Ringvorlesung „Kultur-Krankheiten“, BTU Cottbus, 31.05.05 Umwelt und Gesundheit – welche Rolle spielt hierbei soziale Gerechtigkeit? Gabriele Bolte Ringvorlesung „Kultur-Krankheiten“, BTU Cottbus, 31.05.05
Inhalt Soziale Ungleichheit und Gesundheit Umweltgerechtigkeit (‘Environmental Justice‘) in den USA Definition und Ziele von Umweltgerechtigkeit Thesen zur Situation in Deutschland Ausblick: Handlungsperspektiven
Soziale Lage und Gesundheit Lieber reich und gesund als arm und krank
Mechanismen: Expositionsvariation und Effektmodifikation Sozioökonomischer Status (SES) [Bildung, Beruf, Einkommen] Umweltbezogene Expositionen Vulnerabilität Gesundheitszustand In der Wohnumgebung (z.B. durch Industrie, Straßenverkehr, Mülldeponien) In der Wohnung (z.B. durch Möbel, Baumaterialien, Heizung und Kochen, Trinkwasser, Tabakrauch, Expositionen aus der Wohnumgebung) Variiert neben SES z.B. auch nach Alter Geschlecht Ernährung Immunsystem ‚Stress‘ Vorerkrankungen Gesundheitsversorgung Symptome und Krankheiten (z.B. Allergien, Erkrankun- gen der Atemwege und Haut, Krebs) Biomarker (z.B. korporale Schadstoff- belastungen, Immun- faktoren, Entzündungs- parameter) Arbeitsbedingungen Freizeitaktivitäten [Mielck & Bolte 2004]
Effektmodifikation: Unterschiede in der Vulnerabilität Mit Feinstaubexposition verbundenes relatives Sterberisiko nach Schulbildung Schulbildung niedrig mittel hoch American Cancer Society Study 1,35 (1,17-1,56) 1,23 (1,07-1,40) 1,06 (0,95-1,17) Harvard Six Cities Study 1,45 (1,13-1,85) 1,30 (0,98-1,73) 0,97 (0,71-1,34) Relative Risiken mit 95 % Konfidenzintervall bezogen auf einen Anstieg um 24,5 µg/m³ PM2.5 (ACS Study) bzw. um 18,6 µg/m³ PM2.5 (HSC Study). [Health Effects Institute 2000]
Umweltgerechtigkeitsbewegung in den USA 70er und 80er Jahre: Bürgerinitiativen in Kommunen mit hoher Umweltschadstoffbelastung, Standortdebatte, Antidiskriminierungsdiskussion 1983: Studie des U.S. General Accounting Office ‘Siting of Hazardous Waste Landfills and Their Correlation with Racial and Economic Status of Surrounding Communities‘ 1987: Studie der United Church of Christ ‘Toxic Wastes and Race in the United States’ 1991: ‘Principles of Environmental Justice‘ First People of Color National Environmental Leadership Summit 1992: Einrichtung des EPA - Office of Environmental Equity Studie ‘Environmental Equity: Reducing Risk for All Communities‘ 1994: Regierungserlass (Executive Order 12898) Environmental Justice als nationale Priorität 2002: Second People of Color National Environmental Leadership Summit
Unfälle in chemischen Industrieanlagen in den USA nach Anteil der afroameri-kanischen Bevölkerung nach Ausprägung der Einkommensungleichheit [Elliott et al. 2004]
Umweltgerechtigkeit: Wohnumfeld Wohnung: z.B. Bleibelastung Transport: Exposition gegenüber Luftschadstoffen und Lärm Unfallrisiko Erreichbarkeit von Gesundheitsversorgung, Arbeitsplatz Ernährung: Erreichbarkeit von Geschäften Grünflächen und Parks: körperliche Aktivität / Adipositas Verelendung von Wohnbezirken
Aspekte und Ziele von Umweltgerechtigkeit Verteilungsgerechtigkeit Verfahrensgerechtigkeit / Beteiligungsgerechtigkeit Vorsorgegerechtigkeit Chancengerechtigkeit
These 1 Es gibt umweltgerechtigkeitsrelevante Unterschiede zu der Situation in den USA. Geringere sozialräumliche Entmischung der Bevölkerung Geringere Wohnsegregation Stärkere räumliche Integration von Wohnen und Arbeiten Weite Verteilung von Emissionsquellen Senkung der (lokalen) Immission durch ‘Politik der hohen Schornsteine‘ Stärkere Planung von Stadt- und Regionalentwicklung Fehlen leicht identifizierbarer sozialer Gruppen [Maschewsky 2004]
Gesundheitsbericht für Deutschland: These 2 Smog ist nicht demokratisch, es gibt eine sozial ungleiche Verteilung von Umweltbelastungen in Deutschland. Gesundheitsbericht für Deutschland: Abdrängung einkommensschwacher Haushalte in billigere Wohnungen mit schlechtem Ausstattungsstandard, geringer Wohnfläche, hohen Belastungen durch Verkehrslärm und Abgase, sowie kinderfeindlichem Umfeld. Am Wohnungsmarkt benachteiligte Bevölkerungsgruppen leben vorwiegend in Stadtteilen, die durch Verkehr und Gewerbe belastet sind und wenig Grünflächen aufweisen. [Statistisches Bundesamt 1998]
Belastung durch Straßenverkehr nach elterlicher Bildung % sehr hoch hoch mittel niedrig Wohnung an Hauptstraße 13,8 21,0 22,6 25,0 Regelmäßige Staubildung 7,1 9,9 11,8 20,0 Täglicher LKW-Verkehr 24,3 33,0 31,1 37,7 Störender Verkehrslärm 12,6 16,3 19,8 24,8 Daten: LISA-Kohortenstudie 1998-2000, N = 3050 Familien [Bolte et al. 2004]
Regionale Unterschiede in der Umweltbelastung Elterliche Bildung Elterliche Bildung [Bolte et al. 2004]
Hamburg: Sozial- und Umweltdaten Nutzung von Routinedaten auf Stadtteilebene Sozialindikatoren: Bevölkerungsdichte, Wohnfläche pro Person Bildungsniveau Durchschnittseinkommen Arbeitslosigkeit, Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen Umweltdaten: verkehrsbedingte Luftschadstoffe (Messdaten, Entfernung zu Straßen) Bodenbelastung durch Schadstoffeinträge und Altlasten großtechnische Anlagen Hochspannungsleitungen [Maschewsky 2004, Schümann et al. 2004]
Soziale Ungleichheit in Umweltbelastungen in Hamburg Maschewsky (2004): Korrelationen auf Stadtteilebene: niedriger Soziallageindex => hohe Luftbelastung => viele Industrieanlagen Schümann et al. (2004)
These 3 Die Aspekte von Umweltgerechtigkeit sind nicht neu, aber sind neu in das Spannungsfeld Umwelt - Gesundheit zu integrieren. Europäische Charta "Umwelt und Gesundheit" (1989) Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Umwelt, die ein höchstmögliches Maß an Gesundheit und Wohlbefinden ermöglicht, auf Informationen und Anhörung über die Lage der Umwelt, sowie Pläne, Entscheidungen und Maßnahmen, die voraussichtlich Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit haben, auf Teilnahme am Prozess der Entscheidungsfindung.
"Niemals empört etwas mehr, als Ungerechtigkeit; alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen." Immanuel Kant
Wo ist die Luftverschmutzung hoch? NO2 Konzentrationen [Stephens et al. 2001]
Wo ist die Sterblichkeit an Atemwegserkrankungen hoch Wo ist die Sterblichkeit an Atemwegserkrankungen hoch? Standardisierte Mortalitätsrate (SMR) [Stephens et al. 2001]
Wo leben arme Bevölkerungsgruppen? Deprivationsscore [Stephens et al. 2001]
Wo sind die meisten Autos? Anteil der Haushalte mit 2 oder mehr Autos [Stephens et al. 2001]
SMR KFZ NO2 Armut [Stephens et al. 2001]
These 4 Es gibt keine allgemeingültige und akzeptierte Definition, was ungerecht ist. Aber ohne Kriterien zur Beurteilung der Ist-Situation im Hinblick auf Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit ist eine Verwirklichung von Umweltgerechtigkeit nicht möglich.
EPA: Environmental Justice Prozess [Office of Inspector General 2004]
Ausblick: Handlungsperspektiven Ökologische Gesundheitsförderung Risikoanalyse Surveillance / umweltbezogene Gesundheitsberichterstattung Prospektive Gesundheitsverträglichkeitsprüfung [Fehr 2001]
(1) Risikoanalyse Bewertung von Schadstoffwirkungen: Einbezug der möglichen Effektmodifikation durch soziale Faktoren Untersuchung industrieller Belastungsschwerpunkte Bspl. Hot-Spot-Studie in NRW 2004 Community based participatory research ‘The people know best‘
(2) Umweltbezogene Gesundheitsberichterstattung Berücksichtigung von Merkmalen der sozialen Lage Umweltsurvey 1998 Bundesgesundheitssurvey 1998 Survey “Umwelt und Gesundheit von Kindern “ Bayern 2004/2005 WHO: European Environmental Health Indicators
(3) Prospektive Gesundheitsverträglichkeitsprüfung Berücksichtigung sozialer Belange Ist-Situation des geplanten Standorts: Sozialfaktoren Prognose der Auswirkungen der geplanten Anlage: Aspekt Verteilungsgerechtigkeit Vorsorgegerechtigkeit: bereits bestehende Umweltbelastungen, besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen Verfahrensgerechtigkeit: frühzeitige und substanzielle Beteiligung Betroffener/der Öffentlichkeit Health Inequalities Impact Assessment (HIIA) Beispiel: Abschätzung von 3 Szenarien für städtische Transportstrategien in Edinburgh (UK) [Mackenbach et al. 2004]
APUG NRW: Umweltgerechtigkeit und Gesundheit Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit für den umweltbezogenen Gesundheitsschutz? Integration des Themas als Querschnittsthema in das APUG NRW Auswertung bereits vorhandener Daten Entwicklung von Indikatoren (wie lässt sich Umweltgerechtigkeit messen?) Konzeptentwicklung für Beteiligungsgerechtigkeit: besserer Zugang zu Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten für Betroffene Planungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfung: Einbeziehung von möglichen Benachteiligungskriterien wie sozioökonomischer Status oder Migrationshintergrund Nutzung bestehender Strukturen (z.B. Gesundheitskonferenzen) [MUNLV NRW 2005]
Umwelt und Gesundheit - welche Rolle spielt soziale Gerechtigkeit? Umweltgerechtigkeit umwelt- und gesundheitspolitische Konkretisierung sozialer Gerechtigkeit Ziel der Reduzierung von Umweltrisiken ist mehr als Politik der Umverteilung essentiell für einen umweltbezogenen Gesundheitsschutz aller Bevölkerungsgruppen