Irritation, Integration und Zusatznutzen Systemtherapeutische Beiträge zu einer besseren Psychotherapie Jochen Schweitzer Institut für Medizinische Psychologie.

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 Präsentation transkript:

Irritation, Integration und Zusatznutzen Systemtherapeutische Beiträge zu einer besseren Psychotherapie Jochen Schweitzer Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg und Helm Stierlin Institut, Heidelberg

Frage 3: Wie können wir Beratung und Therapie zusammendenken? Frage 1: Wie können Psychotherapie verfahren durch Irritation und Integration a) innerhalb der Systemischen Therapie b) zwischen den Therapieverfahren besser werden? Frage 2: Wie kann systemische Therapie das psychotherapeutische Versorgungssystem produktiv irritieren und integrieren Frage 3: Wie können wir Beratung und Therapie zusammendenken?

Grundideen meines Vortrags: Die Zukunft der Systemischen Therapie und Beratung entscheidet sich an ihrem Zusatznutzen Ihr Zusatznutzen liegt in ihrem Potential für Irritation (Infragestellen und Anregen) und für Integration (Zusammenführen von Getrenntem) Dieser Zusatznutzen stellt sich nicht von selbst ein – er muss organisiert werden werden Die Zusammenarbeit zwischen Therapie und anderen Beratungsfeldern ist eine große Stärke des systemischen Ansatzes

Zur Frage 1 a: Wie können Psychotherapieverfahren besser werden durch Irritation und Integration innerhalb der Systemischen Therapie

Alan Carrs (2006) „drei Säulen“ der Integration systemischer Interventionen Kontexte Glaubenssysteme Interaktionsabläufe Herkunftsfamilienarbeit Ambivalenzen, Veränderungsängste, Macht/ Ohnmachtsideen diskutieren Therapiekontext schaffen: Auftragsklärung, Kontrakt, Spielregeln Ökosystemisch arbeiten (z. B. Unterstützungs netzwerke organisieren) Stärken hervorheben Muster in Sitzung verändern: Enactments, Grenzziehungen fördern, Macht infragestellen konstitutionelle Kontexte bearbeiten: Lernhilfe, Medikamente, Physiotherapie… Probleme umdeuten Verhaltensmuster zwischen Sitzungen verändern: Symptom beobachtung und -verschreibungen, Experimente

Alan Carrs (2006) „drei Säulen“ der Integration systemischer Interventionen Kontexte Glaubenssysteme Interaktionsabläufe multiple Perspektiven anbieten: gesplittete Botschaften, reflektierende Teams Trainieren von Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten Probleme externalisieren, Ausnahmen vom Problem vergrößern Muster gegenseitiger Belohnung und Bestrafung verändern

Zur Frage 1 b: Wie können Psychotherapieverfahren durch gegenseitige Irritation und Integration besser werden?

Was kann systemische Therapie von anderen Verfahren lernen? Gespräche respektvoll und einfühlsam führen: Kongruenz, Empathie, Wertschätzung (klientenzentrierte Therapie) Feinfühlig merken, was zwischen Klienten und Therapeut sich abspielt: Übertragung und Gegenübertragung (Tiefenpsychologie) Psychische Konstellationen symbolisch aktualisieren: (Psychodrama und Gestalttherapie) Die Aufmerksamkeit auf Lösungsmöglichkeiten richten: Hypnotherapie Schwierige Situationen in vivo durchstehen (Reizkonfrontation) und neue Kompetenzen trainierend festigen (Verhaltenstherapie)

Was kann die systemische Therapie anderen Verfahren bieten? Systemdenken: Kontext, Komplexität, Zirkularität Selbstorganisation und Nicht-Instruierbarkeit lebender Systeme Erkenntnistheoretische Behutsamkeit: uns als Beobachter mitdenken Wertschätzung und Nutzung dessen, was ist: Allparteilichkeit, Neugier/ Neutralität, Ressourcen- und Lösungsorientierung Multiple Aufträge und deren Klärung – Klienten als Kundige Große Setting- und Technikenvielfalt, die diese Grundlagen realisieren helfen

„Einfach anfangen, bei Bedarf komplexer weitermachen“: Die Interventions-Matrix von Pinsof, Breunlin, Russell und Lebow (2010) Problemzentrierte Interventions-Metarahmen-Matrix Interventions-Metarahmen Kontexte Familie/Gemeinde Paar Individuum behavioral biobehavioral experientiell Herkunftsfamilie Psychodynamik Selbstpsychologie

Zur Frage 2: Wie kann das psychotherapeutische Versorgungssystem durch systemische Therapie produktiv irritiert und integriert werden

Errungenschaften der heutigen Psychotherapie in Deutschland Weltweit wohl umfangreichstes solidarfinanziertes Angebot an Psychotherapie Stationär, tagesklinisch, ambulant Dessen Mitarbeiter umfangreich ausgebildet und fortgebildet sind Und deren Effektstärken höher sind als die vieler anderer Disziplinen

Mängel der heutigen ambulanten Kassen-Psychotherapie in Deutschland Einfältige Beschränkung auf nur zwei Kassenverfahren „Leider kein Platz“: lange Wartezeiten trotz vieler Therapeuten Zugangschancen: ländlich, Unterschicht, Migration, schwere Störungen = fast chancenlos Vorabgutachten statt Erfolgskontrolle „Isolierte“ Therapiepraxis gegenüber Angehörigen, Schulen, Arbeitsplätzen, Mitbehandlern „Versäulung“: Wenig Zusammenarbeit mit Sozialer Arbeit, Jugendhilfe u.a. )

Welchen Zusatznutzen könnte die Systemische Therapie der heutigen ambulanten Kassenpsychotherapie bieten? Variabilität von Teilnehmern (Angehörige, Peers, Lehrer…), Sitzungszahlen (1-50), Dauer (einmalig bis vier Jahre) und Orten (aufsuchend/ in Praxen) ermöglicht Therapie für „schwer behandelbare“ Klienten („nicht-motivierte“, „ich-schwache“, „ausagierende“, rezidivierend erkrankte…) mit weniger Sitzungen (1-40 statt 25-240 Sitzungen) als Einzeltherapien Sie kann im Mehrpersonensetting mehrere seelisch belastete/ gestörte Menschen zugleich behandeln Das schafft sie durch (1) radikale Auftragsorientierung (2) Direkten Einbezug von Partnern, Familie, Schule…) (3) Lösungs-/ ressourcenorientierte Denke und Sprache (4) Erwartungshaltung

Die spannende Frage: wollen Patienten, Krankenkassen, Psychotherapeuten und Regierungen diesen Zusatznutzen haben? Wenn ja: wie lässt sich systemische Therapie als „Zusatz“ ins bestehende System integrieren? Wenn nein: wie lässt sich ein konkurrierendes, alternatives systemtherapeutisches Angebot verwirklichen?

Modellprojekt: „Systemtherapeutische Krisenintervention 5 + 1 Doppelsitzungen“ Problemlage: Viele Patienten finden bis zu halbem Jahr keinen Platz bei Richtlinien-PsychotherapeutInnen. Lösungsidee: Systemtherapeutische Krisenintervention - 5 Sitzungen (Doppelstunden) in ca. monatlichen Abständen und 1 Nachgespräch, Dauer ca. halbes Jahr, max 3 Wochen Wartezeit bis Erstgespräch.

Konzept systemtherapeutischer Krisenintervention „5 + 1 Doppelsitzung“: Kernmethoden: Auftragsklärung; Symptom-kontextualisierung, Einbezug hilfreicher Anderer; lösungsorientiert-wertschätzende Gesprächsführung mit positiven Konnotationen und Umdeutungen; „Weiterarbeit“ zwischen Therapiesitzungen; Zwischenbilanz in jeder Sitzung Die 5 + eine Sitzung werden in flexiblem Rahmen-Manual beschrieben Alternativ möglich: systemische Konsultationsgespräche (1 Doppelstunde) ; Kurzzeittherapie (10 Doppelstunden), Langzeittherapie (20 Doppelstunden)

Projektorganisation systemtherapeutischer Krisenintervention („5 + 1 Doppelsitzung“) Mind. vier systemische TherapeutInnen bilden Anbieterverbund Dieser garantiert max. dreiwöchige Wartezeiten Eine Dachorganisation (DGSF?) verbindet bundesweit mehrere solcher Teams, verhandelt mit Krankenkassen und Großbetrieben, vermittelt (einfache) Begleitforschung Das Sitzungspaket hat einen festen Preis: z.B. 6 x 160 Euro/ Doppelstunde = 960 Euro Jede Sitzung wird mit Kurzbögen evaluiert, Evaluation mit Klienten kontinuierlich diskutiert Teammitglieder nehmen an monatlicher Fall-Intervision und Begleitforschung teil Mitwirkende systemische Therapeuten haben approbationsäquivalente Vorbildung und Erfahrung

Zur Frage 3: Therapie ist eine Sonderform von Beratung – wie können wir den Begriffswirrwarr des Wortes „Beratung“ auflösen?

Beratung – Grundform aller systemischen Praxis "Beratung" lässt sich nicht eindeutig von “Therapie“, „Coaching“, „Supervision“, „Mediation“ zugleich abgrenzen Beratung" ist ein Passe-Partout-Begriff: Ärzte, Lehrer, Schuldnerberater, Unternehmensberater, Manager, Sport-Coaches – sie alle beraten Was verbindet systemische BeraterInnen bei Daimler oder DB, Flughafenmediation, Hartz IV Beratung, Seelsorge, Kitas und Schulen, Suchtberatung miteinander? - außer dem wort „Beratun“? "Beratung" ist das verbindend Gemeinsame aller systemischen Praxis - ein Oberbegriff, nicht ein Alternativbegriff zu Psychotherapie

Systemische Supervision Systemisches Coaching Diese Überlegung könnte künftig auch den Aufbau systemischer Weiterbildung beeinflussen 3. & 4. Jahr: Systemische Therapie Systemische Supervision Systemisches Coaching 2. Jahr: Systemische Beratung 1. Jahr: Systemische Praxis („Basismodul“) (Schema angeregt durch Jochen Leucht)