Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft Kapitel 1: Grundlagen Prof. Dr. Renate Schubert Institut für Umweltentscheidungen (IED) schubert@wif.gess.ethz.ch
1 Grundlagen 1.1 Zum Begriff „Entwicklung“ 1.2 Indikatoren zur Beurteilung von „Entwicklung“ 1.3 Nachhaltigkeit und Entwicklung
Lernziele: Verstehen, dass „Entwicklung“ ein komplexer, mehrdimensionaler Begriff ist Indikatoren zur Messung von „Entwicklung“ kennen und die Vor- bzw. Nachteile abschätzen können Gewisse Grundkenntnis der Indikatorwerte für verschiedene Länder bzw. Ländergruppen
Entwicklungsprozess und Entwicklungsstand Der Entwicklungsprozess beschreibt die Veränderung des Entwicklungsstands eines Landes über die Zeit hin Entwicklungsstand: Wohlstandsniveau eines Landes zu bestimmtem Zeitpunkt Wohlstandniveau: Grundbedürfnisse (basic needs) als Indikator Interpretation: Wohlstand ist umso höher je umfassender, je stärker die Gb erfüllt sind
Grundbedürfnisse Konzept der ILO (International Labor Organisation) aus dem Jahr 1976 Präzisierung I: ausreichende Ernährung// angemessenes Wohnen// angemessene Bekleidung Präzisierung II: sauberes Trinkwasser //sanitäre Versorgung//Zugang zu Gesundheitseinrichtungen// Zugang zu Bildungseinrichtungen
Grundbedürfnisse Harte versus weiche Grundbedürfnisse Weiche Gb: Menschen können bei Entscheidungen, die sie betreffen mitbestimmen Beispiele für weiche Gb: Bildung// Meinungsfreiheit// Teilnahme am politischen Prozess usw.
Probleme des Grundbedürfnis-Ansatzes Operationalisierung der verschiedenen Gb ist schwierig (vor allem der weichen) Gewichtung unterschiedlicher Gb wäre nötig für Gesamtaussage Gewichtung bedeutet Werturteile -> keine Einigkeit auf internationaler Ebene Fazit: Gb-Ansatz kaum verwendet als Indikator für Wohlstandsniveau
Alternativer Indikator: Sozialprodukt pro Kopf SP: Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Land in bestimmtem Zeitraum produziert werden Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Ländern und Zeiträumen durch Bezug auf durchschnittlichen Einwohner SP/Kopf = SP/ Bevölkerungszahl Interpretation: Wohlstand ist umso höher, je höher das SP/Kopf ist
Alternativer Indikator: Sozialprodukt pro Kopf Vorteil von SP/Kopf: wird in fast jedem Land erhoben Allerdings: Datenqualität ist zwischen Ländern deutlich unterschiedlich Dennoch: grobe Vergleiche zwischen Ländern sind zu tiefen Kosten möglich
Alternativer Indikator: Sozialprodukt pro Kopf Quelle: Weltbank 2003; http://econ.worldbank.org/wdr/wdr2003
Kritik am Sozialprodukt pro Kopf als Wohlstandsindikator Im SP/Kopf werden nur monetäre Grössen erfasst. Es fehlen: Realtausch//Schattenwirtschaft// Freiwilligenarbeit//informeller Sektor Das SP/Kopf ist eine monetäre Grösse. Es fehlen: Aussagen über die Lebensqualität, wie z.B. Umweltqualität//Arbeitsbedingungen// Pressefreiheit …
Kritik am Sozialprodukt pro Kopf Das SP/Kopf ist eine monetäre Grösse, die staatliche Ausgaben nur als Kosten und nicht von der Qualität her erfasst; z.B. Qualität des Schulsystems, des Gesundheitssystems, der Infrastruktur… Das SP/Kopf bringt nur eine Durchschnitts- und keine Verteilungsaussage zum Ausdruck.
Kritik am Sozialprodukt pro Kopf Verteilungsaussage: Punkt A: 25 % der Haushalte (mit einem Einkommen unter 5000 Franken [monatlich]) haben einen Anteil am Gesamteinkommen von 10 %. Punkt B: 50 % der Haushalte (mit einem Einkommen unter 7300 Franken [monatlich]) haben einen Anteil am Gesamteinkommen von 28 %. Punkt C: 75 % der Haushalte (mit einem Einkommen unter 10400 Franken [monatlich]) haben einen Anteil am Gesamteinkommen von 54 %, d.h. auch, dass 25 % der Haushalte (mit einem Einkommen von mehr als 10400 Franken [monatlich]) 46 % des Gesamteinkommens erhalten. Die Diagonale ist die Gleichverteilungslinie; Die faktische Verteilungslinie (Verbindung der Punkte A, B und C) stellt die Lorenzkurve dar. Lorenzkurve der Einkommensverteilung in der Schweiz (1998) Quelle: BFS, Statistisches Jahrbuch der Schweiz, S. 220
Kritik am Sozialprodukt pro Kopf Preise für Güter sind in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich hoch. SP-Werte daher nicht sauber vergleichbar Ausweg: Kaufkraftkorrektur (PPP: Purchasing Power Parity) Problem: SP/Kopf geht bei Kaufkraftkorrektur für IL tendenziell nach unten und für EL nach oben
Kritik am Sozialprodukt pro Kopf Kontraintuitive Effekte, wie z.B. höheres SP bei stärkerer Umweltschädigung durch Abbau natürlicher Ressourcen, Unfälle, Krankheiten etc.
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Ausgewiesen durch UNDP seit Anfang der neunziger Jahre (United Nations Development Program) Grundidee: Wohlstand heisst, dass Menschen Handlungsoptionen haben. Dafür sind drei Bereiche wichtig: Gesundheit, Bildung, Einkommen
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Indikator „Gesundheit“: Lebenserwartung bei Geburt Indikator „Bildung“: Alphabetisierungsrate der Erwachsenen (> 15 Jahre) und Einschulungsraten in Grundschulen und weiterführende Schulen Indikator „Einkommen“: PPP korrigiertes SP/Kopf mit Korrektur für abnehmenden Grenznutzen des Geldes
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Alle Teilindikatoren berechnen sich nach folgender Formel: Teilindexj = (xi-xmin)/(xmax-xmin) (j = 1,2,3) xi = tatsächlicher Wert des Teilindex xi für das betrachtete Land i xmin = tiefster Index-Wert über alle Länder xmax = höchster Index-Wert über alle Länder
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Alle Teilindikatoren liegen zwischen 0 und 1 Aggregierter HDI-Wert eines Landes: Auch der HDI-Wert liegt zwischen 0 und 1; je näher an 1, desto besser
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Quelle: http://hdr.undp.org/reports/global/2005/pdf/HDR05_complete.pdf
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Länderranking gemäss SP/Kopf und gemäss HDI variiert im Grossen und Ganzen nicht Spitzenreiter und Schlusslichter sind ungefähr dieselben
Alternativer Indikator: Human Development Indicator (HDI) Vorteil HDI: erfasst nicht nur Einkommen und ist deswegen aussagekräftiger bez. Wohlfahrtsmessung als SP Kritik an HDI: neben Einkommen nur zwei weitere Bereiche erfasst Kritik an HDI: der wichtige Bereich „Umwelt und natürliche Ressourcen“ ist nicht erfasst
Alternativer Indikator: Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft Es geht hier um das Konzept der Nachhaltigkeit und den Zusammenhang von Nachhaltigkeit und Entwicklung Basis: Nachhaltigkeitsdefinition des Brundtland- Berichts von 1987
Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft Definition „Nachhaltigkeit“: Die Bedürfnisse der heutigen Generation können befriedigt werden, ohne dass die Befriedigung der Bedürfnisse künftiger Generationen gefährdet wird Operationalisierung durch Weltbank 1995: Nachhaltigkeit, wenn das Gesamtvermögen/Kopf über die Zeit nicht kleiner wird
Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft Komponenten des Gesamtvermögens: Naturkapital// Humankapital//Sach- kapital//Sozialkapital Empirische Auswertung: Die Länder, die schon bei SP/Kopf bzw. HDI gut (schlecht) abschnitten, sind auch hier gut (schlecht)
Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft Quelle: Serageldin, Ismail (1996): Sustainability and the Wealth of Nations. First Steps in an Ongoing Journey. Environmentally Sustainable Development Studies and Monographs Series No. 5, The World Bank. Washington, D.C.
Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft Offene Frage: Sind Substitutionen von Teilvermögen mit „Nachhaltigkeit“ vereinbar? -> schwache// strenge// „vernünftige“ (sensible) Nachhaltigkeit Achtung: Werturteile! Offene Frage: Welche räumliche Abgrenzung? Offene Frage: Welche zeitliche Abgrenzung?
Gesamtvermögen einer Volkswirtschaft Weiterer Problempunkt: Preis- versus Mengeneffekte Schliesslich: Wie gut sind die Erfassungs- und Bewertungsansätze der verschiedenen Kapitalarten? Und: Möglichkeiten, Sozialkapital zu erfassen? Ausweg: „Leitplanken-Konzept“ des WBGU (nähere Infos unter www.wbgu.de)
Leitplanken - Konzept Idee von „Leitplanken“: quantitativ definierbare Schadensgrenzen, deren Verletzung heute und in der Zukunft intolerable und nicht kompensierbare Folgen mit sich brächte Typen: Ökologische (biosphärische) und sozioökonomische Leitplanken
Leitplanken - Konzept Global nachhaltig: Systeme, in denen die Leitplanken eingehalten werden Global nachhaltig: Systeme, in denen die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen dauerhaft erhalten werden und der Zugang zu modernen Energieformen und zu einem Mindest- SP/Kopf für alle Menschen weltweit garantiert ist
Leitplanken – Konzept: Ökologische LP Klimaschutz: Temperaturänderungsrate < 0,2° pro Jahrzehnt; Temperaturänderung gegenüber Vorindustrialisierung < 2°C Nachhaltige Flächennutzung: 10-20% der Flächen für Naturschutz; weniger als 3% für Bioenergiepflanzen Schutz von Gewässern: 10-20% von Flussökosystemen sind geschützt Schutz von Meeresökosystemen: kein CO2 Schutz der Atmosphäre vor Luftverschmutzung
Leitplanken – Konzept: Sozioökonomische LP Zugang zu moderner Energie für alle Deckung des individuellen Mindestbedarfs an Endenergie (> 500 Watt ab 2020; 2050: 700; 2100: 1000 Watt) Maximaler Anteil Energieausgaben am Einkommen (1/10) Gesamtwirtschaftlicher Mindestentwicklungs- bedarf (> 3000 US-$) Risiken im „Normalbereich“ halten Erkrankungen durch Energienutzung//Produktion vermeiden
Leitplanken – Konzept: Beurteilung Problem: Kein Konzept zur Wohlstandsmessung im strengen Sinn Aber: Ist evtl. ohnehin nur grob möglich Vorteil: Zeigt auf, ob Entwicklungen in die richtige Richtung gehen oder problematisch bez. Nachhaltigkeit sind Vorteil: Simultane Betrachtung von ökologischen und soziökonomischen Aspekten Allerdings: Gewichtung der Teilaspekte offen
Fazit Es gibt nicht das ideale Konzept zur Wohlstand- und Entwicklungsmessung Aussagen über Wohlstands- bzw. Entwicklungsniveau sind komplex und mehrdimensional Gleichzeitige Betrachtung von ökologischen und sozioökonomischen Aspekten ist wichtig im Hinblick auf das Ziel nachhaltiger Entwicklung
1.5 Integrierte Entwicklungs- und Umweltpolitik
Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Entwicklung Traditionelle Sicht: Abbau, Verwendung natürlicher Ressourcen erhöht das SP/Kopf Modernere Sicht: Abbau, Verwendung natürlicher Ressourcen bedeutet auch zunehmende Umweltbelastungen Frage: Nehmen die Umweltbelastungen mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen zu oder ab oder bleiben sie unverändert?
Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Entwicklung Umwelt-Kusznets-Kurve
Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Entwicklung Kusznets-Kurve
Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Entwicklung 3 wichtige Effekte für Ausmass der Umweltbelastungen E: (1)Skaleneffekt: Folge von Wirtschaftswachstum (2)Technikeffekt: Folge von Innovationen, technischen Weiterentwicklungen (3)Kompositionseffekt: Folge von Strukturwandel in Volkswirtschaft => E kann sinken, falls (1) < (2) + (3)
Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Entwicklung Fazit: E wird nur dann sinken, wenn Anreize für (2) und (3) vorhanden sind Also: Es muss eine strenge Umweltpolitik geben Dafür: sind Präferenzen der Bevölkerung für gute Umweltqualität erforderlich Und: Solche Präferenzen sind i.d.R. umso besser ausgeprägt, je höher das Pro-Kopf-Einkommen ist Dann also: fallender Ast der EKC denkbar
Zusammenhang zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Entwicklung Fazit: Falls wir von strenger Umweltpolitik ausgehen können (s. Mechanismus eben), ist eine Konzentration auf einkommensbezogene Indikatoren vertretbar Im Sinne eines umfassenden Wohlstands- Konzepts sollten allerdings in diesem Fall auch nicht ökonomische Indikatoren der Lebensqualität einbezogen werden (s.oben)