionen: In der vorvorherigen ./. vorherigen Periode In der ovor ./. vorvorigen Periode Korrekte Äußerung: In der vorvorigen Periode

Ergebnisse Person D hat keinen einzigen phonemischen slip erkannt Person C und D haben die Hälfte der lexikalischen slips erkannt, A und B keinen einzigen → Welche slips notiert werden liegt an den „Vorlieben“ der Versuchsperson → Es scheint keine slips zu geben die leichter zu entdecken sind als Andere Wurden phonemische oder lexikalische Versprecher überhaupt notiert, waren sie stark abweichend → nicht der Fall bei grammatischen Versprechern

Ergebnisse

Schlussfolgerungen Ca. 50 slips in 45 Minuten sind normal → Unmöglich bei einer on-line Transkription alle aufzuschreiben Nur ein Bruchteil der Versprecher wird erkannt, ca. die Hälfte davon wird falsch notiert Es ist nicht möglich bei der Sammlung von Versprechern Produktion und Perzeption auseinander zuhalten →Mit Hypothesen die auf unsicheren Analysen von Versprechern basieren sollte vorsichtig umgegangen werden

Weiterführende Studie von R. Ferber Überprüfen von on-line und off-line Versprecher-Datenbanken bezüglich ihrer Validität und Reliabilität Vergleich nur bezüglich lexikalischer (Phoneme und Cluster betreffend) und phonologischer (Wortstämme, Affixe und Wörter betreffend) Versprecher

On-line Datenbanken: Anteil an phonologischen Versprechern: 17% - 77% Anteil an lexikalischen Versprechern: 17% - 42% Off-line Datenbanken: 13% - 24% 34% - 49%

Schlussfolgerungen Anteil an phonologischen Versprechern schwankt stark, meist sehr hoch Es gibt ein systematisches Problem dabei, bei on-line Datenbanken Versprecher zu sammeln, die nichtphonologische Einheiten enthalten → On-line Datenbanken sind nicht reliabel → Ihre Qualität ist somit stark in Frage gestellt

Röntgenaufnahmen zu Versprechern Beispiel aus Victor J. Bouchers Studie

Röntgenaufnahmen zur Genauigkeit von transkribierten Versprechern Versuchspersonen produzieren: Versprecher A Korrigierte Form B Beabsichtigt richtige Form von A Satz: Nous hausserons nos trois routes – trois voûtes… Nous hausserons nos trois voûtes deux jours

Transkription der Äußerung durch 2 Phonetiker Versprecher: trois voûtes /tRwavut/ Korrektur: trois routes /tRwaRut/ Analyse der Einzelbilder der Röntgenaufnahme für die unterstrichenen Laute

Begründung Daten für Konsonant und Vokal wurden gleichzeitig aktiviert (nicht unabhängig) Die Zunge schießt über die Position für das /u/ hinaus → Es entsteht /R/ statt /v/ → Manchmal sind sich weder Sprecher noch Zuhörer der wahren Natur des Versprechers bewusst

Das „detectability problem“ Ansatz von Anne Cutler Das „detectability problem“

3 Ansätze zur Hypothesenbildung aus Versprecher-Daten „Some errors“ Ansatz. Einige Versprecher sind so beschaffen dass…, also… Beschäftigt sich mit den charakteristischen Eigenschaften von auftretenden Versprechern Bsp.: Vermischung von zwei Wörtern → Bei der Selektion von Wörtern im Zuge der Produktion eines Satzes können 2 Wörter gleichzeitig in Erwägung gezogen werden

3 Ansätze zur Hypothesenbildung aus Versprecher-Daten „More errors“ Ansatz Es gibt mehr Versprecher die so beschaffen sind als so, daher… Beschäftigt sich mit der relativen Häufigkeit mit der bestimmte Versprecher im Datenmaterial auftreten Bsp.: Es tauchen mehr Aticipations als Perseverations auf → Die Aufmerksamkeit des Sprechers ist in die Zukunft gerichtet

3 Ansätze zur Hypothesenbildung aus Versprecher-Daten „No Errors“ Ansatz Keine Versprecher sind so beschaffen, daher… Beschäftigen sich mit Versprechern die nicht auftreten Bsp.: Versprecher die Sätze bilden, welche in der jeweilige Sprache phonologisch inkorrekt sind, treten fast nicht auf →Unmögliche outputs werden herausgefiltert bevor sie geäußert werden

Fehler in der Perzeption Because they can answer inferential questiones Perzipiert: Because they can answer in French… Konsonanten häufiger betroffen als Vokale, unbetonte Silben häufiger betroffen als Betonte Eine Ursache: Bestreben des Hörers Sinn in die gehörte Äußerung zu legen

Auswirkung auf Hypothesenbildung Hypothese („More Errors“): Versprecher enthalten häufiger betonte als unbetonte Silben Aber: Perzeptionsfehler treten häufiger bei unbetonten Silben auf → Das könnte ein Grund dafür sein, dass in den Versprecher Daten Fehler, die unbetonte Silben enthalten, unterrepräsentiert sind

Auswirkung auf Hypothesenbildung Hypothese („More Errors“): Laut-Fehler treten häufiger initial auf, als final Aber: Die initialen Laute eines Wortes vermitteln am meisten Bedeutung Fehler am Wortanfang fallen sofort auf, Fehler in der Wortmitte bleiben eher unentdeckt → Da Versprecher am Wortanfang mehr auffallen, sind sie in den Versprecher-Sammlungen häufiger enthalten

Schlussfolgerungen Es gibt Versprecher die leichter wahrgenommen werden als Andere „Some errors“ Hypothesen sind relativ robust dagegen „More errors“ Hypothesen müssen nicht gänzlich vermieden werden, sind aber anfällig „No errors“ Hypothesen sind sehr unsicher, da sie durch ein Gegenargument zerschlagen werden können

Allgemeine Empfehlungen der Autoren Daten von unter natürlichen Bedingungen gesammelten Versprechern und Daten von unter experimentellen Bedingungen eingeleiteten Versprechern parallel verwenden Mögliche Wahrnehmungs-Fehler und ihre Folgen stets berücksichtigen

Literatur Boucher, V. (1994) Alphabet related biases in psycholinguistic enquiries: considerations for direct theories of speech production and perception, Journal of Phonetics, 22, 1-18. Cutler, A. (1982) The reliability of speech error data. In A. Cutler (Ed.), Slips of the tongue and language production (pp. 7-28). Berlin: Walter de Gruyter/Mouton; also appeared in Linguistics (1981), 19, 561-582 Ferber R. (1991). Slip of the tongue or slip of the ear? On the perception and transcription of naturalistic slips of the tongue. Journal of Psycholinguistic Research, 20 (2), 105 – 122 Ferber, R. (1995)) The reliability and validity of slip-of-the-tongue corpora: a methodological note, Linguistics, 33, 1169 – 1190 Stemberger, J. (1992) The reability and replicability of naturalistic speech error data. A comparison with experimentally induced errors; in Baars, J. (Ed.) Experimental slips and human error: exploring the architecture of volition, pp. 195 – 215 ( Plenum Press, New York 1992)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit