Norbert Elias „Etablierte und Außenseiter“

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 Präsentation transkript:

Norbert Elias „Etablierte und Außenseiter“ Seminar: Klassische Studien Dozentin: Prof. Dr. Christine Weiske Referentinnen: Claudia Richter Anika Zihang Datum: 27.11.2008

Gliederung Lebenslauf von Norbert Elias Forschungskontext Die Situation in England nach dem 2. Weltkrieg Der Begriff der Figuration Der Machtbegriff bei Elias Forschungsziele Rezeption Norbert Elias´

Lebenslauf von Norbert Elias

Breslau 22. Juni 1897 in Breslau, als einziger Sohn deutsch-jüdischer Eltern geboren Vater mit eigenem Geschäft in der Textilbranche Mutter ist Hausfrau macht sein Abitur an einem Gymnasium, das von einem Großteil der Söhne gutgestellter jüdischer Familien besucht wurde jüdische Gesellschaft lebt überwiegend unter sich

Breslau 1915 geht er als Kriegsfreiwilliger zum Militärdienst einer Funkereinheit die Kriegszeiten spielen eine zentrale Rolle im Denken Norbert Elias´ „Ich veränderte mich während des Krieges.“

Breslau 1918 immatrikulierte sich Elias an der Universität Breslau in den Fächern Medizin und Philosophie brach das Studium der Medizin im ersten klinischen Semester ab verbringt je ein Semester in Heidelberg und Freiburg 1924 promoviert er zum Doktor der Philosophie „Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“ schon aus dieser Schrift gehen einige seiner späteren Themen hervor

Heidelberg 1925 – 1930 lebte Elias in Heidelberg kam das erste mal mit Soziologie in Berührung freundete sich mit K. Mannheim an und wurde eine Art Assistent für ihn wollte Habilitand bei Alfred Weber werden musste sich seine Fachkenntnisse zur Soziologie erst erarbeiten „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Erfahrungen, die ich selbst von klein auf als Jude in Deutschland machte, zu der Anziehungskraft beitrugen, die später die Soziologie für mich hatte.“

Frankfurt → verlässt Deutschland und geht nach Paris ins Exil 1930 – 1933 unbezahlter Assistent bei Karl Mannheim 1933 reicht Elias seine Habilitationsschrift „Der höfische Mensch. Ein Beitrag zur Soziologie des Hofes, der höfischen Gesellschaft und des absoluten Königtums“ ein Habilitationsvorhaben kommt nicht zum Abschluss, da die deutschen Universitäten durch die Nationalsozialisten von jüdischen und kritisch denkenden Wissenschaftlern „gesäubert“ wurden → verlässt Deutschland und geht nach Paris ins Exil

England 1935 emigriert Elias nach London er versucht dem Exil durch wissens. Arbeiten zu entkommen Recherchen zu „Über den Prozess der Zivilisation“, das 1939 erscheint Eltern finanzieren Vordruck des Werkes, letztendlich wird es aber in der Schweiz verlegt in Deutschland und Österreich darf das Buch nicht erscheinen sein Leben wird ihm von einer jüdischen Flüchtlingskommission ermöglicht

England 1938 letzte Begegnung mit seinen Eltern 1940 wird er für 8 Monate als „enemy alien“ interniert 1945 – 1954 ist er in der Erwachsenenbildung tätig und nimmt an einer Ausbildung zum Gruppenanalytiker teil

weitere Stationen in seinem Leben 1954 wird er Dozent für Soziologie an der Universität zu Leicester trotz Einbindung in die scientific community bleibt Elias ein Außenseiter 1962 – 1964 befristete Professur in Ghana 1965 erscheint die Studie „The Established and the Outsiders“ (Deutschland 1990) 1969 – 1971 Gastvorlesungen in den Niederlanden

weitere Stationen in seinem Leben 1975 richtet er sich eine Wohnung in Amsterdam ein, lebt jedoch aufgrund seiner Gastprofessuren auch in Deutschland 1976 wird er durch die Taschenbuchausgabe von „Über den Prozeß der Zivilisation“ einem breiten Publikum bekannt 1977 erhält Norbert Elias den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt 1990 stirbt Elias im Alter von 93 Jahren in Amsterdam

Forschungskontext

Die Situation in England nach dem 2. Weltkrieg Krieg hatte Leistungsfähigkeit des Landes überfordert Zahlungsfähigkeit mittels amerikanischer Kredite britische Wirtschaft litt unter Zusammenbruch der Weltwirtschaft eher Mangelwirtschaft als staatlich gesteuerte Wirtschaftsentwicklung Abstriche am Prinzip der staatlichen Wirtschaftslenkung und am kollektivistischen Politikansatz → kompromisshafte Verbindung neuer und traditioneller Komponenten (welfare state, mixed economy, liberale Wirtschaftspolitik, free collective bargaining)

Die Situation in England nach dem 2. Weltkrieg Verbindung war für beide Hauptlager der brit. Politik (Konservative / Unternehmer und Labour / Gewerkschaften) akzeptabel aber: Labour war zur Rücksichtnahme auf Unternehmer gezwungen; Konservative mussten Gewerkschaften als Machtfaktor akzeptieren → Nachkriegskonsens als Ausdruck einer spezifischen gesell. und polit. Kräftekonstellation seit 50er: internat. Positionsverlust der brit. Ökonomie aufgrund stärkeren Ansteigens der Importe als der Exporte → Wettbewerbsschwäche der britischen Industrie

Der Begriff der Figuration Figuration und Prozess sind zentrale Begriffe der allgemeinen menschenwissenschaftlichen Theorie Elias´ nach ihren zentralen Konzepten wird diese Theorie heute als Prozess- und Figurationstheorie bezeichnet Grundlinien der Prozess- und Figurationstheorie hat Elias in seinem Werk „Über den Prozess der Zivilisation“ entwickelt er wies zahlreiche Figurationen auf, die für die Entwicklung der abendländischen Zivilisation entscheidende Bedeutung hatten

Der Begriff der Figuration in Soziologie und Alltagssprache häufig von „dem Betrieb“ oder „der Familie“ die Rede → selbstständig handelnde Individuen? Elias: Symptom der Verdinglichung und Objektivierung der Welt Menschen für Elias nur im Plural vorhanden Instrument, um plurale Existenz von Menschen soziologisch zum Ausdruck zu bringen, ist der Begriff der Figuration

Der Begriff der Figuration „Als Figurationen bezeichnet Elias die Interdependenzgeflechte, die die einzelnen Menschen und ihre Motive aneinander binden und sie dazu bringen, in einer ganz spezifischen Weise, in der sie vielleicht nicht handeln würden, wenn sie wirklich völlig frei, also frei von sozialen Abhängigkeiten wären.“ (Baumgart / Eichener 1991, S. 102) Figurationen sind Beziehungsgeflechte von Menschen, die mit der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen untereinander immer komplexer werden Mitglieder einer Figuration durch viele solcher gegenseitiger Abhängigkeiten (Interdependenzketten) aneinander gebunden

Der Begriff der Figuration Abbildung 1: Grundschema des egozentrischen Gesellschaftsbildes (Quelle: Treibel 2006, S. 200)

Der Begriff der Figuration Abbildung 2: Eine Figuration interdependenter Individuen („Familie“, „Staat“, „Gruppe“, „Gesellschaft“, usw.) (Quelle: Treibel 2006, S. 201)

Der Begriff der Figuration Figurationen sind nicht statisch Kerngedanke des Figurationskonzeptes: Menschen sind nicht völlig autonom, aber auch nicht völlig abhängig → Elias spricht von „semiautonomen“ Individuen diese Auffassung wirkt sich auf Elias´ Machtbegriff aus

Der Machtbegriff bei Elias Macht als monopolartige Kontrolle über Ressourcen Elias: Macht ist ein konstitutives Element jeder sozialen Beziehung und damit auch der gesamten gesellschaftlichen Organisation menschliche Kontakte und gesell. Institutionen, die aus längeren Handlungsketten bestehen, gründen auf Machtverhältnissen bzw. werden durch diese grundlegend geprägt

Der Machtbegriff bei Elias Elias: Macht in gesellschaftlichen Beziehungen bedeutet die Fähigkeit, soziale Beziehungen nach seinen eigenen Zwecken ausrichten und kontrollieren zu können Ressourcen als Machtmittel Entstehung von Machtungleichgewichten aufgrund „funktionaler Interdependenzen“ Elias: „funktionale Interdependenz“ = Machtbalance

Der Machtbegriff bei Elias Machtbalance ist selten ausbalanciert extreme Verschiebung des Gleichgewichtes zugunsten einer Seite erhält Machtbalance trotzdem → aufeinander angewiesen sein beider Seiten Beziehungen lösen sich auf, wenn Balance zerbricht Bedeutung für gesellschaftliche Prozesse: Machtbeziehung ist beendet und Beteiligte stehen in keinem gesellschaftlichen Verhältnis mehr zueinander

Forschungsziele ursprüngliches Ziel war die Untersuchung der vermeintlich höheren Deliquenzrate in einer der drei Nachbarschaften von Winston Parva aber: nach einiger Zeit verschob sich das Forschungsinteresse da ein eigentümliches Gepräge der Nachbarschaften und der Beziehungen zueinander herrschte, die nach Meinung Elias` besondere Beachtung verdiente untersuchten die Probleme der Beziehungen zwischen den verschiedenen Nachbarschaften

Rezeption Norbert Elias´ „Inzwischen ist er von einem Außenseiter zu einer Mittelpunktfigur der Sozialwissenschaften geworden.“

Rezeption „Sein Gesamtwerk entzieht sich einer Zuordnung zu bestimmten Einzeldisziplinen oder gegenwärtig vorherrschenden Paradigmen der Geschichts- und Sozialwissenschaft. Die Innovation, die sein komplexes Konzept der Menschenwissenschaften darstellt, wurde daher erst mit einiger Verspätung erkannt.“ mit der Veröffentlichung von „Was ist Soziologie?“ wurde ihm die Möglichkeit eröffnet, seine Theorie langfristiger Prozesse einem breitem Publikum vorzustellen letztendlich waren erst 30 Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes die Voraussetzungen für eine umfassende Rezeption gegeben

Rezeption Etablierten-Außenseiter-Figuration hatte zunächst kaum Eingang in Ungleichheitssoziologie gefunden mittlerweile wird sie immer häufiger verwendet um Benachteiligungsverhältnisse zu veranschaulichen und zu erklären (ethnisch, religiös, geschlechtsspezifisch…) in 1980er Jahren zahlreiche Arbeiten, die Elias´ Theorie aufgreifen, weiterentwickeln und empirisch anwenden

Rezeption Prozesstheorie wird jedoch in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften und angrenzenden Disziplinen aufgegriffen → es entwickelten sich umfangreiche kritische Debatten, von Detailkritik bis zur grundsätzlichen Ablehnung seit den 1990er Jahren gehört die Theorie zum festen Repertoire der Soziologie „Elias lässt uns eine Chance, und darin liegt – neben wissenschaftlichen Gründen – gewiß auch die Attraktivität seiner Prozeßtheorie begründet: Sie läßt uns Hoffnung, verändernd in den Lauf der Geschichte einzugreifen.“

Norbert Elias – ein Etablierter oder Außenseiter? Diskussion Norbert Elias – ein Etablierter oder Außenseiter?

Quellen Barlösius, Eva (2004): Kämpfe um soziale Ungleichheit. Machttheoretische Perspektiven. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Baumgart, Ralf / Eichener Volker (1991): Norbert Elias zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag. Elias Norbert (1993): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Kastendiek, Hans / Stinshoff, Richard (2006): Kontinuität und Umbruch. Zur Entwicklung Großbritanniens seit 1945. In: Bundeszentrale für politische Bildung [Hrsg.] (2006): Länderbericht Großbritannien. 3. aktualisierte und neu bearbeitete Auflage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Korte, Hermann (1999): Norbert Elias (1897 – 1990). In: Kaesler, Dirk [Hrsg.] (1991): Klassiker der Soziologie. München: Verlag C.H. Beck. Schäfers, Bernhard [Hrsg.] (2003): Grundbegriffe der Soziologie. 8., überarbeitete Auflage. Opladen: Leske + Budrich. Treibel, Anette (2006): Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. 7., aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Van Voss, Heerma A.J. / Van Stolk, A. (1990): Norbert Elias über sich selbst. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.