Historische Netzwerkforschung - Soziale Netzwerkanalyse für Historiker Netzwerke und Geschichtswissenschaft Die Netz-Metapher Sozialbeziehungen Strukturen Sprache Historische Netzwerkanalyse Potenziale Herausforderungen Marten Düring Kulturwissenschaftliches Institut Essen marten.duering@kwi-nrw.de www.kulturwissenschaften.de Center for Interdisciplinary Memory Research www.memory-research.de
„Inzwischen redet und schreibt jedermann und nicht zuletzt auch jede Frau von Netzwerken, so dass dieses Wort neben dem noch beliebteren Diskurs zur zweithäufigsten Leerformel der Geschichtswissenschaft verkommen ist.“ Wolfgang Reinhardt: Kommentar: Mikrogeschichte und Makrogeschichte. In: Thiessen, Hillard von, Windler Christian (Hg.), Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Aussenbeziehungen der Frühen Neuzeit, Berlin, Verlag Duncker & Humblot, 2005 (=Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte 36, S.135.
Netzwerke in der Geschichtswissenschaft Mangelnde Differenzierung der unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Metapher „Netzwerk“ Zumeist narrative Beschreibung der Netzwerke, dadurch Schwierigkeiten der Repräsentation Häufig Konzentration auf Hauptakteure und nicht die Netzwerkstruktur selbst
Vier Ebenen des Netzwerk-Begriffs Selbstwahrnehmung der Akteure Sammel-Metapher für mehrere miteinander verbundene Akteure Untersuchungsobjekt Theorie/Methodengeleiteter Ansatz
Zugang 1: Geschichte und Sozialbeziehungen Prosopographien Kollektivbiographien Lehens- und Klientelbeziehungen Ökonomischer Austausch Vertrauen und Sozialkapital Genealogien Transfer und Verflechtung … thematisieren soziale Kontakte, gesellschaftlich normierte Praktiken und transnationale Beziehungen
Zugang 2: Die Netzwerk-Metapher in der Alltagssprache Gesamtsystem – „Das Handelsnetz der Fugger“ Handlungsspielraum – „Vitamin B“ Restriktion – „Netz von Intrigen“ Interdependenz – „Gleich und gleich gesellt sich gern“ Inklusion/Exklusion – „Auch das dichteste Netz besteht hauptsächlich aus Löchern.“ A. Seghers Alle 4 Bedeutungen stehen für wesentliche Erkenntnisinteressen in der Erforschung von Sozialstrukturen, sie sind vier Zugänge zu der übergeordneten Frage, wie Strukturen auf Individuen wirken
Zugang 3: Netzwerkanalyse und Alltagssprache Kristallisationspunkt, Anlaufstelle Nadelöhr, Vermittler „vernetzt sein“, Gruppenzwang, Eigendynamik Kreise, Cliquen, Zirkel Nahe & entfernte Bekannte und Verwandte … Alltagssprache enthält Hinweise auf nichtformalisierte Netzwerkanalyse Netz(werk) als Metapher definiert einen Untersuchungsgegenstand zeigt Handlungsspielräume und Restriktionen Verhältnis von Individuum und Struktur ist hist. Untersuchungsgegenstand
Historische Netzwerkforschung? Soziale Netzwerkanalyse + Quellenkritik Quellenkritische und systematisierte Erforschung von (komplexen) Sozialbeziehungen Interpretation und Wertung Ggf. vorsichtiger Einsatz von Quantifizierungen Kontextualisierung der Befunde
Warum Historische Netzwerkforschung? Konkreter Erkenntnisgewinn: Datenbank als Wissensspeicher Perspektivenwechsel durch Visualisierungen Perspektivenwechsel durch Quantifizierungen Denken in relationalen Strukturen
1. Informations-Datenbank
1. Informations-Datenbank Differenzierung Systematisierung Vergleichbarkeit Gedächtnisstütze
2. Visualisierung Reduktion komplexer Informationen Abstraktion Standardisierung zielgerichtete Repräsentation Ziel: Orientierung Ermöglicht Vergleich mehrerer Netzwerke Vgl. Lothar Krempel: Visualisierung komplexer Systeme. Grundlagen der Darstellung mehrdimensionaler Netzwerke. Campus Verlag 2005
2. Visualisierung: Filtern Wie kommt der Kontakt zu Helfern zustande?
2. Visualisierung: Filtern Wer vermittelt? Segals sehr aktiv bei der Kontaktherstellung anderen Helfer, starke Selbsthilfe Frage: Welche Strukturen zwischen Helfern existierten unabhängig von den Segals?
2. Visualisierung: Filtern Welche Beziehungen bestanden zwischen den Helfern? 7x mal nacheinander funktioniert Unterschiedlichste Beziehungskreise überbrückt Großes Potenzial an neue Helfer zu kommen - Wenige alte Bekannte schaffen Kontakte zu vielen neuen Helfern - Von 12 langfristigen Hilfen wurden - 6 durch alte Bekannte vermittelt (die wurden dann aber nicht Dauer-Helfer) - 4 durch neue Vertraute - 2 durch direkte Ansprache, also Täuschung Ahnungsloser Beständig: Kontakte zu Helfern über mehrere Monate, ständige Anlaufstellen, aber auch viele flüchtige Kontakte, insb. Bei Vermittlungen Erna Segal konstruiert bewusst Vertrauensbeziehungen Vermittler Hilfsempfänger Helfer
2. Visualisierung: 2-mode Netzwerke Person 2 1940 1941 Person6 … Wer ist zu welchem Zeitpunkt im Netzwerk aktiv?
Wer initiiert Hilfe, wer reagiert auf Hilfsgesuche? Person 2 Reagiert Initiiert Person6 …
2. Visualisierung: Aufbereitung von Informationen Wer ist mit wem in welcher Gruppe?
2. Visualisierung: Aufbereitung von Informationen Person 2 Gruppe 1 Gruppe 2 Person6 Gruppe 3 …
2. Visualisierung: Aufbereitung von Informationen Wer ist Walter Heymann? - Funktioniert auch umgekehrt: Verifizierung/Falsifizierung von Einflusspositionen Zeigt aber auch genutzte/ungenutzte Handlungspotenziale
2. Visualisierung: Entwicklung von Strukturen Wie entwickelte sich das Netzwerk zwischen 1938 und 1945? Nicht durchwegs: Geordnet, symmetrisch, dauerhaft, wiederkehrende Muster, ohne Hierarchie, Netz-Identität Hilfsnetzwerke eher: zum Teil beständige Strukturen aber auch flüchtig, zufällig, hierarchisch, konstruiert, improvisiert, unbewusst, separiert,
2. Visualisierung: Entwicklung von Strukturen
2. Visualisierung: Entwicklung von Strukturen
2. Visualisierung: Rekombination von Informationen
2. Visualisierung: Rekombination von Informationen Filterungsprozess: Auswahl an Beziehungen, Zeitpunkten, Orten, Attributen etc. Wer hilft legal, wer illegal?
2. Visualisierung: Rekombination von Informationen Wer überlebte die Zerschlagung des Netzwerkes? FIGURE 14 SURVIVING (GREEN) AND KILLED (RED) HALF-JEWS AND JEWS INSIDE THE NETWORK (GREY = UNKNOWN FATE)
3. Quantifizierungen Vergleich der 100 wichtigsten Helfer: meine Einschätzung vs. Top 100 höchste Werte für: Betweenness, Degree, Out-Degree, Kombination aller Werte
3. Quantifizierungen
Prämisse: Hoher Zentralitätswert = Wichtig 3. Quantifizierungen Prämisse: Hoher Zentralitätswert = Wichtig Person 2 Meine Top 100 Top 100 Betweenness Person 6 …
3. Quantifizierungen 62/100 38/100
Quellen / Ziel / Codierung / Bilder / Quant. / Denken Übereinstimmung zwischen… Meine Top 100 Top 100 Betweenness Ca. 60% Top 100 Degree Ca. 50% Top 100 Out-Degree Kombiniert Ca. 70%
3. Quantifizierungen
3. Quantifizierungen Nicht erfasst werden punktuell aktive Akteure, die ohne starke Vernetzung Entscheidendes vollbrachten
4. Denken in relationalen Strukturen
4. Denken in relationalen Strukturen Einerseits: Relationales Denken in abstrakter Form Handlungspotentiale und -restriktionen durch Einbettung/Isolation Individuum vs. Struktur
4. Denken in relationalen Strukturen Andererseits Vorsicht vor: Nichtberücksichtigung lokaler Wissenshorizonte De-Individualisierung Deterministischem Denken, keine Unterscheidung zwischen langanhaltenden Entwicklungen und Zufällen Suggestionskraft
eine modellhafte Rekonstruktion realer Beziehungen Netzwerkanalyse ist: eine modellhafte Rekonstruktion realer Beziehungen ein Komplexitätsreduktionswerkzeug: Datenbank Quellenkritik Filtern Rekombination Dynamik Berechnung Teil der Analyse, nicht ihr Ergebnis abhängig von guter Quellenkritik
Informations-Datenbank Perspektivwechsel Handlungspotenziale - Informationen zu Publikationen, Veranstaltungen, CfPs, Software, Tutorials unter: https://sites.google.com/site/historicalnetworkresearch/ Informations-Datenbank Perspektivwechsel Handlungspotenziale - Überprüfung bestehender Thesen Generierung von Hypothesen