FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Die folgende Präsentation illustriert die Teilkapitel 5. 2 bis 5. 4
Advertisements

Wissenschaftsjahr 2010: Geschichte und Zukunft der Energie
Experimentalvortrag zum Thema Batterien und Akkus
Geschichte ihrer Formulierung
PC II für Biochemiker Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Physikalische und Theoretische Chemie, Prof. Dr. J. Enderlein,
Elektrochemische Kinetik
Energie-Grundlagen Sonntagsvorlesung der Physikalischen Institute am 27. November 2005 Prof. Dr. Dieter Freude, Dr. Jens Gabke und Axel Märcker.
Kinetik: Mehrschrittreaktionen
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2010
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2010
Korrosion (elektrochemisch)
Positive Rückkopplung aus der Wirtschaft.
Synchronisation Vortrag von Johannes Dörr und Thomas Wanschik
Dynamik komplexer Systeme
Texturwahrnehmung von Bela Julesz
3 Die chemische Reaktion 3.3 Zustandsdiagramme
Modellbildung in der Geoökologie (G5, 103) SS 2004
aus Sicht der Neuropsychologie
AkadDir W. Wagner, Didaktik der Chemie, Universität Bayreuth
Von Molekülen zu Systemen
Energieformen und Energiequellen
Die Hauptsätze der Thermodynamik
Dienstag, :15 Uhr, SR/GMG Referent: Philippe Bourdin
Alessandro volta© Erstellt von: Tobias Pachta , Florian Moedritscher
Kapitel 7: Stichworte Zustandsgröße, Zustandsgleichung
EC-Selbstorganisation
...warum ein allein gelassenes System immer unaufgeräumter wird...
Das Galvanische Element
Persönlichkeiten in Elektrotechnik
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2013/2014
Selbstorganisation: Grundprinzipien
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2012/2013
EC-Selbstorganisation
Die klassische Brennstoffzelle.
Induktivität einer Spule
Wärme- und Strömungstechnik II
Elektrochemische Kinetik
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2014/2015
Dr. Gerd Gräber Studienseminar Heppenheim
Fremd- oder Selbstorganisation ?
EC-Selbstorganisation
Halbleiter-Elektroden
EC-Selbstorganisation
Elektrochemische Thermodynamik
Halbleiter-Elektroden
3 Die chemische Reaktion 3.5 Das chemische Gleichgewicht
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2011/2012
Ausgewählte Experimente der Elektrochemie
Elektrochemische Doppelschicht
Synthetisch-lineares Vorgehen
Joule-Thomson-Effekt
Elektrizitätslehre Historische Entwicklung
Grundbegriffe Spannung U Stromstärke I Widerstand R Vorstellung mit
Deutsche Wissenschaftler. Jeder Staat hat solche Leute, deren Namen der ganzen Welt bekannt sind. Ihre Errungenschaften haben eine große Bedeutung nicht.
Methoden der Psychologie
Selbstorganisation: Grundprinzipien
Elektrochemische Kinetik
EC-Selbstorganisation
Halbleiter-Elektroden
Kinetik: Mechanismusaufklärung
Grundlagen der Elektrochemie
Selbstorganisation: Anhang I
FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017
Das Atommodell von Rutherford
Deutsche Wissenschaftler
Kinetik: Mehrschrittreaktionen
Teilchen-Streuung und -Reaktionen, 22 Seiten. 8
Elektrochemie Elektrochemisches Potential/chemische Elektroden:
2-Schritt-Kinetik: Grenzfälle
Chemische und mikrobiologische Grundlagen der Wassertechnologie
 Präsentation transkript:

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation Nichtlineare Prozesse in der Elektrochemie 1. Geschichte seltsamer Phänomene Zur Erinnerung: Die Elektrochemie startet als Wissenschaft in Italien: Luigi Galvani (09.09.1737 in Bologna - 04.12.1798 ebenda): „animalische Elektrizität“ Alessandro Volta (18.02.1745 in Como - 05.03.1827 in Camnago bei Como): Elektrometer, Begriff der „Spannung“, Voltasche Säule 1800  Bildnachweis: Wikimedia Commons, Public Domain FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 1. Geschichte seltsamer Phänomene Nur wenig später: Gustav Theodor Fechner (1801 Muskau - 1887 Leipzig): Begründer der Psychophysik (Weber-Fechner-Gesetz), „Atomenlehre“ (1855), Experimente zum Galvanismus: 1828 Tests von Metallpaaren zur Eignung als Stromquellen: Fe / Ag in salpetersaurer Silbernitratlösung: beobachtete eine mehrfach erfolgende Polarisationsumkehr: erste oszillierende elektrochemische Reaktion! „Über Umkehrungen der Polarität in der einfachen Kette.“ In: Schweiggers Journal für Chemie und Physik. 53, 1828, S. 129–151 Bildnachweis: Wikimedia Commons, Public Domain FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 1. Geschichte seltsamer Phänomene John Herschel (1793 Slaugh - 1871 Hawkhurst): Chemiker, Astronom (Sohn von F.W.Herschel): 1833 Passivierungswellen auf einem Eisendraht in Salpetersäure  Christian Friedrich Schönbein (1799 Metzingen - 1868 Baden-Baden): Chemiker, erste Brennstoffzelle (1838, gleichzeitig mit William Grove), Schießbaumwolle, Ozon, oszillierende Passivierung des Eisens   James Prescott Joule (1818 Salford - 1889 Sale/Manchester): 1844 Fortsetzung der Schönbeinschen Experimente, Kopplung mit Daniell-Elementen FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

Selbstorganisation 1. Geschichte seltsamer Phänomene Wilhelm Ostwald (1853 Riga - 1932 Leipzig): Oszillierende Auflösung des Chroms in Säuren, Nervenmodell mit Lillie  Karl Friedrich Bonhoeffer (1899 Breslau - 1957 Göttingen): Schüler von W. Nernst, Nachfolger von W. Ostwald in Leipzig: ab 1940 Arbeit am Ostwald-Lillie-Nervenmodell --> gekoppelte Differentialgleichungen als Modelle zur Beschreibung der periodischen elektrochemischen Phänomene (Analogie: selbsterregte elektrische Schwingungen) U.F. Franck : Schüler von K.F.B in Göttingen, ab 1950: „Passivierungs-Aktivierungs-Mechanismus“ der Auflösung von Metallen in Säuren „periodische Elektrodenprozesse sind die am längsten bekannten chemischen Oszillationen“ aus U. F. Franck, Angew. Chem. 90, 1-16 (1978) FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 2. Die Reaktion der „ordentliche“ Wissenschaft: Obwohl solche periodische elektrochemische Vorgänge schon lange bekannt waren, galten sie doch als Kuriositäten. Ihnen wurde keinerlei Bedeutung zugemessen, da sie den herrschenden wissenschaftlichen Theorien und Auffassungen widersprachen! Thermodynamik: 2. Hauptsatz: „spontan kann Ordnung nur abnehmen“ (Oszillationen sind aber eine zeitliche Ordnung) Chemische Kinetik: „Edukte und Produkte können nur streng monoton (exponentiell) ab- oder zunehmen; Intermediate durchlaufen höchstens ein Maximum“ --> Ablehnung eingereichter wissenschaftlicher Arbeiten, z.B. Belousov 1950: erste homogen oszillierende Reaktion (Malonsäure/Cer/Bromat) --> Anerkennung erst nach 1961 in der Sowjetunion durch die Arbeiten von Anatoli Zhabotinsky, im Ausland erst ab ca. 1968! FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 3. Das neue Paradigma: Selbstorganisation in offenen Systemen 2. Hauptsatz der Thermodynamik (Boltzmanns H-Theorem): In einem isolierten System kann die Entropie nur zunehmen (und die Ordnung, Strukturiertheit und Organisation der Systemelemente nur abnehmen).                                    Ilya Prigogines (1917 - 2003) neues Denken: Alles beruht auf einem Denkfehler: die meisten realen Systeme sind nicht isoliert, sie sind thermodynamisch offen: Austausch von Energie und Stoff mit der Umgebung! Darüber aber sagt der 2. Hauptsatz nichts aus! FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

Selbstorganisation dEinput = dEoutput und dMinput = dMoutput 3. Das neue Paradigma: Selbstorganisation in offenen Systemen Energie und Stoff Energie und Stoff offenes System Nahrung Lebewesen Ausscheidungen  es ist kein Gleichgewicht mehr möglich, wohl aber ein stationärer Zustand: dEinput = dEoutput und dMinput = dMoutput Im stationären Zustand sind die Bilanzen ausgeglichen. Beispiele: Durchflussreaktor, Brennstoffzelle, katalytisch aktive Grenzfläche! FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 3. Das neue Paradigma: Selbstorganisation in offenen Systemen Was aber kann man über die Entropie aussagen? Entropiebilanz: dSSystem = dSinput + dSintern - dSoutput = dSext + dSint (Prigogine 1947, 1977 Nobelpreis Chemie) mit dSint > 0 (2. Haupsatz): lokale «Entropieproduktion» aber dSext - beliebig! Hier gibt es keine thermodynamischen Beschränkungen! FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 3. Das neue Paradigma: Selbstorganisation in offenen Systemen Folgende drei Fälle sind möglich: 1. dSext < 0 , | dSext | > dSint (kein stationärer Zustand):         Ordnung im System wird aufgebaut (dS < 0)  2. dSext < 0 , | dSext | = dSint (stationärer Zustand ist erreicht):         Ordnung im System wird aufrechterhalten (dS = 0) 3. dSext > - dSint (kein stationärer Zustand):         Ordnung im System wird abgebaut (dS > 0)  Fern vom Gleichgewicht können Ordnung und Struktur spontan entstehen! FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 3. Das neue Paradigma: Selbstorganisation in offenen Systemen 1977: Nobelpreis für Chemie geht an Ilya Prigogine "for his contributions to non-equilibrium thermodynamics, particularly the theory of dissipative structures". FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 4. Dissipative Strukturen - eine neue Sicht altbekannter Vorgänge Prigogines Umbruch im wissenschaftlichen Denken rückte die bisherigen „Randerscheinungen“ und „Kuriositäten“ plötzlich ins Zentrum der Wissenschaft! Gleichzeitig verschob sich der Schwerpunkt von einer statischen und linearen Betrachtungsweise zur Erforschung nichtlinearer Prozesse, in denen die Zeit eine wesentliche Rolle spielt. Dynamische Ordnung, Nichtlinearität, Komplexität und Netzwerke werden zu den neuen Schlagwörtern. FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 4. Dissipative Strukturen - eine neue Sicht altbekannter Vorgänge dissipativen Strukturen in der Natur: Bénard-Effekt: Wolkenstraßen, Magmakonvektion, Sonnengranulation, Basaltsäulen chemische Oszillationen: Belousov-Zhabotinsky-Reaktion, Briggs-Rauscher-Reaktion, Biologische Uhren elektrochemische Oszillationen gesellige Amöben: Dictyostelium discoideum dissipativ-fraktale Strukturen: Schneeflocken, Dendriten (Diffusionslimitierte Aggregation (DLA), Mullins-Sekerka-Instabilität) Liesegang-Ringe FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 4. Dissipative Strukturen - eine neue Sicht altbekannter Vorgänge Benard-Zellen, Rayleigh-Benard-Istabilität: Bénard-Effekt: nach Henri Bénard benannt, der es 1900 in seiner Dissertation erstmalig beschrieb. Theorie: Lord Rayleigh 1916 Was haben Benard-Zellen mit Kochen zu tun? (Leibniz Uni Hannover): https://www.youtube.com/watch?v=n75sfdFZnWA https://youtu.be/9Ru_bjW3eL8 FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 5. Voraussetzungen: Gleichgewichtsferne und Nichtlinearität In der unmittelbaren Nähe des Gleichgewichtes gilt immer die lineare Näherung der thermodynamischenKraft-Fluß-Beziehungen. Aus der Linearität aber folgt:          es gibt nur einen stationären Zustand        dieser Zustand ist stabil (Minimum der Entropieproduktion)        dieser Zustand geht stetig in den Gleichgewichtszustand über Im linearen Bereich können keine qualitativ neuen Strukturen entstehen (kein Symmetriebruch möglich)! FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 5. Voraussetzungen: Gleichgewichtsferne und Nichtlinearität Fernab vom Gleichgewicht werden die Beziehungen nichtlinear und qualitativ neue Prozesse werden möglich: thermodynamischer Ast, Lineare Näherung zweite Bifurkation Bifurkations-diagramm erste Bifurkation Entfernung vom Gleichgewicht FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017

FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017 Selbstorganisation 6. Zum Schluss: einige Videos zu chemischen Oszillationen Belousov-Zhabotinsky-Reaktion: https://www.youtube.com/watch?v=3JAqrRnKFHo Briggs-Rauscher-Reaktion: https://www.youtube.com/watch?v=WasYuiOk5xQ Belousov-Zhabotinsky-Reaktion: Dokumentation (in Englisch) https://www.youtube.com/watch?v=nEncoHs6ads FU Berlin Constanze Donner / Ludwig Pohlmann 2017