Schmerzentstehung und Schmerzverarbeitung Iris Kohler Roger Hilfiker
Ziele Einsicht in die Komplexität Konsequenzen für die Behandlung Weniger Frustration Aufzeigen der Schmerzmodulation
Das traditionelle Schmerzmodell
Schmerzmechanismen Peripher nozizeptiv Peripher neurogen Zentrale Schmerzmechanismen
Schmerz ist keine 1:1 Abbildung der Gewebeschädigung Der Schmerz wird auf verschiedenen Ebenen moduliert.
Schmerzmodulierung Schematische Darstellung peripherer nozizeptiver Strukturen und zugehöriger Funktionen bzw. Beispiele pathophysiologischer Prozesse, die zu Hyperalgesie führen Messlinger K. 2002; Physiologie und Pathophysiologie der Schmerzentstehung, Manuelle Medizin 40: 13-21
Schmerzentstehung Normalerweise spüren wir Schmerz, wenn dünn myelinisierte A delta oder unmyelisierte C Afferenzen gereizt werden. Durch die hohe Reizschwelle der Rezeptoren dieser Afferenzen, braucht es einen „schädigenden“ (noxious, Nozizeptoren) Reiz Abb. aus: Messlinger K.(2002); Physiologie und Pathophysiologie der Schmerzentstehung, Manuelle Medizin 40: 13-21
Doppelschmerzphänomen : 1.Schmerz (A delta): hell, spitz, stechend, gut lokalisierbar, schnell abklingend 2.Schmerz (C) nach s, dumpf brennend, schwer lokalisierbar, langsam abklingend Tiefenschmerz und Visceraler Schmerz sind eine ähnliche unangenehme Empfindung wie der 2. Schmerz
Gesteigerte Empfindlichkeit Bei einer Gewebeschädigung kommt es zur Ausschüttung von Entzündungsmediatoren wie: Prostaglandine Serotonin Protonen Bradykinin Leukotrienen Nerve growth factor Cytokinine. Diese Entzündung senkt die Reizschwelle und erhöht die Feuerungsfrequenz Abb. aus: Butler D.S., 2000 The Sensitive Nervous System. S: 54, NOI Group Adelaide
Antidrom / Orthodrom Der Impuls zur Freisetzung dieser Peptide ist ein Antidromer Impuls, d.h. der Impuls wandert von proximal nach distal. Butler D., 2000 The Sensitive Nervous System. NOI-Group, Adelaide
Hinterhorn Input/Output Wall P., Melzack R., (1999) The Textbook of Pain
Vier Hinterhornmodi Normale Übertragung Verminderte Übertragung Erleichterte Übertragung (vorübergehend) Erleichterte Übertragung (fixiert) Wall P., Melzack R., 1999 The Textbook of Pain
Hinterhorn „Modus 1“ Normale Übertragung
Hinterhorn „Modus 2“ >
GATE CONTROL
Hinterhorn „Modus 3“ ? <
Hinterhorn Modus 4 (strukturelle Veränderung) Laminae I, II, III: v.a.Schmerzfasern Laminae IV, V: v.a.Mechanorezeptoren Wall P., Melzack R., 1999 Textbook of Pain
Hinterhorn In der oberflächlichen Schicht (Lamina I) findet man v.a. Neurone, die synaptische Verbindungen mit nozizeptiven Afferenzen haben. In tieferen Schichten liegen vorwiegend multimodale Neurone, an deren Dendritenbäumen in der Substantia gelatinosa (Lamina II und III) afferente Nervenfasern verschiedener Sinnesmodalitäten synaptische Kontakte bilden, z.B. von Mechanosensoren und Nozisensoren) Schmidt R.F., Neuro- und Sinnesphysiologie 3.Aufl. S: 225 ff. Springer Verlag Berlin Abb aus Wall P., Pain the science of suffering Und Schmidt R.F., Neuro- und Sinnesphysiologie
Jaquenod M, Schaeppi B,; 2000, Schmerzforschung im Überblick, Magazin UNIZÜRICH Normal Verletzter Nerv Modus 4
Allodynie: ein normalerweise nicht schmerzhafter Reiz löst Schmerz aus
Konzept der Erregungstoxizität Die nachgeschalteten Neurone werden zunächst stark erregt, danach durch den Einstrom von Kalziumionen geschädigt. Dazu gehören auch hemmende Interneurone, diese sind besonders empfindlich und gehen zugrunde. Durch das Fehlen der hemmenden Interneurone sind die schmerzvermittelnden Neurone ständig enthemmt. Durch einen Schmerzreiz kommt es zu einer Freisetzung von Glutamat und Substanz P auch im Rückenmark. Aus: Mense S., 2001 Pathophysiologie des Rückenschmerzes und seine Chronifizierung. Tierexperimentelle Daten und neue Konzepte. Schmerz 15:
Verhinderung der Chronifizierung -Im Normalfall kommt es nicht zu diesen Veränderungen
Begriffe Primäre Hyperalgesie (peripherer Mechanismus) Sekundäre Hyperalgesie (zentraler Mechanismus Allodynie
Konsequenz für die Behandlung
Humorale und immunologische Mechanismen Das verletzte Gewebe und die Immunzellen im verletzten Gewebe geben chemische Botenstoffe ab, z.B. Zykotine, Prostaglandine, an das Blut ab Diese werden an bestimmten Stellen des ZNS analysiert In den Gehirnregionen sind dies: Tuber cinereum hypothalami, Epiphyse od. Area postema In den peripheren Nervenendigungen wurden sog. „sampling sides“ (Probeentnahmestellen) gefunden Diese sampling sides sind parallel zu den eintreffenden nozizeptiven Bahnen direkt mit den wichtigsten verarbeitenden efferenten Zentren des limbischen Systems verbunden So ist eine biologische Determination im menschlichen Organismus determiniert, die bei Verletzung von Gewebe die notwendige Verhaltensreaktionen und Gefühlszustände diktiert.
Alle anhaltenden nozizeptiven Afferenzen hinterlassen im ZNS einen „Eindruck“, ein „Gedächtnis“, eine „zentrale Repräsentation“ des Schmerzes (Gifford 1998) Dieses Schmerzgedächtnis ist unempfänglich für Therapien, die an den ursprünglich für die Schmerzen verantwortliche Gewebe ansetzen Der verantwortliche Schmerzmechanismus hat sich aus dem betroffenen Gewebe ins ZNS verlagert Schmerzerinnerung
Somatotopische Representation Die Somatotrophische Representation ist nicht fix. Obschon relativ stabil, reflektiert sie nicht nur die Anatomie und die Funktion, sondern auch die Geschichte der Stimuli B: “normale” Area im Somatosensorischen Kortex. C: nach 3 Monaten häufigem Stimulieren der Fingerkuppe Jenkins et al. 1990, in Butler 2001
Somatosensorisches Gedächtnis (Katz und Melzack 1990) Folglich gibt es ein grosses Potential für neue Leitungen Bei lang anhaltender Schmerzerfahrung werden bis anhin schlafende Synapsen aufgeweckt und es bilden sich neue Bahnen Wird der Prozess häufig wiederholt, wird durch ein Lernprozess die Effektivität der Synapsen grösser, bis sich eine permanente synaptische Beziehung bildet Diese Situation entspricht den Abläufen bei der Bildung eines Langzeitgedächtnisses (Pockett 1995) Es etablieren sich maladaptive Afferenz-Efferenz-Kreisläufe Ein Neuron kann im ZNS bis zu 20‘000 andere Synapsen bilden Viele dieser 10Millionen oder mehr Synapsen sind sehr “ineffektiv“ oder „still“(Rose1992)
Eigenschaften maladaptiver zentraler Schmerzmechanismen Symptome langanhaltend, über normale Heilungsdauer hinaus Symptome sind wechselhaft Symptome richten sich nicht nach normalen Grenzen Symptome sind seltsam, schlecht diagnostiziert und mit stark vereinfachten Krankheitsbezeichnungen (z.B. Tendinitis bei Patient mit ausstrahlenden chronischen Schmerzen im Arm) Alle untersuchten Bewegungen schmerzen Überschiessende oder unangenehme Reaktionen des Patienten Normale Bewegungsmuster bei Ablenkung vom Schmerzen, ansonsten merkwürdige Bewegungsmuster Patienten sind häufig unglücklich, unzufrieden, reizbar, wütend und entwickeln Gedanken die den Schmerzverlauf weiter chronifizieren lassen
Affektive und Kognitive Mechanismen Schlechte Stimmung, Depression, psychologische und soziale Belastungen können Veränderungen der sympathischen, neuroendokrinen und neuroimmunologischen Funktionen hervorrufen Erklärungsversuch: die individuelle Fähigkeit der Physiologie mit Belastungen umzugehen durch anhaltende psychologische Belastungen stark beansprucht wird Die natürliche Stabilität und Widerstandskraft von Geweben, die homöostatischen Mechanismen und die allgemeine Empfindlichkeitseinstellung des gesamten NS wird geschwächt Schlechte oder depressive Stimmung, andere starke Gefühle wie Trauer, Wut, Abscheu, bestimmte Formen von Angstzuständen und andere maladaptive Veränderungen der psychologischen Funktionenen, z.B. Stress-Verhalten beeinflussen die Gesundheit des Körpers und damit die Schmerzwahrnehmung in besonderem Masse.
Folgen der negativen affektiven und kognitiven Mechanismen Veränderung des Verhaltens: ungesunde Gewohnheiten annehmen: Konsum von stimmungsverbessernden Drogen: - Alkohol, Tabak, Medikamente sie trainieren (bewegen) sich weniger sie ernähren sich ungesünder Wenn sich das Gehirn /ZNS depressiv fühlt, so sind seine Efferenzen sehr viel ineffektiver (Martin 1997)
Interaktion zwischen Stimmung, Verhalten und Gewebegesundheit (Gifford) Gifford L., in: Van den Berg F., (2000) Physiologie
Somatomotorische Efferenzen Motorische Reaktion wie wir uns bewegen, Haltung, etc. Muskeltonus: komplexe Tonusveränderung bei Schmerz Hemmung (Beispiel verändertes Innervationsmuster Multifidii) Steigerung Schmerzpatienten können ihren erhöhten Muskeltonus schlechter wahrnehmen und regulieren Weiter reagieren sie bei gleicher Reizstärke mit einem höheren Muskeltonus Muskeltonus wird stark von unseren Gedanken und Gefühlen beeinflusst. Flor H., Schugens M., Birbaumer N. (1992) Discrimination of Muscle Tension in Chronic Paint Patients and Healthy Controls. Biofeedback and Self-Regulation 17(3):
Somatomotorische Efferenzen
Einfluss von Stress auf Triggerpunkte: McNulty W H., Gevirtz R N., Hubbard D R., Berkoff G M. (1994) Needle electromyographic evaluation of trigger point response to a psychological stressor. Psychophysiology 31:
Vegetative Efferenzen Das sympathische Nervensystem wird bei Schmerz stärker aktiviert als unter normalen Umständen Nur bei wenigen Patienten besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der sympathischen Aktivität und den Symptomen (d.h. nur bei wenigen Patienten ist das sympathische NS die Ursache) Im Tierversuch konnte eine Veränderung der Rezeptoren an den Nozizeptoren gezeigt werden, welche empfindlich auf Noradrenalin werden Bennet u. Roberts (1996) in Gifford (2000) (Van den Berg, Angewandte Physiologie, Thieme) Butler D., 2000 The Sensitive Nervous System
Neuroendokrine Efferenzen Bei Stress werden über die Hypothalamus-Hypophysen- Nebennieren-Achse Glukokortikoide ausgeschüttet. Sie mobilisieren die Energievorräte und unterdrücken die Entzündungsvorgänge und das Immunsystem Diese Reaktion ist auf kurze, schnell zu bewältigende Stresssituationen ausgelegt Dauert die Situation länger an, werden durch die hohen Glukokortikoidkonzentrationen die Gewebe geschädigt und die Heilungsprozesse beeinträchtigt Van den Berg F. 2000, Angewandte Physiologie, Thieme, Stuttgart
Neuroimmune Efferenzen Regulation v. a. über Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren- Achse und das sympathische Nervensystem.
Absteigende Schmerzkontrollierende Systeme Gegenirritation: Hemmung durch Nozizeptive Afferenzen aus anderen Körperregionen Durch gewisse Reize werden über Hirnstammneurone Schmerzen gehemmt (Stress induced Analgesia)
Schmerzhemmung Abb. aus: Wall P., 1999 Pain, the science of suffering
Schmerzhemmung Nach Wolff H-D. 1996, Neurophysiologische Aspekte des Bewegungssystems. Springer Verlag, Berlin; und Charmann R.A. in Boyling J.D., Palastanga N.(1994) Grieve’s Modern Manual Therapy. 2nd Ed. Churchill Livingstone, Edinburgh
Absteigende Schmerzkontrollierende Systeme
Gierstad J., Tjolsen A., Hole K., 2001 Induction of long-term potentiation of single wide dynamic range neurones in the dorsal horn ist inhibited by descending pathways. Pain 91: Die Langzeitpotenzierung konnte auch in „wide dynamic range“ Neuronen im Hinterhorn demonstriert werden. -Gierstad et al. konnten zeigen, dass die Potenzierung von den absteigenden modulierenden Bahnen abhängt. Langzeitpotenzierung in der Schmerzübertragung Van den Berg (2000) Physiologie
Die Konditionierung ist bei intakten absteigenden Bahnen kleiner als bei unterbrochenen Bahnen. Gierstad J., Tjolsen A., Hole K. (2001) Induction of long-term potentiation of single wide dynamic range neurones in the dorsal horn ist inhibited by descending pathways. Pain 91:
Verarbeitung im Gehirn Liste der aktivierten Gehirnareale bei SchmerzpatientInnen (Wall, 1996) Korikale Strukturen: - Senorische u. motorische rindengbiete - Prämotorischer Kortex - Parietalkortex - Frontalkortex - Kortex des Zingulum - Insula - Oktipitialkortex Subkortikale Strukturen -Thalamus - Putamen - Nucleus caudatus Hypothalamus Amygdalon Periaquäduktales Grau - Hippokampus -Nucleus ruber -Pulvinar -Vermis cerebelli
Verarbeitung im Gehirn Die äusseren Rindenareale: höhere mentale Verarbeitungsprozesse: Planen, entscheiden, argumentieren Limbisches System: Regulation der Gefühle, Stimmungen, Motivation. Wird mit Erinnerungen, dem „Arbeitsspeicher“ in Verbindung gebracht Thalamus, Hypothalamus, Kerne der Foramtio reticularis werden mit der Beobachtung und Regulierung der inneren Biologie in Zusammenhang gebracht...diese Gebiete haben eine direkte Kontrolle über die vegetativen und neuroendokrinen Reaktionen, werden jedoch stark von Plänen und Entscheidungen aus höheren Gehirnzentren beeinflusst sind
Verarbeitung im Gehirn
Die Analyse der Bilder zeigen einen grossen Unterschied zwischen Schmerzkranken und Gesunden Verarbeitung im Gehirn Eine aktuelle Studie (Clauw & Gracely 2002) zeigt, dass bei FibromyalgiepatientInnen im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe bei gleicher Schmerzinduktion eine erhöhte Gehirnaktivität in 12 verschiedenen Arealen zeigt, während bei der Kontrollgruppe lediglich 2 Areale aktiv sind. Ausweitung der aktivierten Gehirnareale In der gleichen Studie wurde auch beschrieben, dass bei der Kontrollgruppe die doppelte Schmerzinduktion benötigt wurde, um Gehirnareale im Vergleich zu den Fibromyalgiepat. zu aktivieren; und die Schmerzsignale befinden sich bei den Gesunden in andern Gehirnarealen! Andere Gehirnareale Hypersensibilisierung
Gesicherte pathogene Risikofaktoren Egle, Hoffmann, Joraschky: Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, Schattauer Verlag
Gesicherte pathogene Risikofaktoren
Pathogene und protektive Entwicklungsfaktoren in Kindheit und Jugend
- unterschiedliche Aktivität des schmerzhemmenden Systems ist Grund für die unterschiedliche Schmerzempfindlichkeit von Personen. Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung noxischer Signale Sensorisch Diskriminative Komponente Affektive (emotionale) Komponente Vegetative (autonome) Komponente Motorische Komponente Schmerzbewertung (Kongnitive Komponente) Schmerzäusserung (psychomotorische Komponente)