Lesen und Rechtschreiben erlernen trotz Schwierigkeiten Alexander Geist, OStR Staatlicher Schulpsychologe Supervisor (BDP), Moderator (ALP) München / Erding
Lesen und Rechtschreiben erlernen trotz Schwierigkeiten Rechtschreiben: Anforderungen an effektive Therapiemethoden Lesen: differenzierte Diagnostik als Basis effektiver Therapien LRS und Konzentration
(1) Rechtschreibschwäche: Anforderungen an effektive Therapiemethoden Alexander Geist: Lesen und Rechtschreiben erlernen trotz Schwierigkeiten 24.10.2008 (1) Rechtschreibschwäche: Anforderungen an effektive Therapiemethoden Erfolgreiche Rechtschreibtrainings orientieren sich methodisch-didaktisch an lern- und gedächtnispsychologischen Erkenntnissen (inkl. Ergebnissen der Hirnforschung) Erkenntnissen der Therapieforschung im Bereich Legasthenie 10 Jahre Steirischer Landesverband Legasthenie - Graz
Rechtschreibschwäche: Anforderungen an effektive Therapiemethoden Vermeiden der Ähnlichkeitshemmung Einschleifen weitgehender Verzicht auf spielerische Elemente bzw. klare Trennung von Spiel und Arbeit Motivation durch sukzessiven Erfolg: kleinschrittiges Vorgehen, vom Einfachen zum Schwierigen, Trainieren entlang der Null-Fehler-Linie
Rechtschreibschwäche: Anforderungen an effektive Therapiemethoden adaptives Vorgehen / Individualisierung Verzicht auf geballte Behandlung von besonderen Ausnahmefällen: Konzentration auf den Regelfall (nur in bestimmten Bereichen Konzentration auf den Ausnahmefall) Vermittlung von Strategien silbischer vs. regel- und morphemorientierter Ansatz Problematik des computergestützten Trainings
Beispiele für Rechtschreibtrainings Reuther-Liehr, C.: Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung Schulte-Körner, G. / Mathwig, F.: Das Marburger Rechtschreibtraining Geist, A.: Erdinger Rechtschreibtraining
ERT „Erdinger Rechtschreibtraining“ (ERT) als Beispiel eines Eltern-Kind-Trainings für die Sekundarstufe
ERT: Grundsätze Vermeiden der Ähnlichkeitshemmung Einschleifen nur spielerische Elemente, die strukturell zum Lerngegenstand passen Motivation durch sukzessiven Erfolg: kleinschrittiges Vorgehen, vom Einfachen zum Schwierigen, Trainieren entlang der Null-Fehler-Linie adaptives Vorgehen / Individualisierung: Gliederung nach Basisteilen und Zusatzübungen, Zwischentests Vermeidung von Über- bzw. Unterforderung
ERT: Grundsätze Verzicht auf geballte Behandlung von besonderen Ausnahmefällen: Konzentration auf den Regelfall (nur in bestimmten Bereichen Konzentration auf den Ausnahmefall), innerhalb eines Teilkapitels keine Vermischung (zur Vermeidung der Ähnlichkeits-hemmung) regel- und morphemorientierter Ansatz Vermittlung von Strategien handschriftliches Training, bewusst kein Computereinsatz
ERT: Trainingsrahmen vier- bis fünfmal wöchentlich jeweils 15-20 Minuten auch in den Ferien Geduld, Durchhaltevermögen, freundliche Zuwendung Unterstützung durch Belohnungssystem strukturierter Aufbau einer Übungseinheit regelmäßige Stärken- und Fehleranalyse nach Herausgabe einer Klassen- oder Übungsarbeit
ERT: Trainingskapitel Vorkurs (kostenlose Einstiegstrainingseinheit) „k oder ck, z oder tz“ Schärfung Dehnung s – Schreibung ( s, ss oder ß; st ) das oder dass Auslautendes d oder t, b oder p, g oder k ent- oder end- (Vorsilbe) f oder v e oder ä, eu oder äu Groß- und Kleinschreibung (Grundlagen)
ERT: Einsatzbereich / Vorteile Entlastung des Schulpsychologen bzw. der Schule relativ preisgünstig nimmt Eltern und Kinder in die Verantwortung und Pflicht Einsatz bei rechtschreibschwachen Kindern und „Grauzonen-Kindern“ Trainingsmöglichkeit für legasthenische Kinder, die vom Jugendamt keine Förderung bekommen bzw. deren Förderung abgelaufen ist, die aber noch Trainingsbedarf haben Einsatz auch im Rahmen von Kursen möglich erfahrungsgemäß kein grundsätzlich relevanter Faktor: Höhe des Bildungsabschlusses der Eltern
ERT: Grenzen des Einsatzes erhebliche Störung der Eltern-Kind-Interaktion massive sekundäre Neurotisierung beim Kind sehr geringe kognitive Kompetenz der Eltern bzw. legasthenischer Trainer Dominanz von Fehlern auf Stufen des Schriftspracherwerbs unterhalb der orthographischen Stufe bzw. extrem hohes Ausmaß der Rechtschreibprobleme Berufstätigkeit beider Elternteile bzw. eines allein erziehenden Elternteils auch am Nachmittag / Abend Bei Existenz zusätzlicher bzw. basaler Probleme (z.B. Sprechstörungen, motorische Störungen) ist natürlich eine ergänzende Maßnahme (Logotherapie, Ergotherapie o.Ä.) nötig.
ERT: Evaluation Datenbasis: 4 Kohorten (Trainingsjahrgänge) Design: Design: Experimentalgruppe: TrainingsteilnehmerInnen Kontrollgruppen: rechtschreibschwache Kinder ohne Training Rest des Jahrgangs (Kinder ohne erhebliche Rechtschreibprobleme) Tests: RST 4+ (in den Kohorten 1-3) WRT 4/5 bzw. WRT 6+ (in den Kohorten 3 und 4)
Evaluation des ERT Kinder mit Rechtschreibleistungen im Normalbereich (N=489) ERT – Trainingsteilnehmer (Experimentalgruppe) (N=53) Rechtschreibschwache Kinder ohne Training (N=47) Anf. 5. Kl. Ende 6. Kl. Diff. 27,74 13,01 14,74 50,85 23,19 27,66 49,81 28,94 20,87 Ergebnisse im RST (Kohorten 1-3)
Evaluation des ERT
Evaluation des ERT Kinder mit Rechtschreibleistungen im Normalbereich* (N=214) ERT – Trainingsteilnehmer (Kohorten 1-3: 1999-2002) (N=31) Rechtschreibschwache Kinder ohne Training* (N=18) Anf. 5. Kl. Ende 6. Kl. Diff. 48,25 51,19 2,94 35,9 43,13 7,23 35,67 (Kohorte 2003/2004) (N=14) 33,14 44,78 11,64 ERT – Trainingsteilnehmer (Kohorten 1-4 = GESAMT) (N=45) 35,04 43,64 8,60 Ergebnisse im WRT (Kohorten 3-4) * Vergleichszahlen wurden nur in der Kohorte 3 erhoben.
Evaluation des ERT
(2) Lesen: differenzierte Diagnostik als Basis effektiver Therapien Grundtypen von Leseschwächen Komplexität der beim Lesen beteiligten Teilleistungen aus neurologischer Sicht – Vielzahl möglicher Lesestörungsursachen Das computergestützte celeco-Training des Münchener Neurologen R. Werth
Grundtypen von Leseschwächen Problem der Datengrundlage: lautes vs. leises, sinnerfassendes Lesen Formen: Störung in Bezug auf Leserichtigkeit Leseverständnis Lesetempo
Komplexität der Leseleistung Fähigkeit zur genauen Fixierung des Wortes (etwas links von der Wortmitte) Fähigkeit zur Festlegung der Fixationsdauer Fähigkeit zu angemessen großem Blicksprung Fähigkeit zur Löschung des visuellen Eindrucks vor Fixierung des nächsten Wortes Fähigkeit zum Abgleich der visuell kodierten Reize mit Lautfolgen Fähigkeit zur Verknüpfung der gesehenen Buchstabenfolgen mit im Gedächtnis gespeicherten Bedeutungen
… dementsprechend Vielzahl möglicher Ursachen von Lesestörungen zu lange Fixationszeit, zu kurze Blicksprünge zu kurze Fixationszeit, zu große Blicksprünge (wg. falscher Lesestrategie oder hyperaktiv bedingt) erhöhte visuelle Ablenkbarkeit durch rechts vom gelesenen Wort stehenden Text Bild soeben gesehener Buchstaben wird nicht hinreichend gelöscht
… dementsprechend Vielzahl möglicher Ursachen von Lesestörungen Alexander Geist: Lesen und Rechtschreiben erlernen trotz Schwierigkeiten 24.10.2008 … dementsprechend Vielzahl möglicher Ursachen von Lesestörungen Sehen des Wortes während der Weiter-verarbeitung stört diese eingeschränktes Textverständnis infolge sinnentstellenden Lesens oder Absorption der Aufmerksamkeit durch den Lesevorgang gestörte Fähigkeit, visuelle Reize mit Bedeutungen zu verknüpfen (bei gegebenem Hörverständnis) zu kurzfristige Speicherung des Gelesenen, um Verknüpfung mit Bedeutung herzustellen Test: Hörverständnis ja, Leseverständnis nein 10 Jahre Steirischer Landesverband Legasthenie - Graz
Celeco-Lesetraining von R. Werth basierend auf differenzierter neurologischer Analyse des Lesevorgangs und der Lesestörungen computergestützt häusliches Training (kleine Einheiten über längeren Zeitraum), von Laien bedienbar umfangreiche Wortlisten und Texte (von Gero Tacke); Möglichkeit zum Import von Wortlisten / Vokabeln / Texten keine multimedialen Effekte und Animationen
Diagnosephase Fixierung: Wie lange müssen die Wortsegmente dargeboten werden, damit diese vom Kind sicher erkannt werden? Erkennen auf einen Blick: Wie viele Buchstaben eines Wortes können gleichzeitig erkannt werden? Ist die Erkennensleistung für flüssiges Lesen ausreichend? Abrufzeit: Wird das Gesehene zeitnah oder verzögert abgerufen und ausgesprochen? Erkennen nach Blicksprung: Können die zuvor untersuchten Einzelleistungen (Fixieren, ganzheitliches Erkennen und zeitnaher Abruf des Gesehenen) auch nach einem Blicksprung erfolgen?
Trainingsbeispiel 1 Ausdehnung der Breite von erkennbaren Wortsegmenten: Darbietung des Wortsegments einer Länge, die gerade nicht mehr sicher erkannt wird, für eine bestimmte Zeit Kleinschrittige Ausweitung der Wortsegmentbreite Prinzip „Hochsprungtraining“
Trainingsbeispiel 2 Training gegen Ablenkbarkeit: Text rechts vom zu lesenden Wortsegment wird ausgeblendet Zu lesender Text wird nur um Wortsegment verlängert, das gerade gelesen werden soll Später: Text rechts vom zu lesenden Wortsegment wird schwach eingeblendet, im Laufe der Zeit immer deutlicher
Trainingsbeispiel 2
Trainingsbeispiel 2
Bedenkenswerte Ansichten Werths „Alleiniges Lesenüben, ohne Berücksichtigung der Ursachen der Lesestörung, kann sich sogar nachteilig auf die weitere Entwicklung der Leseleistung auswirken. Es besteht nämlich die Gefahr, dass unerkannte falsche Lesestrategien, wie z.B. der Versuch, zu große Wortsegmente zu erkennen, zu frühes Abbrechen der Fixationsphasen und die Ausführung zu großer Blicksprünge durch bloßes Lesenüben weiter eingeübt werden und sich dadurch verfestigen.“
Bedenkenswerte Ansichten Werths „Auf diese Weise kann man Kindern eine Lesestörung regelrecht antrainieren, wenn man sie zu schnellem Lesen antreibt. Es ist dringend davon abzuraten, von den Kindern zu fordern, möglichst schnell zu lesen. (…) die Lesegeschwindigkeit ist nur mit größter Vorsicht zu erhöhen.“
(3) LRS und Konzentration Zusammenhänge in beiden Richtungen möglich: LRS Konzentrationsprobleme Konzentrationsprobleme LRS (v.a. Leseschwäche)
LRS Konzentrationsprobleme richtiges Lesen / Schreiben verlangt Betroffenen überdimensionales Maß an Konzentration ab Zusammenbruch der Konzentration Verstärkung der LRS-Symptomatik therapeutische Konsequenz: Steigerung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten Beseitigung der Konzentrationsprobleme
Konzentrationsprobleme LRS primäre Konzentrationsschwäche bewirkt Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben therapeutische Konsequenz: Steigerung der Konzentrationsfähigkeiten Reduzierung der Lese- und Rechtschreibprobleme
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom - ADS Symptombereiche: Störung der Aufmerksamkeit Impulsivität Hyperaktivität Nicht in allen Bereichen müssen Auffälligkeiten vorliegen!
ADS - Symptombereiche Störung der Aufmerksamkeit Missachten von Einzelheiten / „Flüchtigkeitsfehler“ Schwierigkeit, Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten (in normalen Situationen) scheint häufig nicht zuzuhören unvollständige Erledigung von Aufgaben / häufiger Wechsel von Aktivitäten Schwierigkeiten, Aufgaben / Aktivitäten zu organisieren Aversion gegen Aufgaben, die länger andauernde, geistige Anstrengung erfordern und keinen besonderen Reiz bieten verliert häufig Gegenstände leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize Vergesslichkeit bei Alltagstätigkeiten
ADS - Symptombereiche Hyperaktivität Zappeligkeit, unruhiges Herumrutschen steht in unpassenden Situationen auf, läuft herum … Schwierigkeit, sich ruhig mit etwas zu beschäftigen auf Achse sein, innere Getriebenheit z.T. Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen schwierige Abgrenzung von körperlichen Nervositätssymptomen
ADS - Symptombereiche Impulsivität platzt mit Antworten heraus platzt mit Antworten heraus Ungeduld, Schwierigkeit zu warten, bis er/sie an der Reihe ist unterbricht und stört andere häufig übermäßiger Redefluss starke und plötzliche Stimmungsschwankungen
ADS - Symptombereiche Zum Teil auftretende sekundäre Störungen: Störungen des Sozialverhaltens (Außenseitertum, Aggressivität usw.) motorische Ungeschicklichkeit graphomotorische Probleme sekundäre Neurotisierung
ADS - Symptombereiche grundlegende Kriterien: Verhalten nicht mit dem Entwicklungsstand und Intelligenzniveau vereinbar situationsübergreifend (nicht nur in der Schule) lang andauernd (mindestens sechs Monate; mindestens einige Symptome auch vor dem 7. Lebensjahr) klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen
ADS - Symptombereiche Haupttypen von ADS einfache Aufmerksamkeitsstörung (inkl. „Träumer“) Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität / Impulsivität Komorbidität mit Ängsten, Zwängen Legasthenie Dyskalkulie
ADS-Diagnostik Es gibt nicht den ADS-Test (so wenig wie den LRS-Test)! ADS-Diagnostik umfassende medizinische und psychologische Diagnostik Ausschlussdiagnostik
ADS-Diagnostik medizinische Seite z.B. Ausschluss von neurologischen Ursachen, Allergien, versteckter Epilepsie; umfassende Erfassung des internistischen Status psychologische Seite Leistungsdiagnostik (Intelligenz, Konzentration, v.a. Leistungsverlauf über längere Zeit) Persönlichkeitsdiagnostik Sammlung von umfassenden aktuellen Beobachtungsdaten der Eltern und Lehrer Auswertung früherer Daten (z.B. Zeugnisse)
ADS-Diagnostik Probleme Komplexität „Henne-Ei-Problem“
ADS – multimodaler Behandlungsweg Aufklärung / Information von Eltern, Lehrkräften und Kind Veränderung von Sichtweisen und damit der Beziehung zum betroffenen Kind bzw. des Selbstbildes Elterntraining: Wahrnehmung der positiven Seiten des Kindes, angemessenes kommunikatives Verhalten, Token-System, Lob für kleine Fortschritte, Alltags-Rituale usw. schulische Stützmaßnahmen: Sitzplatz, Vereinbarungen über hilfreiche Maßnahmen verhaltenstherapeutische Maßnahmen: Selbstinstruktion, Rituale, angepasste Gestaltung von Arbeitsläufen, Berücksichtigung individueller Stützfaktoren usw.
ADS – multimodaler Behandlungsweg Schaffung von Bewegungsmöglichkeiten, Sport kontrollierter Medienkonsum Ausbau von Aktivitäten, die mit Erfolg verbunden sind bei Störungen im Sozialbereich: Verhaltenstherapie zum Aufbau prosozialen bzw. kontaktfördernden Verhaltens Medikation
ADS und LRS Fazit: Bei markanten Problemen und/oder geringem Trainings- und Therapieerfolg ein Kind sicherheitshalber auf ADS untersuchen lassen!