Die Soziale Sicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003.

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Die Soziale Sicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Übersicht Die Stellung der Sozialen Sicherung innerhalb der Sozialpolitik Soziale Risiken und ihre Abfederung Berufsunfähigkeitsversicherung Rentenversicherung Krankenversicherung Arbeitslosenversicherung Sozialhilfe Pflegeversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Sozialpolitik Das Handeln der für eine Gemeinschaft verantwortlichen (bzw. sich verant-wortlich fühlenden) Personen mit dem Ziel der Erreichung von Verteilungsnormen, die der Markt nicht erfüllt. Handelnde sind staatliche Organe, Verbände, Unternehmen, Personen-gruppen (Vereine etc.), Einzelpersonen Arbeitsgebiete: Arbeitswelt sowie Notlagen oder Entwicklungsdefizite soweit sie mit materiellen Hilfen verbessert werden können. Deshalb neigen wir dazu, Verteilungs-vorstellungen als utopisch abzutun © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Leitgedanke Der Sozialstaat ist ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil unserer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kultur. Ohne Sozialpolitik wäre die marktwirtschaftliche Ordnung nicht denkbar. Sozialpolitik stabilisiert und fördert die Entwicklung unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Sie trägt zu wirtschaftlichem und sozialem Ausgleich wie zur Verbesserung der Chancengleichheit bei und ist damit von zentraler Bedeutung für sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Allgemeine und berufliche Qualifikation und Weiterbildung sowie Rehabilitation fördern den für die deutsche Volkswirtschaft wichtigen Produktionsfaktor Humankapital. Das System betrieblicher und überbetrieblicher Arbeitnehmer- Arbeitgeberbeziehungen unterstützt die Produktivität der Gesamtwirtschaft und den sozialen Frieden in der Gesellschaft. Die Absicherung gegen Lebensrisiken erweitert den Handlungsspielraum der Menschen und fördert so die Bildungs-, Mobilitäts-, Anpassungs- und Wagnisbereitschaft. Erst die sozialverträgliche Gestaltung des Strukturwandels schafft in einer demokratischen Gesellschaftsordnung die hierfür notwendige Akzeptanz. Quelle: Sozialbericht 2001 der Bundesregierung, S. 17 © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Gestaltungsziele Eigenverantwortung und aktivierender Sozialstaat Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern durch Gleichstellung von Mann und Frau Flexibilisierung und Wahlfreiheiten Vermeidung sozialer Ausgrenzung, Förderung des sozialen Zusammenhalts Einbindung in europäische und internationale Zusammenhänge. Quelle: Sozialbericht 2001 der Bundesregierung, S. 17 © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Soziale Sicherung als Element der Sozialpolitik Mittelbeschaffung gehört auch zur Sozialpolitik Wenn sich eine Gesellschaft auf Vertei-lungsziele einigt, dann sind diese meist darauf ausgerichtet, über das gesamte Leben hinweg materiell stabilisierend zu wirken, d.h. Armut zu vermeiden. Z.B.: Eine Sicherung des Existenzminimums nur bis zum Alter von 18 Jahren würde nicht als „human“ anerkannt. Das Gesamtbündel aus Geben und Nehmen muss der Verteilungsnorm entsprechen © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Steuern oder Versicherung Wenn Verteilungsziele moralisch begründet werden (Ausgangspunkt Naturrecht oder religiöse Lehren), dann können sie nicht auf Teile der Bevölkerung eingeschränkt werden. Wenn eine Verteilungsnorm gleichmäßig durchgesetzt werden soll, so kann nicht rein freiwillig gearbeitet werden. Es herrscht also eine Zwangsvorsorge. Diese kann finanziert werden durch Abgaben ohne Leistungsanspruch (Steuern) oder durch Abgaben mit Leistungsanspruch (Gebühren und Beiträge) Naturrecht und Sozialverpflichtung: Erst materielle Sicherheit erlaubt intellektuelle Teilhabe, also volles Menschsein © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Einnahmearten des Staates Gebühren sind daran gebunden, dass ein Entgelt zur Kostendeckung für einen tatsächlich vermittelten Nutzen erhoben wird. Beiträge finanzieren Güter, bei denen die Nutzenvermutung abstrakt ist, d.h. der mögliche Nutzen daraus wird nur eventuell gezogen. Steuern sind Zwangsabgaben ohne Gegenleistung, d.h. es muss nicht einmal abstrakt eine Möglichkeit bestehen, Nutzen aus den damit finanzierten Gütern zu ziehen. Die definitorische Dreiteilung führt fast zwangsläufig dazu, dass ein Sicherungssystem mit Umverteilungs-komponenten weitgehend mit Beiträgen finanziert wird. Ohne diese Umverteilung kä-men auch Gebüh-ren in Frage. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

„Versicherungsfremde Leistungen“ Je geringer der Zusammenhang zwischen Beitrag und Leistung ist, desto mehr spricht für eine Steuerfinanzierung der Umverteilung Leistungen, die (sozial-)politisch gewollt sind, bei denen aber kein Zusammenhang mit der Beitragsleistung einerseits und dem versicherungstypischen Risikoausgleich andererseits besteht, nennt man „versicherungsfremde Leistungen“ Beispiele: Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, Leistungen für Spätaussiedler, Rentenzahlungen nach West-Standard an Rentner Ost. Sie müssten aus anderen als Beitragsmitteln finanziert werden © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Das System der Sozialen Sicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Lebenszyklus und Armutsrisiken Krankheit und Pflege Existenzielle Armut Kleinkind Erziehungsgeld vor Geburt Alter Bildung Arbeitslosengeld, Unfallrente, Berufsunfähigkeit Arbeit BAföG Erwerbsfreies Einkommen Rente Sterbegeld Lohnfort-zahlung im Mutter-schutz © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Schwerpunktverschiebungen Quelle: Sozialbudget 2001; Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung www.bmgs.bund.de © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Schwerpunktverschiebungen © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Ölpreisschock und Ausbau des Sozialstaates Wiedervereini-gungsboom Ölpreisschock und Ausbau des Sozialstaates 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Quelle: Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) www.bfa.de © Anselm Dohle-Beltinger 2003

West-Ost-Vergleich © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Staatliche Finanzierung Bund: Erziehungsgeld, Arbeitslosenhilfe, besondere Arbeitsmarktprogramme, Zuschüsse zur Rentenversicherung, zur Bundesanstalt für Arbeit, zur Alterssicherung der Landwirte gemeinsam mit den Ländern Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung. Länder: Krankenhausfinanzierung, öffentliches Gesundheitswesen, besondere Arbeitsmarktprogramme sowie mit dem Bund Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung in Unterstützung der Kommunen: Sozialhilfe und Jugendhilfe, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Kommunen: Sozialhilfe und Jugendhilfe, freiwillige soziale Leistungen, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Darüber hinaus finanzieren Bund, Länder und Kommunen als „Arbeitgeber" im vollen Umfang die soziale Sicherung ihrer Beamtinnen sowie paritätisch die Sozialversicherungsleistungen ihrer Arbeiterinnen und Angestellten Die Kommunen beklagen in den letzten Jahren, dass der Bund zunehmend Leistungen auf sie verlagert, die Finanzierungsmittel aber behält. Interessant wird deshalb, wie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe aussehen wird. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

© Anselm Dohle-Beltinger 2003

Quelle: Sozialbudget 2001 - Materialband © Anselm Dohle-Beltinger 2003

© Anselm Dohle-Beltinger 2003

Die Belastung des Faktors Arbeit © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Quelle: IW, Wirtschaft in Zahlen 2002 © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Der internationale Wettbewerb © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Korrektur um die Produktivität © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Verursacher oder Opfer In der Wirtschaft gilt es als wichtiges Prinzip, Kosten verursachungsgerecht zuzuordnen. Andernfalls versagt die Allokationsfunktion der Preise. Das würde bedeuten, dass Güter bzw. Produktionsfaktoren in falschen Mengen angeboten werden: bei nach unten verfälschten Kosten zu viele Güter und zu wenig Arbeitskraft, bei zu hohen umgekehrt. Da die Leistungen der Sozialversicherung den Arbeitnehmern zugute kommen ist es konsequent, sie auch dem Faktor Arbeit zuzuordnen und anzulasten. Fehlallokation besteht z.B. bei zu billigem Benzin: der Flottenver-brauch bleibt hoch, weil die gesellschaftlichen Kosten nicht eingerechnet werden. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Rückwirkung der richtigen Allokation Die Verteuerung des Faktors Arbeit bewirkt bei den Unternehmen ein vermehrtes Interesse, die Produktivität zu verbessern = Maschinen statt Arbeitskraft einzusetzen und Unvermeidliche Arbeitsnachfrage dort zu befriedigen, wo die Arbeitskraft billiger ist. „Sozialdumping“ und Produktivitäts-steigerungen bei geringem Absatz-wachstum führen dazu, dass die Lasten des Sozialsystems immer mehr auf einzelne Arbeitnehmer gebündelt werden und sich dieser Ausweichprozess eher beschleunigt Arbeitslosigkeit durch Sozialstaat = Kontraproduktivität © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Lösungsansätze © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Anpassung an Kosten oder Beiträge Prinzipiell gibt es zwei Wege, mit dem Finanzierungsdilemma der Sozialversicherung umzugehen: das Mittelaufkommen den steigenden Kosten anpassen oder die Leistungen auf das langfristig finanzierbare Maß absenken. Derzeit ist noch offen, welche Politik in Deutschland konsensfähig ist. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Lösungsstrategien auf der Finanzierungsseite (1) - Maschinensteuer Umbasierung der Sozialabgaben auf andere Produktionsfaktoren, z.B. durch Einführung einer Maschinensteuer. Umsetzung: Es wird eine Abgabe in % des Bilanzbestandes an Produktionsmitteln (zu AHK oder Buchwert) oder des jährlichen Investitionsvolumens verlangt. Folge: Technologierückstand durch Verschiebung der relativen Preise zuungunsten der Maschinen, d.h. Investitionen werden verteuert. Keine brauchbare Lösung für den Beschäftigungsabbau 2001 wurden bei einem BIP von 1.979 Mrd. € Waren für 637 Mrd € ausgeführt = 32 %. Die Verlangsa-mung der techno-logischen Anpas-sungsprozesse würde zu steigen-der Arbeitslosig-keit im Export-bereich führen. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Finanzierungsseite (2) – Mehr Zahler Einbeziehung weiterer Zahler Wer Beiträge bezahlt, dem muss wegen der abstrakten Nutzenvermutung auch ein Anrecht auf Leistungsbezug eingeräumt werden. Es handelt sich also nur so lange um eine Verringerung (des Anstieges) der Lohnnebenkosten wie der Leistungsbezug mit Verzögerung oder mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit als bei den bisherigen Zahlern eintritt. Letzteres kann ein Argument sein, die Arbeitslosen- und Krankenversicherungspflicht noch weiter auszudehnen. Für die Rentenversicherung gibt es in jedem Fall einen Bumerang-Effekt. Sozialpolitik als Verschiebebahnhof: Loch zu – Loch auf © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Finanzierungsseite (3) – Steuern statt Beiträge Steuerfinanzierung bedeutet Abkehr vom Äquivalenzprinzip, d.h. der (um den Solidarausgleich korrigierten) Entsprechung von Beitragsleistung und Versicherungsleistung. Dies ergibt sich aus der nicht vorhandenen Zweck- (und Nutzen-)bindung der Haushaltsmittel. Darüber hinaus ist Steuerfinanzierung je nach gewählter Bemessungsgrundlage (s. Maschinen-steuer) auch eine Abkehr vom Verursacherprinzip, da nicht alle Zahler auch Nutznießer sein werden. Es eröffnet Raum für gezielte – oder willkürliche – Verteilungskorrekturen bei der Absicherung von Lebensrisiken. Eine mögliche Konsequenz wäre dann z.B. eine Einheitsrente für alle, die sich etwa am Sozialhilfeniveau orientiert. Damit wäre der bisherige Gedanke der Statuskontinuität aufgegeben. Non-Affektationsprinzip der Steuer Statuskontinuität: die relative Position während des Erwerbslebens soll auch in der Leistungsphase im Verhältnis zu den anderen Leistungs-beziehern der Versicherung weiter bestehen. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Finanzierungsseite (4) - Einkunftsarten Einbeziehung weiterer Einkunftsquellen Zahlungspflichtig sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber meist gleichzeitig. Bemessungsgrundlage ist nur der Lohn, nicht andere Einkünfte des Arbeitnehmers, die er außerhalb des Unternehmens erzielt. Würde man sie mit einbeziehen, so ließen sich die Kosten je Arbeitsstunde (lohnbasiert) senken und es würden insgesamt nicht unbedingt zusätzliche Ansprüche begründet. Ändern würde sich aber insbesondere in der Altervorsorge die Verteilung der Leistungen. Da diese bislang an die Einzahlungen gekoppelt sind, würden diejenigen, die über hohe Vermögenswerte verfügen und daraus Erträge ziehen (sind auch meist höhere Einkommensgruppen), überproportional höhere Zahlungen erhalten als der Rest. Da der Arbeitgeber die wirtschaftliche Gesamtsituation seiner Arbeitnehmer nicht kennt, kann ihm wegen Unkalkulierbarkeit auch keine anteilige Mitfinanzierung auferlegt werden. Dies widerspricht der bisherigen Tradition, die darauf aufbaut, dass der Solidarbeitrag mit dem Nutzen aus dem sozialen Frieden und der stabilen Nachfrage aufgewogen wird. Relativ beste Lösung ohne Abkehr vom bisherigen System Machbar, soweit die Umvertei-lungswirkung bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern gesellschaftlich konsensfähig ist. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Lösungsstrategien auf der Leistungsseite In den letzten Monaten fand in zunehmend nachdrücklicher Weise eine Diskussion über Leistungseinschnitte statt. Egal ob geänderte Rentenformel, Wegfall des Krankengeldes oder verringerte Zahlungsdauer der Arbeitslosenversicherung: allmählich wird sparen salonfähiger als noch mehr umverteilen. Finanzierungsseite läuft auf höhere Mittelbeschaffung hinaus um die Leistungen zu sichern. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Die Versicherungsarten © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Berufsunfähigkeitsversicherung Für die meisten ist ihre Arbeitskraft der wesentliche Quell von Kaufkraft und Wohlstand. Fällt diese weg, so drohen existenzielle Risiken gerade für Berufsanfänger, die keine finanziellen Polster haben und kaum auf Überbrückungsleistungen anderer Versicherungen hoffen können. Früher war die Berufsunfähigkeit ein Leistungsbestandteil der gesetzlichen Rentenversicherung. Für alle ab dem 1.1.1961 geborenen gilt das nicht mehr. Zusammen mit einer privaten Haftpflicht ist die Berufsunfähigkeitsversicherung ein absolutes Muss – auch für Studenten. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Die Rentenversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Struktur der Alterssicherung der BRD Es gibt im wesentlichen drei Säulen der Alterssicherung: Die gesetzliche Rentenversicherung Die betriebliche Altersversorgung Die private Altersversorgung Während die beiden letzten typischerweise damit verbunden sind, dass Gelder oder Vermögenswerte angesammelt (und verzinst) werden (=Kapitaldeckung) wird erstere nicht aus zurückgelegten Beiträgen des Rentners, sondern aus denen der aktuell berufstätigen Personen gespeist (=Umlageverfahren). © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Kapitaldeckungs- gegen Umlageverfahren Das grundsätzliche Problem besteht bei beiden Versicherungsarten: sie können nur dann die erwartete Leistung erbringen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung positiv ist. Im negativen Fall fehlen bei der Umlage die Zahler, bei der Kapitaldeckung die Neuabschlüsse und die Renditen aus dem Deckungsstock (Kursverfall von Aktien, Mietstagnation und niedrige Zinsen derzeit gekoppelt). In beiden Fällen hat die Erosion des Mittelaufkommens die Tendenz, sich zu beschleunigen. Ob der Deckungsstock wie ein Bremsfallschirm wirkt hängt von der Anlagestrategie der Versicherungen ab. Hohe Renditen erfordern hohe Risiken! © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Die Idee der gesetzlichen Rentenversicherung Generationenvertrag (Entstehung 1889): die aktiv arbeitende Bevölkerung bezahlt die Renten der alten Generation. Fragestellung: Was tun um schneller eine Rente auszuzahlen als sie ansparbar ist? Lösung: Umlage Der soziale Status zur Zeit der Berufstätigkeit soll auch im Rentenalter relativ, d.h. auf niedrigerem Niveau, gewahrt bleiben. Deshalb bei der Rentenanspruchsberechnung immer Bezug des eigenen Einkommens eines Jahres auf das Durchschnittseinkommen der versicherungspflichtig Beschäftigten im betreffenden Jahr. Versorgungsfunktion der Rente: aus der Beitragszahlung resultiert nicht nur ein lebenslanger Anspruch des Zahlers, sondern nach seinem Ableben - in verringertem Umfang - auch seiner Hinterbliebenen. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Fragestellungen Kernproblem ist hier (wie auch bei der Kranken- und Pflegeversicherung) noch vor der hohen Arbeitslosigkeit demografische Entwicklung. Einer wachsenden Zahl an Leistungsbeziehern steht eine sinkende Zahl an Zahlern gegenüber. Ob eine erhöhte Geburtenanzahl bei weiter fortschreitender Produktivitätssteigerung und auf absehbare Zeit moderaten Wachstumsraten wirklich sinnvoll ist zur Lösung des Problems, muss stark bezweifelt werden. Arbeitskräfte stehen genug zur Verfügung, wenn die potentiellen Rentner länger arbeiten. Außerdem würde ein Arbeitskräftemangel sehr rasch eine Wohlstandsmigration auslösen, die zum Marktausgleich führt. Das Regelalter der Verrentung ist zwar 65, das tatsächliche Eintrittsalter liegt aber u.a. durch zahlreiche „sozialverträgliche“ Frühverrentungen unter 60 Jahren – und das bei gestiegener Lebenserwartung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Gesamtbevölkerung 81.946 Tsd davon 40.001 Männer und 41.945 Frauen Quelle: Statistisches Bundesamt (StBA; www.statistik-bund.de); 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung Juli 2000 Wichtige Rahmenbedingung: Jährlicher Zuwanderungsgewinn von 100.000 Menschen © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Erwerbspersonen sind Erwerbstätige und Erwerbslose zusammen Erwerbspersonen sind Erwerbstätige und Erwerbslose zusammen. Als erwerbstätig gelten dabei alle Personen, die eine haupt- oder nebenberufliche Erwerbsarbeit ausüben, während zu den Erwerbslosen alle Personen ohne Arbeitsverhältnis gehören, die sich um eine Arbeitsstelle bemühen. Basis: Strukturdaten zur Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen im Jahr 1999 des StBA © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Weitere Tendenzen Die Zunahme der Lebenserwartung hat Folgen für die Beitragsentwicklung: Wenn wir heute noch die Rentenlaufzeiten von 1960 hätten, dann könnte der Beitragssatz zwischen 12 und 13 % statt bei 19,5 % liegen. Die Erwerbsbiographien verändern sich. Durchgehende Vollzeitbeschäftigung vom 16. bis 65. Lebensjahr wird nicht unbedingt die Regel sein. Häufig wechseln Ausbildung, Studium, Beruf, Weiterbildung, neuer Beruf, Familienpause und Arbeitslosigkeit. Unterbrechungen und Veränderungen kommen auch bei Männern immer öfter vor. Der Anteil von Frauen im Erwerbsleben nimmt weiter zu. Die heutige Hinterbliebenenversorgung basiert auf einem überholten Gesellschaftsbild: Ein Ehepartner - in der Regel der Mann - versorgte als Alleinverdiener die Familie. Da die gesellschaftliche Wirklichkeit heute häufig anders ist, brauchen Frauen eine eigenständige Altersversorgung. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

(Diskutierte) Lösungsversuche Vermehrte Übernahme versicherungsfremder Leistungen in den Bereich der Steuerfinanzierung (Einführung der Ökosteuer; vergrößert Zahl der „Beitragszahler“) um die Beiträge bis 2030 unter 22% zu halten. Einbeziehung neuer Beitragszahler: 325 €-Jobs, Scheinselbständige (wird wieder abgeschwächt); Immer wieder in der Diskussion: Versicherungspflicht für Beamte und alle Selbständigen (kommt wohl nicht) © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Lösung durch Niveauanpassung Aussetzung der Nettolohnanpassung für zwei Jahre. Nur noch (verzögerter) Inflations-ausgleich. Folge: Absenkung des Renten-niveaus von 71% in 2000 auf etwa 68 % in 2030 (Nichtregierungsquellen sprechen von 64%, da es den „Eckrentner“ mit 45 Beitragsjahren und Rentenbezug ab 65 kaum noch gibt) Ausgleich der Absenkung durch eine steuerlich begünstigte private Altersvorsorge (sog. Riester-Rente), die das Niveau auf 76% steigen lassen soll. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Krankenversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Probleme der GKV Averse Risikoselektion Die guten Risiken sind im Regelfall Personen mit höheren Einkommen. Diese haben Wahlfreiheit bei der Versicherung und nutzen sie zur Beitragsverbilligung bzw. gehen zu privaten Krankenversicherungen. Übrig bleiben z.B. alte und gesundheitlich bereits geschädigte Personen sowie Nutznießer der Mitversicherungsregelungen, für die die privaten Krankenversicherer zu teuer sind. Die steigende Lebenserwartung führt zu einer Zunahme von komplexen und langwierigen Krankheitsbildern mit hohen Behandlungskosten Viele Krankheiten werden jetzt therapierbar. Da die gesellschaftliche Anforderung besteht, keine Zwei-Klassen-Medizin zu praktizieren, ist der Arzt verpflichtet, bei jedem Patienten das volle Therapiespektrum auszuschöpfen Folge: Kostenzuwachs bei gleichzeitigem Rückgang der Bemessungsgrundlage Geringe Lei-stungsdifferenzie-rung der Versiche-rungen erleichtert Wechsel. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Lösungsansätze Leistungskürzungen in den Bereichen Lohnfortzahlung, Sterbegeld, plastische Chirurgie, Zahnersatz, Geburtsrisiken, … Mehr Preis- (und Qualitäts-)wettbewerb zwischen den Ärzten und den Apotheken Trennung von Verordnung und Kontolle der Verordnung (Hausarzt als Manager; Abschaffung der KV als anonymisie-render Verwaltungsstelle der Abrechnungen) Einführung von Pauschalhonoraren für Fälle Vermehrte Abrechnungskontrolle Senkung der Verwaltungskosten GKV übernimmt sozialversiche-rungsrechtliche Kontrollfunktionen, die die PKVs nicht haben. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Pflegeversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Verwandtschaft zur KV Nicht nur die Art der Leistungen ist ähnlich, sondern auch die Problemstellung: Wegen der älter werdenden Bevölkerung nimmt die Zahl der Pflegefälle rasch zu. Parallel dazu steigt durch Verkleinerung und Zerrissenheit der Familienverbände der externe Betreuungsaufwand. Derzeit scheinen die Vertragsärzte angewiesen, die Pflegeklassen sehr restriktiv zuzuordnen. Mittlerweile wird überlegt, die Versicherung voll zu privatisieren, da die Kosten auch damit nicht in den Griff zu kriegen scheinen © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Arbeitslosenversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Probleme Sie wurde und wird als Parkplatz für „sozialverträgliche“ Auflösungen der Arbeitsverträge benutzt bevor die ehemaligen Arbeitnehmer verrentet werden können. Dies geht an der eigentlichen Aufgabenstellung vorbei, da sie nicht als Zwischenstation zur Rente konzipiert ist, sondern zu erneuter Arbeit. Ihr Mittelbedarf ist prozyklisch: in schlechten Konjunkturzeiten steigt er an. Allerdings sorgt die Mittelverwendung für einen antizyklischen Effekt, da die Kaufkraft der Arbeitslosen stabilisiert wird. Deshalb proble-matisch, weil hier Motivaton zu möglichst langem Leistungsbezug statt zu Arbeits-suche besteht. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Therapie Eine aktive Arbeitsmarktpolitik umfasst mehrere Teilbereiche Konjunkturelle Impulse setzen im Steuerrecht und im Haushalt Qualifikation bei fehlender Marktfähigkeit der Arbeitslosen Qualifizierte Vermittlung von Stellensuchenden Akquisition von freien Stellen Die Leistung von Zahlungen ist kein Beitrag zur Beschäftigungserhöhung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Unfallversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Ausgestaltung Sie leistet für Unfälle auf dem direkten Weg zu und von der Arbeit sowie während der Arbeit. Ihren Beitrag zahlen allein die Arbeitgeber. Die hohe Beitragskonstanz hängt zusammen mit der Abnahme von Arbeitskräften und mit der Verringerung gefährlicher Tätigkeiten. Sie ist kaum von den aktuellen Debatten betroffen. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Sozialhilfe © Anselm Dohle-Beltinger 2003

System of last resort Das letzte Auffangnetz des Sozialsystems für alle, deren eigene Mittel nicht zur Existenzsicherung reichen, ist die Sozialhilfe. Sie dient der Deckung des Existenzminimums, das jedoch nicht eindeutig definiert werden kann. Teilweise wird deshalb eine Mischung aus Sachbezug (Miete, da stark standortspezifisch; Möblierung; Kleidung) und Geldbezug (für Nahrung) praktiziert. © Anselm Dohle-Beltinger 2003

Das Problem Hier stellt sich genauso wie bei den meisten anderen Sozialsystemen das Problem der Zyklizität: in wirtschaftlich schlechten Zeiten kollidiert ein wachsender Mittelbedarf mit einem absinkenden Mittelaufkommen. Dieser Bereich war in der Vergangenheit derjenige, der am stärksten von Kürzungen betroffen war. Auch die derzeitigen Pläne lassen weitere Kürzungen erwarten. Das Grundproblem bei der Frage der Angemessenheit ist aber ungelöst: Will man ein Verschuldensprizip einführen, das umgekehrt zum restlichen Rechtssystem läuft: wer arbeitsfähig ist bekommt weniger bis er nachweist, dass er nicht arbeitsfähig ist. Billigt man einen statusorientierten Konsum zu (alle haben eine Glotze, also auch der Sozialhilfeempfänger) oder geht es nur um die Aufrechterhaltung der physischen Existenz. Letztere Position ist mit Naturrechtsgrundsätzen nicht leicht zur Deckung zu bringen, wenn man einen Zusammenhang zwischen materieller Sicherheit und individueller Entfaltung akzeptiert. Kann ich von Chancengerech-tigkeit sprechen, wenn materielle Not durch Kür-zungen provoziert wird und diese Chancen nimmt? © Anselm Dohle-Beltinger 2003