Leib, Körper, Gehirn Zur Theorie der Verkörperung (SS 2017)

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 Präsentation transkript:

Leib, Körper, Gehirn Zur Theorie der Verkörperung (SS 2017) Thomas Fuchs

Kosmos im Kopf? 8

Der Ego-Tunnel „Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. Die moderne Neurowissen­schaft hat gezeigt, dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Kon­strukt, son- dern auch eine höchst selektive Form der Darstel­lung von Information ist … Zuerst erzeugt unser Ge­hirn eine Si­mulation der Welt, die so per­fekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein in­neres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. (…) Wir sind nicht wirklich in direktem Kontakt mit der Welt oder mit uns selbst. Wir leben unser bewuss­tes Leben im Ego-Tunnel.“ T. Metzinger (2010) 8

Das „Gehirn im Tank“ „Im Prinzip könnten wir dieses Erlebnis [der Welt] also auch ohne Augen haben, und wir könnten es sogar als entkörpertes Gehirn in einer Nährlösung haben.“ (Metzinger 2010) 8

8

Die Welt ist nicht im Kopf. Das Subjekt ist nicht im Gehirn. Im Gehirn gibt es keine Gedanken. 8

“Sie haben ihr Gehirn nicht, Sie sind Ihr Gehirn.“ (Spitzer 2005) „Unser Ich ist … eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können.“ (G. Roth 1994) “Sie sind Ihre Synapsen; sie sind das, was Sie sind.“ (LeDoux 2002) “Sie haben ihr Gehirn nicht, Sie sind Ihr Gehirn.“ (Spitzer 2005) 8

„Peters Gehirn überlegte angestrengt, was es nun tun sollte. Als es keine Lösung fand, entschied es sich, erst einmal abzuwarten.“ 8

Der Mensch denkt, nicht das Gehirn. (Erwin Straus 1956) 8

(1) Menschlicher Geist ist lebendiger, verkörperter Geist. (2) Das Gehirn ist nur ein Organ eines Lebewesens – ein Vermittlungs- und Beziehungsorgan. 8

Austausch- und Kreisprozesse 8

Gehirn-Körper-Dualismus der Neurowissenschaften Körper als Trägerapparat Gehirn als „Konstrukteur“ der erlebten Welt und des Subjekts „Zentralismus des Gehirns“  Vernachlässigung von Wechselbeziehungen 8

„Kurzschluss“ von Gehirn und Geist Mentale Prozesse Physikalische Prozesse Gehirn 8

Das Gehirn als Organ des Lebewesens „Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Gehirn; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes, vom Leib abgesondertes Organ. Das Gehirn ist nur solange Denkorgan, als es mit einem lebendigen Leib verbunden ist.“ Ludwig Feuerbach 1835 8

Doppelaspekt des Lebewesens Bewusste Lebens-äußerungen Lebe- wesen Physio-logische Prozesse 1.- / 2.-Person- Perspektive 3.-Person- Perspektive 8

Doppelaspekt der Person Erlebter Leib Physi-scher Körper Person 1.- / 2.-Person- Perspektive 3.-Person- Perspektive 8

„Embodied Cognitive Neuroscience“ (Varela 1991, Clark 2000, Thompson 2007 u.a.)  Subjektivität ist verkörpert in der senso-motorischen Aktivität des Organismus in seiner Umwelt („embodied, embedded, enactive“)  Gehirn als Vermittlungs- und Beziehungsorgan, vernetzt mit der biologischen, sozialen und kulturellen Umwelt Funktion des Gehirns: statt internen Repräsentationen  Handlungsmöglichkeiten für den Organismus in seiner Umwelt 8

Verkörperte Subjektivität (1) Interaktion von Gehirn und Körper basales Selbst Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt ökologisches Selbst (3) Interaktion von Personen soziales Selbst 8

(1) Interaktion von Gehirn und Körper – Basales Selbst Stimmungen, Affekte Leibliches Hintergrunderleben, Kernbewusstsein basales Selbst 8

(2) Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt Wahrnehmung Objekt Körper Bewegung Sensomotorischer Funktionskreis 8

Verkörperung: In-der-Welt-Sein /-Handeln „offene Schleifen“ Wahrnehmen Senso-motorischer Funktionskreis „zuhanden“ Handeln

Ein Objekt zu erkennen bedeutet zu wissen, wie man mit ihm umgeht. Verkörperte Wahrnehmung Wahrnehmen Funktions- kreis „zuhanden“ Handeln Ein Objekt zu erkennen bedeutet zu wissen, wie man mit ihm umgeht.

Instrumentengebrauch Körper ökologisches Selbst 8

(3) Interaktion von Personen – Soziales Selbst Körper Körper Verkörperte Intersubjektivität „Zwischenleiblichkeit“ 8

Zwischenleiblichkeit Ausdrucks- imitation (Meltzoff & Moore 1989) 8

Zwischenleiblichkeit und frühe Intersubjektivität 8

(3) Interaktion von Personen Körper Körper Verkörperte Interaktionen Zwischenleibliche Resonanz soziales Selbst 8

Verkörperte soziale Wahrnehmung Früher Mutter-Kind-Dialog: - Proto-Konversationen, Affektabstimmung → Erwerb affektiv-interaktiver Schemata: „schemes of being-with“, „implizites Beziehungswissen“ (D. Stern) → Andere zu verstehen heißt zu wissen wie man mit ihnen umgeht. 8

Soziale Entwicklungsneurobiologie Körper Körper Rückwirkung durch Neuroplastizität „verkörperte Sozialisation“ 8

Geist und Gehirn Nicht das Gehirn produziert den Geist, sondern der verkörperte Geist und das Gehirn formen einander wechselseitig. Gehirn als Matrix von Erfahrungen 8

Gehirnentwicklung durch Interaktion Sur et al. (2000): „Rewiring“ bei Frettchen Hör-Areal wird durch visuomotorische Stimulierung zum Seh-Areal Die Funktion schafft sich durch Ausübung ihr zerebrales Organ. 8

Gehirnentwicklung durch Interaktion „Erst durch das Denken wird das Hirn zum Denkorgan ausgebildet, ans Denken gewöhnt, und durch die Gewohnheit, dieses oder jenes, so oder so zu denken, auch modifiziert, bleibend bestimmt; aber durch das ausgebildete Denkorgan wird auch das Denken erst selbst gebildetes, geläufiges, gesichertes. Was Wirkung ist, wird zur Ursache, und umgekehrt.“ (Feuerbach 1838) 8

Wechselbeziehung von Prozess und Struktur Interaktive Prozesse Psyche top down bottom up Struktur Neuronales Substrat Gehirn

Geist und Gehirn Das Gehirn ist ein durch den Lebensvollzug, also sozial und biographisch geformtes Organ. 8

Zusammenfassung: Verkörpertes Selbst (1) Leibliches Hintergrundempfinden basales Selbst Beziehung von Organismus und und Umwelt ökologisches Selbst (3) Verkörperte Intersubjektivität, Zwischenleiblichkeit soziales Selbst 8

Bewusstsein als Integral Bewusstsein entsteht nur im übergreifenden System von Organismus und Umwelt. Organis-mus Bewusst- sein Umwelt 8

Kausalität? Wechselwirkung? – Psychophysische Beziehungen Neurobiologische Prozesse und psychische Erlebnisse sind zwei komplementäre Aspekte des Lebensprozesses. Die Person verkörpert und umfasst beide Aspekte. 8

Sokrates zu physikalischen Ursachen „Ebenso, wenn der Physiker von unserm Gespräch andere derglei-chen Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich, die Luft, das Gehör und tausenderlei dergleichen, ohne doch die wahren Ursachen anzuführen: dass nämlich, weil es den Athenern gefiel, mich zu verurteilen, deshalb es auch mir besser schien, hier sitzen zu bleiben und die Strafe geduldig auf mich zu nehmen … Denn, beim Hund, schon lange wären diese Sehnen und Knochen in Megara oder bei den Böotiern, durch die Vorstellung des Besseren in Bewegung gesetzt, hätte ich es nicht für gerechter und schöner gehalten, dem Staate die Strafe zu büßen, die er anordnet, als zu fliehen. Also der-gleichen Ursachen zu nennen ist gar zu wunderlich.“ Platon, Phaidon 8

Übergeordnete Organisation: Zirkuläre Kausalität Wechselbeziehung zwischen Ganzem und Teilen bzw. zwischen höheren und tieferen Systemebenen des Organismus Selbstorganisation: Das Ganze ist die Bedingung für die Existenz und Funktion der Teile, durch die es umgekehrt realisiert wird.  “Abwärts-/Aufwärts-Kausalität” Hochstufige Ebene Aufwärts Abwärts Niederstufige Ebene

Interaktive Prozesse Struktur Neuronales Substrat Zirkuläre Kausalität Psyche top down bottom up Struktur Neuronales Substrat Gehirn

„Abwärts-Kausalität“ – „causa formalis“ Hochstufige Ebene Abwärts Beispiel: Gene - Organismus Aufwärts Niederstufige Ebene

„causa formalis“ – Formierende Ursache

Zirkuläre Kausalität – „causa formalis“ Hochstufige Ebene Abwärts Geistiges wirkt “informierend”: Beispiel: Sprechen In jeder bewussten Tätigkeit wirkt und handelt das Lebewesen als übergeordnete, formierende Ursache. Aufwärts Niederstufige Ebene

Die Rolle der Subjektivität Subjektives Erleben beeinflusst die neuronalen Strukturen. Nicht das Gehirn trifft Entscheidungen, sondern die Person. Subjektivität als höchste Integrationsebene des Organismus ist die Voraussetzung für Freiheit: Selbstbestimmung und Selbststeuerung des Organismus 8

Resümee 8

Leib, Körper, Gehirn Zur Theorie der Verkörperung (SS 2017) Thomas Fuchs

Austausch- und Kreisprozesse 8

Überblick aspektdualistische Konzeption der Person als Einheit von „Leib“ und „Körper“. ökologische Theorie des lebendigen Organismus Gehirn als Organ eines Lebewesens in seiner Umwelt Menschliches Gehirn als „Beziehungsorgan“ 8

Verkörperte Subjektivität 8

Verkörperte Subjektivität Bewusstsein ist nicht „im Körper“, sondern es ist verkörpert: Bewusst sind bestimmte, integrale Tätigkeiten eines lebendigen, sinnesempfänglichen und eigenbeweg- lichen Organismus. Merleau-Ponty (1966): leibliche Subjektivität; „Zur-Welt-Sein“ (être-au-monde) durch das Medium des Leibes 8

Der Leib als Subjekt Präreflexive Selbsterfahrung des Lebens Basales Selbsterleben als „Selbstentzug“ (Waldenfels 2002) Leben ist das, was uns widerfährt und uns affiziert, bevor wir darauf antworten können. Lebensgefühl, „Zumutesein“ (Vitalität, Frische, Müdigkeit …) Elementarer Antrieb, Trieb, Drang (Konation) 8

Der Leib als Subjekt „... nicht ich bin es, der mich denken lässt, sowenig ich es bin, der mein Herz schlagen lässt“ (Merleau-Ponty 1986). Die Bewegungen meines Denkens wie die meines Armes sind Selbstbewegungen, die ich nicht „machen“, sondern allenfalls auslösen und leiten kann. Leiblichkeit als Grund des Werdens, Ursprung der Spontaneität und Selbstbewegung 8

Der Leib als Subjekt Verborgener, im Hintergrund „gelebter“ Leib basales Lebensgefühl, Befinden Resonanzraum aller Stimmungen und Gefühle Zentrum und zugleich Medium aller Wahrnehmungen, Bewegungen und Handlungen 8

Der Leib als „natürliches Subjekt“ „Es gibt also, mir zugrunde liegend, ein anderes Subjekt, für das eine Welt schon existiert, ehe ich da bin, und das in ihr meinen Platz schon markiert hat. Dieser (…) natürliche Geist ist mein Leib.“ (Merleau-Ponty 1966) 8

Der Leib als Subjekt Ensemble aller Fähigkeiten und Vermögen Vorentwürfe von Lebensvollzügen grundlegende Erfahrung des Könnens Der Leib bildet ein übergreifendes System von Orga- nismus und Umwelt, das sich im „Zur-Welt-Sein“ des leiblichen Subjekts, im grundlegenden Vertrautsein mit der Welt manifestiert. 8

Der Leib als Subjekt zweifache „Entkörperung“ im Dualismus: Objektivierung des Leibes zum bloßen Körperding Hypstasierung des leiblichen Subjekt zu einem reinen oder transzendentalen Bewusstseins-Ich Zusammenfügung im neurobiologischen Reduktionismus (Kurzschluss Gehirn → Geist) 8

Der Doppelaspekt von Leib und Körper „Eines ist mein Arm als Träger dieser und jener mir ge- läufigen Gesten, mein Leib als Vermögen bestimmten Tuns (…); und ein anderes ist mein Arm als Muskel- und Knochenmaschine, als Beuge- und Streckapparat, als artikulierbares Objekt (…) Nie ist es unser objektiver Körper, den wir bewegen, sondern stets unser phäno- menaler Leib.“ (Merleau-Ponty 1966) 8

fungierender, verborgener Leib gespürter, erlebter Leib Polarität von Leib und Körper fungierender, verborgener Leib gespürter, erlebter Leib körperlicher Leib anatomischer, objektiver Körper 8

Husserl: Personalistische versus naturalistische Einstellung Leib als „Umschlagstelle“ „Ambiguität des Leibes“ (Merleau-Ponty) 8

Helmuth Plessner (1925): „exzentrische Positionalität“: Fähigkeit des Menschen, sich zu sich selbst und seiner Leiblichkeit in ein Verhältnis zu setzen, sich „von außen“, d. h. zugleich vom möglichen Blickpunkt der anderen aus zu sehen, und sich in der Reflexion selbst gegenüberzutreten 8

Koextension von Leib und Körper Räumliche Übereinstimmung oder Syntopie von Leiblichem und Körperlichem Husserl, Ideen II: Die Hand als physischer, sicht- und tastbarer Körper und die Hand als Ort der Schmerzempfindung ist „... von vornherein apperzeptiv charakterisiert als Hand mit ihrem Empfindungsfeld ... d. h. als eine physisch-aesthesiologische Einheit.“ 8

Doppelaspekt von Leib und Körper Unterschied von absoluter und relativer Räumlichkeit: Leib als absoluter Ort, Nullpunkt der Orientierung Doppelaspekt von Leib und Körper in der intersubjektiven Beziehung: - Ausdrucksleib - Körperleib 8

Doppelaspekt von Leib und Körper Von welcher Natur muss ein Körper sein, der einen solchen Doppelaspekt aufweist? Wie kann ein Körper ein komplex zusammengesetztes physisches Gebilde und doch zugleich Träger einheitlicher, bewusster Lebensäußerungen sein? 8

Doppelaspekt von Leib und Körper Körper als lebendiger Organismus: - unteilbares, ausgedehntes Funktionsganzes Selbstreproduktion, Selbsterhaltung, Abgrenzung von der Umwelt und Beziehung zur ihr 8

Doppelaspekt von Leib und Körper „Wenn man den organischen Leib auf abstrakte materialistische Bestimmungen, wie hier auf die Bestimmung eines zusammen-gesetzten, teilbaren Dings reduziert, so ist es freilich notwendig, die dieser Bestimmung und Vorstellung widersprechenden Erscheinungen des organischen Leibes aus einem besonderen fingierten Wesen von entgegengesetzten Eigenschaften zu erklären [d. h. der Seele]. Aber diese Eigenschaften hat schon der organische Leib als Leib in sich. Er ist trotz der Vielheit seiner Teile ,ein Ding‘, eine individuelle, organische Einheit. Nur mit dem Tode versinkt er in die Kategorie eines zusammenge-setzten, teilbaren Dings.“ (Ludwig Feuerbach) 8

Doppelaspekt von Leib und Körper Doppelnatur: Lebensäußerungen als Konfigurationen physiologischer Prozesse und Äußerungen des Individuums als eines lebendigen Ganzen „Alle Ausdrücke unserer Sprache, mit denen wir uns auf Lebensäußerungen, d. h. Regungen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten oder Handlungen von Lebendigem beziehen, erfordern auch grammatikalisch die Einsetzung eines Lebewesens an der Subjektstelle“ (Buchheim 2006). 8

Doppelaspekt des Lebewesens Alles Erleben ist eine Weise des Lebens. 8

„Kurzschluss“ von Gehirn und Geist Physikalische Prozesse Gehirn Mentale Prozesse ? 8

Doppelaspekt des Lebewesens Bewusste Lebens-äußerungen Lebe- wesen Physio-logische Prozesse 1.- / 2.-Person- Perspektive 3.-Person- Perspektive 8

Doppelaspekt der Person Erlebter Leib Physi-scher Körper Person 1.- / 2.-Person- Perspektive 3.-Person- Perspektive 8

Doppelaspekt der Person Die Komplementarität der Aspekte lässt sich mit den zwei Seiten einer Münze vergleichen, von denen immer nur eine ohne die andere sichtbar wird, die also weder miteinander identisch sind noch einander überlappen, sondern die allenfalls aufeinander verweisen können. Die beiden Aspekte entsprechen zwei verschiedenen Einstellungen, nämlich der lebensweltlich-persona-listischen und der naturalistischen Einstellung. 8

“Zooming in”: vom Leib zum Körper

Doppelaspekt der Person Lebensäußerungen können sowohl aus der Innenper-spektive der 1. Person als auch aus der Außenperspektive der 2. Person erlebt bzw. wahrgenommen werden. Peter Strawson (1962): „P-Prädikate“ = personale Prädikate, die einer Person in Innen- wie Außenperspektive zugeschrieben werden können, und die als „logisch primär“ anzusehen sind z.B. „lachen“, „Schmerzen leiden“, „Tennis spielen“, „sprechen“, „jemand begrüßen“. 8

Doppelaspekt der Person Die Lebensäußerungen einer Person sind also innerlich und äußerlich zugleich; sie umfassen Erleben und Verhalten. Der Körper und seine physiologischen Prozesse (der zweite Aspekt) lassen sich nur aus der Außenperspek-tive, d.h. der 3.-Person-Perspektive in naturalistischer Einstellung wahrnehmen. 8

Doppelaspekt der Person Leib-Seele-Problem bzw. Gehirn-Geist-Problem → „Leib-Körper-Problem“ das Lebewesen ist in all seinen integralen, auch seelisch-geistigen Äußerungen ein „physisches“ Wesen das heißt, es ist genau eine materielle und zugleich lebendige Substanz, ein In-dividuum. „Physisch“: lebendiger Leib und organischer Körper 8

„Physis“ physisch Leib Körper gelebt / erlebt beseelt-leiblich „Natur, die wir sind“ Körper physikalisch-materiell physiologisch-organisch „Natur, die wir haben“

Ökologische Biologie 8

Ökologische Biologie Jakob von Uexküll (1920/1973): Umweltlehre Helmuth Plessner (1928/1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch Hans Jonas (1965/1973) Organismus und Freiheit F. Varela, E. Thompson und E. Roesch: The embodied mind (1991) E. Thompson: Life in Mind (2007) 8

Selbstorganisation und Autonomie „Autopoiesis“: Lebewesen als komplexe Körper oder Systeme, die sich bei fortwährendem Wechsel ihres Stoffes in ihrer Form und Struktur durch die Zeit hindurch erhalten (autopoietische Systeme) Reproduktion: Formkonstanz bei Stoff-Wechsel Emergente Eigenschaften des Stoffes 8

Emergente Eigenschaften Reversible Bindung von Sauerstoff an Eisen im Hämoglobin Häm-Gruppe Hämoglobin-Komplex

Selbstorganisation und Autonomie dynamische Selbstorganisation Binnendeterminiertheit oder Autonomie Wechselbeziehung zwischen dem Ganzen und seinen Bestandteilen Organismus als ganzer ist die Bedingung seiner Teile Das lebendige Ganze wirkt dabei aber nicht äußerlich auf die Teile wie eine Uhr, die ihre Zahnräder zwangsmäßig in ihren Ablauf einbezieht. Es macht sich vielmehr nur mittelbar in seinen Organen geltend. 8

Selbstorganisation und Autonomie I. Kant, „Kritik der Urteilskraft“: Das Kriterium eines „Naturzwecks“ oder Lebewesens besteht darin, dass „...die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind“, dass aber auch umgekehrt „die Teile desselben einander insgesamt, ihrer Form sowohl als ihrer Verbindung nach, wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen.“ Ein solcherart „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“ entspricht weitgehend dem modernen Begriff des autopoietischen Systems. 8

Beziehung von Organismus und Umwelt Reproduktion Stoffwechsel wiederkehrender Mangel → Ausgleich Pflanzen: offen Form Tiere: geschlossene Form semipermeable Grenzflächen (Membranen) sensomotorische Zwischenzone, vermittelter Umweltbezug 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt „Jedes Tier ist ein Subjekt, das dank seiner ihm eigen- tümlichen Bauart aus den allgemeinen Wirkungen der Außenwelt bestimmte Reize auswählt, auf die es in bestimmter Weise antwortet. Diese Antworten bestehen wiederum in bestimmten Wirkungen auf die Außenwelt, und diese beeinflussen ihrerseits die Reize. Dadurch entsteht ein in sich geschlossener Kreislauf, den man den Funktionskreis des Tieres nennen kann.“ (Uexküll 1973, 150) 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt Die Merk- und Wirkmale resultieren aus potenziellen Leistungen des Lebewesens, die den Eigenschaften der Objekte erst ihre spezifische Bedeutung verleihen: „etwas zum Greifen“, „etwas zum Steigen“, „etwas zum Fressen“ etc. 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt „... so viele Leistungen ein Tier ausführen kann, so viele Gegenstände vermag es in seiner Umwelt zu unter- scheiden“ (v. Uexküll u. Kriszat 1956, 68). 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt Ansprechbarkeit und Bedürfnisse des Lebewesens sind ausschlaggebend dafür, was für es Bedeutung erlangt; seine mögliche Antwort bestimmt erst, was zum Reiz wird. Die spezifische Umwelt eines Lebewesens wird durch den Funktionskreis erst konstituiert; sie ist nicht nur unter physikalischem Aspekt beschreibbar. 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt Mit dem Auftreten des Lebendigen in der Welt verliert die Umgebung ihre neutrale oder physikalische Natur und nimmt komplementären Charakter an: „Wo ein Fuß ist, da ist auch ein Weg. Wo ein Mund ist, da ist auch Nahrung. Wo eine Waffe ist, da ist auch ein Feind“ (v. Uexküll 1973, 153). Enaktivismus: „Living systems enact their world“. 8

J. von Uexküll (1920): Funktionskreis des Lebewesens in seiner Umwelt Umgekehrt tritt das Lebewesen nicht erst in eine Beziehung zur Welt ein, so als ob es auch „zuvor“ und unabhängig von ihr existieren könnte: In gewissem Sinn ist es selbst diese Beziehung, insofern es durch seine Struktur seine spezifische Umwelt erst erzeugt, und indem seine Grenzen fortwährend zwischen ihm und der Umwelt vermitteln. 8

Subjektivität Uneindeutige Ausdehnung in elementare Lebensformen Voraussetzungen: Abhebung der geschlossenen Form vom Umraum / Autonomie Ausbildung getrennter sensorischer und motorischer Organe und ihnen entsprechender Sinnes- und Bewegungsvermögen Ausbildung eines nervösen Zentralorgans, das die Rezeptor- und Effektororgane koppelt und die Einheit des Organismus in gesonderter Form repräsentiert. 8

Subjektivität Unterbrechung von Merken und Wirken: Hemmung Dazu muss das Zentralorgan Hemmungs- und Enthemmungsfunktionen vereinen: „Merken ist gehemmter, Wirken enthemmter Erregung äquivalent“ (Plessner 1975, 245). Hemmung eröffnet den Raum und die Zeitspanne für Be- wusstsein. Affekte bilden den Spannungsbogen, der den zeitlichen Aufschub überbrückt. 8

Subjektivität Die wahrnehmende, triebhafte, fühlende und tätige Beziehung zur Umwelt überspannt die Lücke, die sich erst zwischen Reiz und Reaktion, dann zwischen Bedürfnis und Befriedigung aufgetan hat. Subjektivität überbrückt eine zweifache Kluft: einerseits zwischen dem Organismus und seiner Umgebung, andererseits zwischen Wahrnehmung und Bewegung. Deren Koppelung wird durch das zugleich vermittelnde und hemmende Zentralorgan ebenso gewährleistet wie gelockert. 8

Subjektivität Die fortschreitende nervöse Zentralisierung des tierischen Organismus betont das Selbst, das sich der Umwelt mit zunehmender Deutlichkeit und Bewusstheit gegenüberstellt. „Die Notwendigkeit entsteht, das Umfeld soweit wie möglich durch die Sinnesorgane zu kontrollieren, um dem Tiersubjekt die Situation zu zeigen, in der es sich befindet, und ihm die Auswahl (...) von Aktionsmöglichkeiten zu überlassen“ (Plessner 1975, 249). 8

Subjektivität Besonders gesteigert wird der Selbstbezug des Organismus und die Effizienz seiner Aktionen, wenn Wahrnehmung und Bewegung zusätzlich miteinander rückgekoppelt werden, so dass Eigen- und Umweltwahr- nehmung die Aktionen fortwährend leiten. 8

Holst und Mittelstaedt (1950): Reafferenzprinzip Subjektivität Holst und Mittelstaedt (1950): Reafferenzprinzip 8

Subjektivität Die eigentliche Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt wird erst auf der Stufe der „exzentrischen Positionalität“ erreicht (Plessner 1975), in welcher der Mensch aus der Eingebundenheit in den Funktionskreis heraustritt. „Probehandeln“ in der Vorstellung oder Fantasie Reflexion auf die Situation und die eigene Stellung in ihr 8

Subjektivität Mit der stets möglichen Distanzierung des Subjekts von seiner jeweiligen Situation wird die subjektive Umwelt des Tieres für den Menschen zur gemeinsamen, intersubjektiven und damit objektiven Welt: Abstand zu sich selbst zu gewinnen, heißt zugleich, sich in die Perspektive der anderen versetzen zu können. 8

Zusammenfassung Mit seiner geschlossenen Form grenzt sich der Organismus des Tieres vom Umraum ab, nimmt aber gleichzeitig, seine Grenzen wieder überschreitend, aktiv auf seine Umgebung Bezug. Mit dieser Organisationsform konstituiert sich das tierische Lebewesen als ein leibliches Selbst. Es ist in unterschiedlichen Graden bewusst, es nimmt wahr und reagiert aus seinem Zentrum heraus, es unterscheidet zwischen dem, was es wahrnimmt, und seinen eigenen Aktionen. 8

Zusammenfassung Dabei stehen Innen und Außen einander nicht statisch gegenüber, sondern sie gehen durch Prozesse des „Sich- Äußerns“ und „Verinnerlichens“ fortwährend auseinander hervor. Bei all diesen Austauschprozessen spielen Transfor- mationen, die das Lebendige leistet, eine wesentliche Rolle, sei es bei der Umwandlung von anorganischer Materie in lebendigen Stoff, sei es bei der Umwandlung von Wahrnehmung in Bewegung, oder von neutraler Umgebung in Bedeutsamkeit für die Tätigkeit des Lebewesens. 8

Zusammenfassung Der lebendige Körper des Tieres ist so organisiert und zentralisiert, dass er insgesamt die geeignete Struktur und Dynamik aufweist, um bewusste Lebensäußerungen hervorzubringen. So wie Subjektivität notwendig verkörpert ist, so ist ein geeignet organisierter, lebendiger Körper notwendig auch subjektiv. 8

Zirkuläre und integrale Kausalität von Lebewesen Synergetik (Haken 1997): „zirkuläre Kausalität“ Vertikale zirkuläre Kausalität Horizontale zirkuläre Kausalität 8

Sensomotorische Zyklen Vertikale und horizontale Zirkularität Organismus Soziale interaktonen Organe Umwelt Sensomotorische Zyklen Zellen Metabolismus Moleküle

Vertikale zirkuläre Kausalität Dynamische Ko-Emergenz (Thompson 2007): Der Organismus als ganzer und seine Komponenten (Organe, Zellen usf.) bringen einander in einem fortwährenden Reproduktionsprozess wechselseitig hervor. Das Ganze ist ebenso die Bedingung seiner Teile, wie die Teile das Ganze ermöglichen. 8

Vertikale zirkuläre Kausalität Formierende oder auch „abwärts“-Kausalität (top- down-Kausalität): strukturierender Einfluss, den ein lebendiges System auf seine Teile ausübt 8

“Abwärts”-Kausalität Einwände: Da das Ganze selbst aus den Teilen besteht, können Ursache und Wirkung hier nicht zwei verschiedenen Agenzien zugeschrieben werden, von denen eines äußerlich auf das andere einwirkt. Die kausale Wirkung höherer Systemebenen scheint unbekannte physikalische Kräfte vorauszusetzen, die entweder den geltenden Gesetzen der Physik wider-sprechen oder aber Occam’s Rasiermesser zum Opfer fallen, d. h. sie wären überflüssig. 8

Vertikale zirkuläre Kausalität Makro-Strukturen wirken formierend auf Mikro-Strukturen: Selektion und Restriktion von Eigenschaften oder Verhalten der Teile auf der Mikroebene Beispiel Hämoglobin Geistiges wirkt “informierend”: Beispiel: Sprechen “implikative Kausalität”

“Abwärts”-Kausalität Reversible Bindung von Sauerstoff an Eisen im Hämoglobin Häm-Gruppe Hämoglobin-Komplex

“Aufwärts”-Kausalität Das lebendige Ganze macht sich nur einschränkend, ordnend oder mittelbar in seinen Teilen geltend. Dem entspricht die autonome Natur der Untereinheiten. Gerade durch ihre dezentrale Tätigkeit erfüllen sie ihre Funktionen und tragen zum Leben des Organismus insgesamt bei. Die Teile und Teilprozesse haben somit Auswirkungen auf die Erhaltung und Funktion des Gesamtsystems, die als „aufwärts“-Kausalität (bottom-up-Kausalität) benannt werden können. 8

Vertikale zirkuläre Kausalität Hochstufige Ebene Beispiel: Gene - Organismus Gehirn: z.B. Schmerzwahrnehmung Beeinflussung von Angst durch - Psychopharmaca (bottom up) - Psychotherapie (top down) Gehirn als “Transformator “ für vertikale Kausalbeziehungen Abwärts Aufwärts Niederstufige Ebene

Sensomotorische Zyklen Horizontale zirkuläre Kausalität Organismus Soziale interaktonen Organe Umwelt Sensomotorische Zyklen Zellen Metabolismus Moleküle

Vermögen als Grundlage integraler Kausalität Die Verknüpfung von vertikaler und horizontaler, interner und externer Kausalität führt nun zum Begriff einer integralen Kausalität. Durch sie realisiert ein Lebewesen in Verbindung mit einer komplementär passenden Umwelt Leistungen, die zur Fortführung seines Lebens beitragen. Solche Leistungen engagieren das Lebewesen als Ganzes. 8

Vermögen als Grundlage integraler Kausalität Vermögen bündeln Subsysteme und Organe in vertikaler Kausalität zu kooperierenden Einheiten, die zur Realisierung von Leistungen bereitstehen. Sie aktualisieren sich, sobald die dafür geeignete Situation eintritt: Dann kooperieren die vertikal gebündelten Untereinheiten bzw. Teilprozesse und schließen sich zugleich mit komplementären „Gegenstücken“ der Umwelt in horizontaler Rückkoppelung zusammen. 8

Vermögen als Grundlage integraler Kausalität Beispiel: Einen Brief schreiben zu können, ist offenbar nicht etwa ein Vermögen des Gehirns (obwohl es dazu natürlich maßgeblich erforderlich ist), sondern Vermögen eines verkörperten Subjekts. Vermögen erteilen Dingen und Situationen spezifische Relevanzen oder „Affordanzen“ (Verhaltensangebote, Gibson 1978). Organisch verankerte Wahrnehmungs- und Bewegungsbereitschaften bilden gleichsam „offene Schleifen“, die sich mit geeigneten Komplementen der Umwelt so zusammenschließen, dass im Moment der Passung die Wahrnehmung oder Handlung realisiert wird 8

Vermögen als Grundlage integraler Kausalität Organisch verankerte Wahrnehmungs- und Bewegungs- bereitschaften bilden „offene Schleifen“, die sich mit geeigneten Komplementen der Umwelt so zusammen- schließen, dass im Moment der Passung die Wahrneh- mung oder Handlung realisiert wird. „Unser Leib, ein System von Bewegungs- und Wahrneh- mungsvermögen, (...) ist ein sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen.“ (Merleau-Ponty 1966) 8

Lern- und Gedächtnisprozesse Wiederkehrende Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster werden extrahiert und als sensorische, motorische, affektive u. a. Schemata im Gedächtnis des Organismus (physiologisch in erster Linie im Gehirn) niedergelegt. Implizites oder Leibgedächtnis z.B. prozedurales, perzeptives, räumliches, emotionales Gedächtnis 8

Lern- und Gedächtnisprozesse Was ist der Ort dieses verkörperten oder Leibgedächtnisses? „Gedächtnis“ bezeichnet keinen internen Speicher, sondern die Fähigkeit eines Lebewesens, seine in früheren Lernprozessen erworbenen Dispositionen zu realisieren. 8

Implizites (leibliches) Wissen 8

Implizites (leibliches) Wissen 8

Lern- und Gedächtnisprozesse Das implizite Gedächtnis ist eine emergente, disposi- tionale Eigenschaft des gesamten Systems von Organismus und Tastatur. „Gedächtnis“ bezeichnet keinen internen Speicher, sondern die Fähigkeit eines Lebewesens, seine in früheren Lernprozessen erworbenen Dispositionen zu realisieren. 8

Gedächtnis und Neuroplastizität Interaktionen Erfahrung Neuroplastizität Leibgedächtnis Prozess Struktur modifiziert induziert 8

Lern- und Gedächtnisprozesse Interaktion von Organismus und Umwelt im Zeitverlauf 8

Zusammenfassung 8

Das Gehirn als Organ des Lebewesens 8

„Embodied Cognitive Neuroscience“ (Varela 1991, Clark 2000, Thompson 2007 u.a.)  Subjektivität ist verkörpert in der senso-motorischen Aktivität des Organismus in seiner Umwelt („embodied, embedded, enactive“)  Gehirn als Vermittlungs- und Beziehungsorgan, vernetzt mit der biologischen, sozialen und kulturellen Umwelt Funktion des Gehirns: statt internen Repräsentationen  Handlungsmöglichkeiten für den Organismus in seiner Umwelt 8

„Embodied Cognitive Neuroscience“ (Varela 1991, Clark 2000, Thompson 2007 u.a.)  Konvergenz von Phänomenologie (subjektiver Leib in Beziehung zur Welt) und dynamischer Systemtheorie (autopoietischer Organismus in Interaktion mit der Umwelt) 8

Das Gehirn im Organismus Primäre Funktion des Gehirns: Regulation des inneren Milieus, der vitalen Bedürfnisse und Antriebsfunktionen des Organismus Regulation von Atmung, Kreislauf, Nahrungs- und Wasserhaushalt, Körpertemperatur, Schlaf- und Wachzustand, Sexualverhalten und anderer autonomer Körperprozesse 8

Das Gehirn im Organismus Affektive Neurowissenschaften: primär subkortikale Genese des Bewusstseins (Damasio 1995, 2000, 2011, Panksepp 1998) Bedürfnisse des Organismus wie das nach Nahrung, Wasser, Erholung, Schlaf oder Fortpflanzung werden als Mangel und Trieb erlebbar und münden in elementare, von basalen Affekten unterstützte Aktionen (Suchen, Fliehen, Angreifen u.a.). 8

Interaktion von Gehirn und Körper – Basales Selbst Stimmungen, Affekte Leibliches Hintergrunderleben, Lebensgefühl basales Selbst 8

Das Lebensgefühl (Vitalgefühl) Affektive Neurowissenschaften: primär subkortikale Genese des Bewusstseins (Damasio 1995, 2000, 2011, Panksepp 1998) Bedürfnisse des Organismus wie das nach Nahrung, Wasser, Erholung, Schlaf oder Fortpflanzung werden als Mangel und Trieb erlebbar und münden in elementare, von basalen Affekten unterstützte Aktionen (Suchen, Fliehen, Angreifen u.a.). 8

Biologische Grundlagen der Vitalgefühle Vitalgefühle basieren auf „Körperlandschaft“ (Interozeption, Propriozeption, u.a.) „Protoselbst“ (Damasio 2008) 8

Biologische Grundlagen der Vitalgefühle “Die frühesten Ursprünge des Selbst … sind in der Gesamtheit jener Hirnmechanismen zu finden, die fortwährend und unbewusst dafür sorgen, dass sich die Körperzustände in jenem schmalen Bereich relativer Stabilität bewegen, der zum Überleben erforderlich ist.” (Damasio 2000) 8

Biologische Grundlagen der Vitalgefühle Im basalen Lebensgefühl „… spiegelt sich der augenblickliche Zustand des Körpers in verschiedenen Dimensionen wider, beispielsweise auf einer Skala, die von der Lust bis zum Schmerz reicht; ihren Ursprung haben sie nicht in der Großhirnrinde, sondern auf der Ebene des Hirnstamms“ (Damasio 2011, 33). → Bewusstsein entsteht nicht im Neokortex. 8

Biologische Grundlagen der Vitalgefühle „Das somatische Hintergrundempfinden setzt nie aus, obwohl wir es manchmal kaum bemerken, weil es keinen bestimmten Teil des Körpers, sondern den übergreifenden Zustand praktisch aller Bereiche repräsentiert.” (Damasio 1995) → Prozesse des Lebens und Prozesse des Selbsterlebens sind untrennbar miteinander verknüpft. 8

Biologische Grundlagen der Vitalgefühle J. Panksepp: Verwandtes Modell der Entstehung von primärem Bewusstsein, wobei basale Instinkte und entsprechende Motivationen eine größere Rolle spielen Das resultierende Selbsterleben ist jedoch vor allem an das „periaquäduktale Grau“ im Mittelhirn gebunden Basisaffekte und Antriebssysteme: Seeking, Rage, Fear, Panic, Lust, Care und Play („Begehren“, „Wut“, „Furcht“, „Panik“, „Lust“, „Fürsorge“ und „Spiel“) 8

Hydranenzephalie

Hydranenzephalie „… (they) crawl toward a spot on the floor where sunlight is falling and where the child will bask in the sun and obviously draw benefit from the warmth. (…) They tend to be fearful of strangers and appear happiest near their habitual mother/caregiver. Likes and dislikes are apparent, none so striking as in examples of music (…) they can respond to different instrumental sounds and different human voices (…) In brief, they are most joyful when they are touched and tickled, when preferred music pieces are played, and when certain toys are shown in front of their eyes.“ (Damasio 2010, 81)

Hydranenzephalie

Höhere Bewusstseinsstufen „Der erste Schritt ist die Erzeugung der ursprünglichen Gefühle, jener urtümlichen Daseinsempfindung, die ganz allein aus dem Protoselbst erwächst. Als Nächstes kommt das Kernselbst hinzu. Das Kern-Selbst handelt von Taten – insbesondere von einer Beziehung zwischen Organismus und Objekt. Es entfaltet sich in einer Abfolge von Bildern: Diese beschreiben, wie ein Objekt das Protoselbst beschäftigt und es – einschließlich der ursprünglichen Gefühle – abwandelt“ (Damasio 2011). 8

Höhere Bewusstseinsstufen „Und schließlich gibt es noch das autobiographische Selbst. Dieses Selbst definiert sich unter dem Gesichtspunkt autobiographischen Wissens, das sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die vorhersehbare Zukunft bezieht“ (Damasio 2011, 34). 8

Höhere Bewusstseinsstufen Kernselbst (präreflexives Selbsterleben): primäre Interaktion von Gehirn und Körper auf der Ebene des Hirnstamms wird in höheren Hirnzentren (Thalamus, Gyrus cinguli, u.a.) fortlaufend weiter verarbeitet und zugleich mit sensomotorischen, auf die Umwelt gerichte- ten Erfahrungen verknüpft Der Kortex stellt über Sensorik und Motorik die eigentliche, gerichtete Beziehung zwischen dem Kernselbst und der Umwelt mit ihren Objekten her. 8

Höhere Bewusstseinsstufen 8

Körper und Gefühle Auch Gefühle sind, biologisch betrachtet, gesamtorganis- mische Zustände, die nahezu alle Subsysteme des Körpers einbeziehen: zentrales und autonomes Nervensystem, endokrines und Immunsystem, Herz, Kreislauf, Atmung, Eingeweide und Ausdrucksmuskulatur (Mimik, Gestik und Haltung). 8

Körper und Gefühle „Wenn wir uns ein starkes Gefühl vorstellen und dann versuchen, in unserem Bewusstsein jegliches Empfinden für seine Körpersymptome zu eliminieren, stellen wir fest, dass wir nichts zurückbehalten, keinen ,Seelenstoff`, aus dem sich das Gefühl zusammensetzen ließe, und dass ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahr-nehmung alles ist, was bleibt. (...) Ein völlig unkörper-liches menschliches Gefühl gibt es nicht.“ (William James 1884) 8

Körper und Gefühle Damasio: Emotionen als physiologische Zustände in komplexen Rückkoppelungen zwischen verschiedenen Körpersystemen und Hirnzentren dienen in erster Linie der Bereitstellung von körperlichen Reaktionen zur Erhaltung des Organismus und seiner Homöostase Primäre Emotionen (z.B. Angst, Wut) Sekundäre Emotionen (z.B. Scham, Trauer oder Neid) 8

Körper und Gefühle „somatische Marker“ (Damasio 1995): Vorstellung bestimmter Situationen und Handlungs-alternativen löst körperliche, insbesondere viszerale Reaktionen aus, die dann in den somatosensiblen Arealen des Gehirns Resonanz erzeugen körperlichen Begleitreaktionen als emotionales Erfahrungsgedächtnis 8

Körper und Gefühle Der Organismus als ganzer wirkt als Resonanzkörper, dessen emotionale Schwingungen im Gehirn einen entsprechenden „Widerhall“ erzeugen. Gefühle lassen sich somit auch als Beispiel für vertikale zirkuläre Kausalität begreifen: Anlässlich bestimmter Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Erinnerungen werden (top-down) körperliche Emotionsreaktionen ausgelöst, um dann, als Feedback an das Gehirn zurückgeleitet (bottom-up), das Gefühlserleben zu beeinflussen. 8