Prof. Dr. Mouhanad Khorchide Scharia – Der missverstandene Gott Auf dem Weg zu einer modernen islamischen Ethik Prof. Dr. Mouhanad Khorchide khorchide@uni-muenster.de
Scharia als juristisches Schema ist ein menschliches Konstrukt? Die Scharia ist ein Produkt historisch gewachsener Versuche vieler Gelehrter, den Islam auszulegen und zu interpretieren. Diese Bemühungen sind prinzipiell ergebnisoffen. Daher kann man nicht von „der“ Scharia sprechen. Rechtliche Bestimmungen betreffen primär die gottesdienstlichen Praktiken.
Zwei Zugänge zum Islam Die Geschlossenheit * des Islams * des Korans * Gottes Die Offenheit: * des Islams * des Korans * Gottes
Der Islam Geschlossenheit des Islams vom Himmel gefallene Religion juristisches Schema, das möglichst alle Lebensbereiche erfasst und bestimmt als statische Religion Ahistorische Religion Die Offenheit des Islams: in der Zeit entstandene Religion Medium der Entfaltung von Spiritualität und Ethik dynamische Religion historische Religion
Der Koran Geschlossenheit des Korans: Monolog Gottes juristisches Buch, das klare Instruktionen beinhaltet Belehrung, die klare Handlungsanleitungen gibt Die Offenheit des Korans: Dialog spirituelles und ethisches Buch Anstoß zu einem besseren Leben
An welchen Gott glauben Muslime? Geschlossenheit Gottes: der unbewegte Beweger, er ist statisch der emotionslose der alles determiniert und vorbestimmt dem es nur um sich selbst geht Die Offenheit Gottes: der bewegte Beweger, er ist dynamisch der Emotionen zeigt der den Menschen Freiheit geschenkt hat und daher die Geschichte gemeinsam mit ihm schreibt dem es um den Menschen geht
Zwei Zugänge zum Islam Ein monologisches Modell Betrifft Das Gottesbild Das Menschenbild Verstehen des Islams Verstehen des Korans Ein dialogisches Modell Betrifft Das Gottesbild Das Menschenbild Verstehen des Islams Verstehen des Korans
Zwei Vorstellungen des Gott-Mensch-Verhältnisses Eine monologische restriktive, in der es um die Verherrlichung Gottes geht Eine dialogische, in der es um eine Beziehung geht. In dieser steht der Mensch als Partner Gottes.
An welchen Gott glauben Muslime? an einen Gott, der nur an sich selbst glaubt, oder an einen Gott, der an den Menschen glaubt?
Scharia Umstrittener Begriff Was bedeutet Scharia? Der Weg zur Quelle/Wasserquelle Der Weg zu Gott
Scharia Was macht der Weg zu Gott aus? Juristische Kategorien, oder spirituelle und ethische Kategorien?
Die Gott-Mensch-Beziehung Wird diese lediglich über juristische Kategorien definiert? Ist die Gott-Mensch-Beziehung eine juristische? Oder ist die Gott-Mensch-Beziehung eine dialogische, ja eine Liebesbeziehung?
Geht es Gott um sich selbst, oder geht es ihm um den Menschen? Gottesbilder.. Geht es Gott um sich selbst, oder geht es ihm um den Menschen?
Gottesbilder Stellen Religionen ein Medium der Verherrlichung Gottes, oder ein Medium für eine dialogische Begegnung zwischen Gott und Mensch dar? Wobei eine Begegnung mit Gott zuerst eine Begegnung mit sich selbst voraussetzt.
Monologisches Modell Religionen als Bedienungsanleitung für den Menschen Gott-Mensch-Beziehung: Gehorsamkeit des Menschen als Verherrlichung von Gott
Monologisches Modell Offenbarung: Instruktionen religiöses Lehren und Lernen: Vermittlung göttlicher Instruktionen
der Mensch als entmündigtes Wesen kaum Raum für religiöse Erfahrungen Monologisches Modell der Mensch als entmündigtes Wesen kaum Raum für religiöse Erfahrungen
Monologisches Modell
Gott in vollkommenen Kategorien gedacht: Anselm von Canterbury: Gott ist immer größer als gedacht werden kann: Die islamische Formel: Allahu Akbar. Bedingungslose Zuwendung Gottes dem Menschen gegenüber.
Dialogische Beziehung Q 5:54: »Wenn ihr euch abwendet, dann wird Gott Menschen bringen, die Er liebt und die Ihn lieben.« Anthropologische Wende im Islam
Offenbarung als Dialog zwischen Gott und Menschen Dialogisches Modell Offenbarung als Dialog zwischen Gott und Menschen Religion dient nicht der Verherrlichung Gottes, sondern der Orientierung u. Glückseligkeit des Menschen
Dialogisches Modell Gott-Mensch-Beziehung: dialogische Beziehung Gott sucht Mitliebende: Mensch-Gott-Beziehung als Liebesbeziehung Der Mensch verwirklicht die Intention Gottes
Sinn der Schöpfung Aus der Intention Gottes: Seine Barmherzigkeit und Liebe mitzuteilen. „Es ist der Allbarmherzige, der den Menschen den Koran gelehrt hat, der den Menschen erschaffen hat.“ (Sure 55) „… er liebt sie und sie lieben ihn“ (5:54)
Als Auftrag für den Menschen: »Ich habe den Menschen und den Dschinn [ein Geistwesen] nur deshalb erschaffen, damit sie mir dienen. Ich wünsche keine Versorgung von ihnen, noch wünsche ich, dass sie mich speisen. Gott ist es, der allen Unterhalt beschert und Macht und Festigkeit zu eigen hat.« (Koran 51:56-58)
Sinn der Schöpfung Was heißt es Gott zu dienen, zu lieben, barmherzig zu Gott zu sein? Hadith: „Ich war krank… ich war hungrig … ich war durstig…“ (überliefert Nach Muslim)
Der Mensch als Khalif Der Mensch als Medium der Verwirklichung von Gottes Intention nach Liebe und Barmherzigkeit
Dialogisches Modell Der Koran ist das Resultat von Dialog, Debatte, Argumentation, Annahme und Zurückweisung.
Dialogisches Modell
Konsequenzen Entlang dieser beiden Modelle der Gott-Mensch-Beziehung, unterscheiden sich 2 Auffassungen von Scharia:
Scharia 1. Ansammlung an Gesetzen/Befehlen, welche dem Menschen von außen aufgesetzt werden und unhinterfragt befolgt werden müssen, anderenfalls droht die göttliche Strafe.
Scharia 2. Eine innere Haltung des Individuums und der Gesellschaft auf dem Weg zu Gott, die sich im Vertrauen des Menschen auf Gott und in den Einstellungen sowie im Handeln des Menschen und der Gesellschaft widerspiegelt.
Scharia ist der Weg des Herzens und der gerechten Gesellschaftsordnung Scharia ist kein Rezept, keine Gesetze, sondern ein Prozess auf dem Weg zu Gott
Individueller und gesellschaftlicher Auftrag 1. Läutern des Herzens 62:2: „um sie zu läutern“ »Glückselig ist, wer seine Seele reinigt, unselig aber, wer sie verkommen lässt« (Koran 91:7-10)
Individueller und gesellschaftlicher Auftrag 2. Gerechtigkeit: 57:25: „… und schickten mit ihnen das Buch und die Waage herab, auf dass die Menschen Gerechtigkeit üben möchten.“
Der Prozess der Läuterung der Seele kann nur in der Selbsterfahrung, in der ständigen Konfrontation mit sich selbst, angegangen werden. Der Islam macht auf diesen Prozess aufmerksam, erinnert den Menschen an den Auftrag der Selbstläuterung, schafft auch religiöse Medien und Anlässe, um in sich hineinzugehen, wie das Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt, das freie Gespräch mit Gott, gibt jedoch keine konkreten Rezepte, wie jedes Individuum sich selbst läutern soll…
Rituale sind kein Selbstzweck „Das Gebet soll von Verwerflichem und Schlechtem fernhalten“ (Koran 29:45) Das Fasten soll zur Frömmigkeit beitragen (2:183)
Rituale sind kein Selbstzweck „Wen sein Gebet von Üblem und Verwerflichem nicht fernhält, der entfernt sich nur noch mehr von Gott.“
Konsequenzen für die religiöse Erziehung Monologisches Modell Konzept der Vermittlung SuS sind Objekte Bevormundung Unreflektiertes Hinnehmen von Anweisungen Schwarze Pädagogik Dialogisches Modell Konzept der Aneignung SuS sind Subjekte Selbstbestimmung Befähigung zur kritischen Reflexion Dialogische Pädagogik
Der Mensch verwirklicht Gottes Intentionen Der Mensch ist ein Medium der Verwirklichung göttlicher Liebe und Barmherzigkeit durch sein freies Handeln.
Der Mensch verwirklicht Gottes Intentionen Gott und Mensch arbeiten Seite an Seite, um Liebe und Barmherzigkeit als gelebte Wirklichkeit zu gestalten.
Gott und Mensch im Dialog Gott sucht nach Menschen, durch die er seine Intention, Liebe und Barmherzigkeit, verwirklichen kann; Menschen, die bereit sind, seine Angebote anzunehmen und zu verwirklichen.
Gott und Mensch im Dialog Gott macht dabei jedem einzelnen Menschen kontinuierlich Angebote. Es liegt am Menschen, sich in Freiheit dafür oder dagegen zu entscheiden; Gott nimmt ihm diese Entscheidung nicht ab.
Indikator von Religiosität Wie viel von Gottes Intention wird durch meinen Lebensentwurf, durch mein Handeln, durch meine Haltungen und durch meinen Charakter Wirklichkeit?
Das Herz »An dem Tag werden weder Geld noch Kinder helfen, erfolgreich sein wird der, der mit einem gesunden Herzen zu Gott kommt« (Koran 26:88-89)
Ghazali: »Wisse: Der Schlüssel zur Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis. Darum ist gesagt worden: ›Wer sich selbst erkannt hat, der hat seinen Herrn erkannt‹, und darum heißt es im Koran: ›Wir werden sie Unsere Zeichen überall auf Erden und an ihnen selbst sehen lassen, damit ihnen deutlich wird, dass es die Wahrheit ist‹. Es gibt nichts, was dir näher wäre, als du selbst. Wenn du dich aber selbst nicht kennst, wie willst du dann andere kennen?«
Scharia beginnt mit der Selbsterkenntnis Der Koran unterscheidet zwischen einem bloßen Bekenntnis zum Islam und einer inneren Haltung, die das Herz ergreift und ihren Ausdruck im Charakter und im Handeln des Menschen findet. »Die Beduinen sagen: ›Wir glauben.‹ Sag: ›Ihr glaubt nicht.‹ Sagt vielmehr: ›Wir sind ergeben [zugehörig zum Islam], und nicht eingedrungen ist der Glaube in eure Herzen.‹« (49:14)
Der Quran
Die Verkündigung des Qurans Monologisches Verständnis vs. Dialogisches Verständnis
Der Quran als Interaktion „Mohammed, sie fragen dich nach… Sag ihnen dies und jenes“ „Ihr Menschen…“ „Ihr Gläubigen..“ „Ihr Leute der Schrift..“ Interaktion zwischen Gott und der Gemeinde
Diskursivität der Verkündung des Korans Der Koran ist das Resultat von Dialog, Debatte, Argumentation, Annahme und Zurückweisung. Der Koran als Diskurs kann nur auf diskursive Weise verstanden werden; das heißt, dass sowohl die individuellen Erfahrungen als auch das gesellschaftliche Umfeld des Lesers seine Verstehensweise des Korans beeinflussen.
Interaktion: Akteure im Quran
Zwei unterschiedliche Haltungen Abgeschlossenheit des Korans vs. Diskursivität des Korans und entsprechend des Islams. Eine Haltung des Sich-Öffnens Eine Haltung des Sich-Verschließens
Kriterium der Barmherzigkeit 21:107: „Wir Gott haben dich Mohammed ausschließlich als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt“ Der „kategorische Imperativ“ von Kant als Kriterium für die Bestimmung der Barmherzigkeit ?
Beispiel: Erbschaft der Tochter Sure 4, Vers 11: „Gott gebietet euch hinsichtlich eurer Kinder, dem Kind männlichen Geschlechts das Gleiche an Erbteilen zu geben wie zwei Kindern weiblichen Geschlechts.“