Das Lautwandel-Modell von John Ohala

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 Präsentation transkript:

Das Lautwandel-Modell von John Ohala Jonathan Harrington

Haupteigenschaften Eine enge Beziehung zwischen synchroner Variabilität und Lautwandel. Lautwandel-Analyse kann nur durch die physischen Prinzipien der Sprachproduktion und –perzeption verstanden werden. Dadurch kann (muss) Lautwandel empirisch untersucht werden. Es muss zwischen den Ursprung und die Verbreitung des Lautwandels unterschieden werden Der Ursprung des Lautwandels ist eine Fehlinterpretation des Hörers: Hypo- und Hyperkorrektur. Lautwandel ist nicht kognitiv, nicht phonologisch, und nicht teleologisch (ziellos). Lautwandels ist hörbar und abrupt: dessen Verbreitung kann allmählich sein

1. Synchrone Variabilität und Lautwandel Ohala: ‚Today‘s variability is tomorrow‘s sound change‘

1. Synchrone Variabilität und Lautwandel Viele Gemeinsamkeiten Synchron: Rat geben -> Ra[k] geben Diachron: Latein: adplicare -> Italienisch: applicare Synchron: Kindersprache, Mandarin-Chinesisch: /baNmaN/ -> [ba)ma)] Diachron: Latein: una, Franz. /¿)/

2. Lautwandel, Produktion, Perzeption Physiologische und akustische/auditive Prinzipien gestalten nicht nur synchrone Variabilität, sondern die universellen Eigenschaften und Verteilung der Laute in den Sprachen der Welt. Lautwandel hat seine Wurzeln in genau denselben Prinzipien. Daher um Lautwandel zu verstehen, müssen wir die physischen Prinzipien verstehen, die die Produktion und Perzeption der Sprache ermöglichen. Daher sind empirische Untersuchungen der synchronen Variabilität für Analysen des Lautwandels unentbehrlich.

2. Lautwandel, Produktion, Perzeption Analog zur Geologie… …progress in geology was made by adopting the uniformitarian principle, that the composition of the stars and the earth and the forces and processes that shaped them are the same as the elements and forces that are detectable now Sound change is based on uniformitarianism: variation in speech studied today parallels variation in centuries past.

2. Lautwandel, Produktion, Perzeption Lautwandel-Produktion (Beispiel) die meisten Plosiv-Geminaten sind in den Sprachen der Welt stimmlos (zB Italienisch /fatto/). Lautwandel: mehrere Beispiele, /d:/ -> /t:/. Kein Beispiel /t:/ -> /d:/. Begründung Der subglottale Luftdruck muss höher als der supraglottale sein, damit die Stimmlippen vibrieren, und Stimmhaftigkeit zustande kommt. Wenn der Mundraum geschlossen ist, steigt der supraglottale Luftdruck und die Stimmhaftigkeit wird gelöscht.

2. Lautwandel, Produktion, Perzeption Auditives Prinzip Nasalisierung hat auditiv eine Senkung der Vokalhöhe zur Folge. zB (a) Synthese von [E] (b) Vokal wird nasalisiert, ohne die Formanten zu ändern: wahrgenommen als [Q)] Synchron: Nasalisierte Vokale in den Sprachen der Welt sind eher offen. (also [u)] ist zB selten ) Lautwandel: wenn durch Lautwandel Vokale nasaliert werden, dann senkt sich auch oft die phonetische Höhe. [bRyn] jedoch [bR¿) ] (nicht [bry)]) Franz. ‘braun’ (w) Franz. ‘braun’ (m)

3. Ursprung des Lautwandels nach Ohala

3. Ursprung des Lautwandels Lautwandel wird allzu oft im Rahmen der Vereinfachung der Artikulation interpretiert (also Lautwandel kommt zustande, weil sich Sprecher nicht so viele Mühe geben wollen). Ohalas Kritik: akustische Eigenschaften und der Hörer spielen eine viel bedeutendere Rolle als zuvor vermutet. es ist sehr schwierig, artikulatorische Mühe, oder Vereinfachung der Artikulation zu definieren.

3. Ursprung und Verbreitung des Lautwandels 1. Variation in der Produktion der Sprache verursacht Zweideutigkeiten in der Perzeption der Sprache. 2. Wegen der Zweideutigkeiten macht der Hörer manchmal eine falsche Interpretation des intendierten Lautes. Dies ist der Ursprung eines Mini-Lautwandels. 3. Ob dieser Mini Lautwandel zu einem tatsächlichen (Maxi) Lautwandel wird, hängt von psychologischen und soziologischen Faktoren ab. 1. Und 2: = der Ursprung des Lautwandels. 3: = die Verbreitung des Lautwandels. 1. und 2, und nicht 3, gehören (laut Ohala) zur Phonetik und sollen experimentell untersucht werden.

Wie kommt ein Mini Lautwandel zustande? Im allgemeinen durch eine vom Hörer, falsche Interpretation der Koartikulation. Hypokorrektur Hyperkorrektur Die koartikulatorischen Wirkungen werden versehentlich als intendiert intepretiert Ein intendiertes Merkmal wird vesehentlich der Koartikulation zugeordet.

(der Hörer meint, der Sprecher intendierte /ci/) Hypokorrektur (wird nicht genug korrigiert) Hörer rekonstruiert /ci/ Sprecher intendiert /ki/ Hörer rekonstruiert /ki/ Hörer kennt die koartikulatorischen Regeln und macht sie rückgängig = der Hörer kompensiert für die Koartikulation erzeugt als [ci] [ci] Akustisches Signal

Verbreitung und Etablierung des Lautwandels /k/ wird überall durch /c/ ersetzt, auch in den Kontexten, wo der Ursprung für [c] nicht mehr gegeben ist (/ku/ -> /cu/ usw.)

Hypokorrektur (fortgesetzt) Warum wird nicht korrigiert? Vielleicht korrigieren Kinder nicht, die die komplizierten Koartikulationsregeln noch nicht ganz beherrschen. Es gibt mehrere Beweise aus der Soziolinguistik, dass Lautwandel hauptsächlich wegen junger Leute zustande kommt.

Hypokorrektur (warum wird nicht korrigiert)? Der Kontext, der für die Koartikulation verantwortlich ist, geht allmählich verloren. zB Sprecher intendiert: /on/ Nasalisierung und silbenfinale K Schwächung [o)(n4)] [n] wird kaum wahrgenommen, daher geht der Ursprung für Nasalisierung verloren, daher keine Kompensierung Nasalisierung [o)n] Koart. Kompensierung Hörer rekonstruiert /on/ rekonstruiert:/o)n/ oder eher /o)/

Lautwandel und Hyperkorrektur Sprecher intendiert /mana/ Erzeugt: [ma)na] Hyperkorrektur (=korrigiert zu viel!) Koart. Kompensierung Hörer rekonstruiert /mana/ /mada/ D.h., der Hörer meint: der Sprecher intendierte /mada/ und [n] ist nur wegen des Einflusses des Nasal-Lautes /m/ zustande gekommen.

Hyperkorrektur und Lautwandel Dissimilation Latein: /kwInkwe/ -> /kInkwe/ (und dann /tSINkwe/) Sprecher intendiert: /kwInkwe/ Erzeugt: [kwInkwe] Mit Lippenrundung Hyper-Kompensierung: Hörer entfernt nicht nur die Lippenrundung, die wegen Koartikulation in [k] und [Ink] zustande kommt, sondern auch die vom Sprecher intendierte Lippenrundung aus dem ersten [w] Wahrgenommen als: /kBInkwe/ oder /kInkwe/

Hyperkorrektur und Lautwandel Hyperkorrektur-Lautwandel betrifft eher Laute, die mehrere Segmente überbrücken, also Merkmale, die ein langes Zeitfenster haben (von über 100 ms). Wie zB Labialisierung, Palatalisierung, Velarisierung = die nicht robusten Sprachlaute. Robuste Sprachlaute Nicht-robuste Sprachlaute Laute, die es in Sprachen nur gibt, nachdem die robusten Laute ausgeschöpt sind. Laute wie [p, t, m] die in den meisten Sprachen vorkommen. zB keine Sprache hat [tw, kw] ohne auch [t, k]. Daher ist [w] nicht robust.

Weitere Unterschiede Hypokorrektur-Lautwandel Hyperkorrektur-Lautwandel Der Kontext, der für den Lautwandel verantwortlich war, geht oft verloren. kann nie verloren gehen zB /on/ -> /o)/ kwInkwe/ -> /kInkwe/ Lautwandel kann neue Segmenten bilden, die noch nicht Bestandteil des Phoneminventars sind. Ja, wie /o)/ Nein

5. Lautwandel ist nicht kognitiv, nicht phonologisch, nicht teleologisch

Nicht kognitiv Lautwandel erfolgen durch natürliche, physiologische und auditive Prinzipien. Sprecher und Hörer sind sich dieser Prinzipien nicht bewusst. (Analogie: das Verdauen ist nicht kognitiv d.h. man braucht nicht von Vorgängen der Chemie informiert zu sein, und Speisen zu verdauen). Insofern ist für Ohala Lautwandel nicht kognitiv – sondern ein für den Sprecher und Hörer unauffälliger Vorgang, der aus den physischen Prinzipien der Beziehungen zwischen der Produktion und der Perzeption entsteht.

Nicht phonologisch Laut der generativen Phonologie kommt Lautwandel wegen einer Änderung in der Grammatik vor. Jedoch kann dies nicht der Fall sein wenn: (a) (laut der generativen Phonologie), die Phonologie kognitiv ist und (b) Lautwandel durch nicht kognitive Vorgänge entsteht. Vor allem ist für Ohala die (gesamte) Phonologie eine Beschreibung, aber keine Erklärung. Eine phonologische Regel wie: /o/ -> /o)/ _ +nasal (Lautwandel Regel) ist die verkehrte Metasprache, um Lautwandel zu erfassen.

Nicht teleologisch Teleologie = folgt einem Ziel, hat einen Sinn, einen Zweck. Lautwandel kann nicht teleologich sein, weil Lautwandel unbeabsichtigt durch eine fehlerhafte Interpretation (des Hörers) zustande kommt… Und daher, contra viele Forscher: Lautwandel kommt nicht zustande, um die Sprache zu verdeutlichen, oder zu verbessern (oder weil, wie oft vermutet wird, junge Leute absichtlich die Sprache für die ältere Generation unverständlicher machen wollen). Ohala: “For the same reason that the mature sciences such as physics and chemistry do not explain their phenomena (any more) by saying that the gods willed it, linguists would be advised not to have the speaker‘s ‘will’ as the first explanation for language change”.

Ursprung und Verbreitung des Lautwandels Ursprung: Phonetik 1. Variation in der Produktion 2. Fehlerhafte Interpretation in der Perzeption. Abrupt/plötzlich/vollständig. /ci/ wird statt /ki/ wahrgenommen – es ist nicht eine allmähliche Änderung von /k/ in /c/. Verbreitung: Psychologie, Soziologie. 3. Mini Lautwandel -> tatsächlicher (Maxi) Lautwandel Nur die wenigsten Mini-Lautwandel -> Maxi-Lautwandel Allmählich. zB allmählich verbreitet sich die /k/ -> /c/ Änderung in der Sprechergemeinschaft…

Ursprung des Lautwandels: Phonetik Mini-Lautwandel unterliegen naturwissenschaftlichen Prinzipien, die genau so wie in der Physik entdeckt werden können. Wir müssen diese Prinzipien zuerst ausschöpfen, bevor wir zu den psychologischen und soziologischen Prinzipien schreiten. Verbreitung des Lautwandels: Psychologie, Soziologie Der Vorgang ist nicht wissenschaftlich und oft ‘ad hoc’ (willkürlich) hauptsächlich weil die Verbreitung durch so viele Variablen beeinflusst wird: Phonologie, Morphologie, Orthographie, Syntax, Semantik, Eigenschaften des Sprechers…. Daher lässt sich auch nicht die Frage wissenschaftlich beantworten: warum verbreitet sich ein Lautwandel in einer Sprache aber nicht in einer anderen?