Emile Durkheim – Le suicide

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 Präsentation transkript:

Emile Durkheim – Le suicide Klassiker empirischer Sozialforschung SS 2003 Dozent: Dr. Reinhard Wittenberg Emile Durkheim – Le suicide Referentin: Andrea Schubert 2. Mai 2003

Kurzbiografie und Hauptwerke des Autors Grundannahmen zur Untersuchung Gliederung Kurzbiografie und Hauptwerke des Autors Grundannahmen zur Untersuchung Zielsetzung der Studie Verwendete Methodik Zentrale Ergebnisse „Le suicide“ – ein Klassiker Methodische und inhaltliche Kritik

Kurzbiografie  15. April 1858 in Epinal (Lothringen) als Sohn eines Rabbiners ab 1879 Studium an der Ecole Normale Supérieure in Paris intensive Beschäftigung mit Philosophie und Geschichte ab 1887 Professor für Sozialwissenschaften und Pädagogik in Bordeaux Studien zu Verwandtschaft, Inzest, Kriminalität, Recht, Religion und zur Geschichte des Sozialismus 1898: Gründung der „Année sociologique“, der ersten soziologischen Zeitschrift in Frankreich 1902 – 1917 Professur an der Sorbonne 15. November 1917 in Paris

Hauptwerke De la division du travail social (1893) Les règles de la méthode sociologique (1894) Le suicide (1897) Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912)

Soziologisches Verständnis Emile Durkheims: Grundannahmen Soziologisches Verständnis Emile Durkheims: Die Soziologie muss sich mit Gesellschaften, nicht mit Individuen befassen, sonst hat sie neben der Psychologie keine Daseinsberechtigung In jeder Gesellschaft gibt es eine kollektive Wirklichkeit, die über die Summe der individuellen Wirklichkeiten hinaus reicht Soziologische Tatsachen müssen daher wie Dinge untersucht werden, die außerhalb des Individuums liegen Aber: Anstatt Allgemeinheiten zu betrachten, soll jeweils nur eine genau definierte Gruppe von Tatsachen erforscht werden.

Der Selbstmord als Forschungsgegenstand Grundannahmen Der Selbstmord als Forschungsgegenstand Die Selbstmordrate in einer Gesellschaft ist eine soziale Tatsache („fait social“) eigener Art und nicht nur die Summe von Einzelfällen Die Einzelglieder, aus denen sich eine Gesellschaft zusammen setzt, wechseln von Jahr zu Jahr. Trotzdem bleibt die Gesamtzahl der Selbstmorde konstant Langfristige Änderungen in der Selbstmordrate deuten daher auf eine grundlegende Veränderung in der Struktur der gesamten Gesellschaft hin. Dies gilt sowohl auf globaler wie auch auf regionaler Ebene.

Definition des Selbstmords nach Durkheim Grundannahmen Definition des Selbstmords nach Durkheim „ Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im Voraus kannte.“ Definition umfasst damit z.B. auch den „Heldentod“ Abgrenzung zu Unfällen Ausschluss des Selbstmords von Tieren Verzicht auf die Einbeziehung von Selbstmordmotiven

Beschreibung der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge Zielsetzung Forschungsziel Aufdeckung von sozialen Ursachen (unabhängige Variablen) die die spezifische Selbstmordrate einer Gesellschaft (abhängige Variable) bestimmen Beschreibung der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge Beweis, dass verschiedene Ursachen auch verschiedene Arten des Selbstmordes hervorrufen

Methodik Datengrundlage: Selbstmordstatistiken europäischer Länder für den Zeitraum 1841 – 1887 Zusätzliche Statistiken zur Häufigkeit von Geisteskrankheiten und Alkoholismus sowie zu Familienstand, Religionszugehörigkeit usw. Besonders detaillierte Daten Frankreichs bis auf städtische Ebene Teilweise Gerichtsakten mit Angabe vermuteter Selbstmordmotive Diese sind jedoch laut Durkheim zur Analyse ungeeignet, da die angegebenen Motive nur ein Abbild der wahren sozialen Ursache sind

Methodik Dürkheim führt keine eigene empirische Erhebung durch. Stattdessen Sekundäranalyse unterschiedlicher Quellen: 1. Schritt: Widerlegung von Hypothesen über Suizidursachen außergesellschaftlicher Art u.A. mit der klassischen Methode der konkomitanten (parallelen) Variationen (keine Entsprechung zwischen Selbstmordrate und psychopathischen Erkrankungen) sowie durch logische Schlüsse (Vererbung nicht möglich, da Selbstmordrate mit steigendem Alter zunimmt) 2. Schritt: Aufstellung einer eigenen Selbstmordtypologie Ätiologisches Vorgehen: Postulierung von Ursachenklassen, anschließend empirischer Nachweis Untersuchung von Korrelationen vermuteter sozialer Ursachen mit gruppenspezifischen Selbstmordraten Bestätigung der Hypothese sozial bedingter „Selbstmordströmungen“

Ergebnisse Mögliche außergesellschaftliche Ursachen, die geprüft wurden: organisch-psychische Veranlagung: Geisteskrankheit oder Alkoholismus Rasse und Vererbung Klima und Temperatur Nachahmung Zusammenhangshypothesen wurden aufgrund der vorliegenden Daten für alle vier Faktorengruppen verworfen Folgerung: die Selbstmordrate kann nur durch soziale Ursachen erklärt werden. Hierfür müssen die sozialen Milieus, in denen die Selbstmörder lebten, untersucht werden

Typologie des Selbstmords nach sozialen Ursachen: Ergebnisse Typologie des Selbstmords nach sozialen Ursachen: Charakteristisch für alle vier Typen ist ein spezifisches Ungleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv hinsichtlich sozialer Integration und sozialer Regulation Soziale Integration Soziale Regulation Altruistischer Selbstmord Fatalistischer Selbstmord Egoistischer Selbstmord Anomischer Selbstmord hoch niedrig

Ergebnisse Egoistischer Suizid Altruistischer Suizid mangelnde soziale Integration und emotionale Bindung Isolation Fehlende Regulation der eigenen Wünsche und Ziele Individuum empfindet keine Verpflichtung gegenüber der Gruppe Der einzelne glaubt, sich nicht auf die Unterstützung der Gruppe verlassen zu können wird von innerer Leere überwältigt Zu starke soziale Integration der Einzelne geht in der Gruppe unter Eigener Selbsterhaltungstrieb wird hinter den Interessen der Gruppe angestellt “Sinn“ liegt außerhalb des eigenen Lebens Beispiele: Berufsoldaten in der Armee Schiffskapitäne Indische Witwe, die ihrem Mann auf den Scheiterhaufen folgt Religion und Familie bieten Schutz und Integration Zunahme egoistischer SM mit höherem Alter

Fatalistischer Suizid Ergebnisse Anomischer Suizid Fatalistischer Suizid Auslöser ist soziale Anomie, keine klare Normsetzung und gesellschaftliche Kontrolle Missverhältnis zwischen individuellen Zielen und den Mitteln, die die Gesellschaft zur Regulation bereit hält Atmosphäre der Ungewissheit und Unzufriedenheit Zu starke Kontrolle und extreme Dichte sozialer Normen Der Mensch fühlt sich in seinem Schicksal gefangen Grund für die Häufung anomischer SM sind die Lebensbedingungen moderner Gesellschaften Beispiele: Wechselbeziehung zwischen SM und ökonomischen Zyklus Häufung der Selbstmorde bei geschiedenen Männern

Ergebnisse Schlussfolgerungen Durkheims Es gibt Selbstmordströmungen (courants suicidogènes), die die Gesellschaft durchdringen und von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich stark sind Ursprung der Strömungen ist nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft Der Hauptgrund für die steigende Selbstmordrate ist die unzureichende Integration des Individuums in die moderne Gesellschaft (Übergang von mechanischer zu organischer Arbeitsteilung) Die einzige Gruppe, die die Integration des einzelnen dauerhaft fördern kann, ist der Berufsverband

Kritik Die verwendeten Statistiken sind unvollständig und erfassen nur einen geringen Anteil aller Selbstmörder Die festgestellten Unterschiede in den Suizidraten sind daher wenig signifikant Selbstmordversuche wurden trotz ihrer Relevanz nicht berücksichtigt, da hierzu keine Statistiken vorlagen Mögliche Scheinkorrelationen zwischen Religion und Selbstmordrate Der Unterschied könnte auch in verschiedenen Lebensweisen begründet liegen Der individualpsychologische Aspekt der Selbstmordneigung darf nicht völlig außer Acht gelassen werden

"Le suicide" - ein Klassiker Durkheim gelang erstmals die Verbindung von theoretischer Soziologie und empirischer Forschung Er bediente sich dafür einer weitgehend wertneutralen wissenschaftlichen Terminologie Er entwickelte eine soziologische Erklärung für ein Phänomen, das traditionell als individualpsychologisches Problem angesehen wurde Besonders der zentrale Begriff der Anomie übte in der Folge großen Einfluss auf die Soziologie abweichenden Verhaltens aus