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1. Motive monastischer Theologie Monastische Theologie -Lectio – meditatio – oratio als Einheit - Statt dem scholastischen „Credo, ut intelligam“ sagen.

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1 1. Motive monastischer Theologie Monastische Theologie -Lectio – meditatio – oratio als Einheit - Statt dem scholastischen „Credo, ut intelligam“ sagen die Mönchstheologen wie Bernhard v. Clairvaux und Wilhelm v. St. Thierry: „Credo, ut experiar.“ -Nicht Erkenntnis, sondern Erfahrung steht im Mittelpunkt monastischer Theologie -Bonaventura: Mystik als „cognitio Dei experimentalis“ -Vergleich Scholastik – Monastik: Gotische Kathedralen – romanische Abteikirchen -Hohe Zeit der monastischen Theologie ist das 11./12. Jh. -Bernhard v. Clairvaux gilt gemeinhin als Vater der Mönchstheologie 27.05.20161 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth

2 1. Motive monastischer Theologie a. Die Entstehung monastischer Bildung -Die monastische Bildung und Frömmigkeit geht in ihrem Kern auf Benedikt zurück, näherhin auf seine im 6. Jh. entstandene Regel und die „Vita Benedicti“ Gregors d. Großen -Kloster als „Schule für den Dienst des Herrn“ (RB, Prolog 45) -Lectio divina: Lesung und Meditation (legere = audire) -Apprendre par coeur = auswendig lernen (auch heute noch für das persönliche Gebet der Psalmen eine wichtige Form) -In den benediktinischen Klöstern wurden sowohl das Studium als auch das Gebet gepflegt -Liebe zu Gott als Hauptinhalt (solus amor als Prinzip monastischen Lebens) -Gregor gilt neben Benedikt als zweiter großer Lehrer der monastischen Bildung (schlägt die Brücke vom patristischen Zeitalter zur monastischen Kultur des Mittelalters) -Die Suche nach Gott und die Vereinigung mit Gott sind die großen Themen vom Gregors Mystik und werden auch die großen Themen des Mittelalters sein 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 2

3 1. Motive monastischer Theologie b. Die Quellen monastischer Bildung -Die wichtigsten literarischen Quellen sind die Heilige Schrift, das Studium der Väter, und die Beschäftigung mit der klassischen Kultur -Jean Leclercq: „Verlangen nach dem Himmel“ -Im Kloster verstand man sich als Gemeinschaft, deren Ziel das himmlische Jerusalem ist (Kloster als vorweggenommenes Jerusalem) -„Engelgleiches Leben“ (Vita angelica) - Sehnsuchtsspiritualität – Gabe der Tränen -„Epektase“ (Gregor von Nyssa, Petrus Damiani): „Immer verlangend und immer gesättigt“ -Erste Quelle ist die Hl. Schrift: Es ging den Mönchen darum, den gelesenen Text aus der Bibel durch lautes Lesen und Hören gleichsam auszukosten und wiederkäuend zu meditieren (Lectio, meditatio und ruminatio bilden also eine Einheit) -Geschmack des Textes auskosten, Methode des „Wiederkäuens“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 3

4 1. Motive monastischer Theologie b. Die Quellen monastischer Bildung -Einbildungskraft des mittelalterlichen Autors: Die Bilder der Heiligen Schrift (Braut, Lamm, Quelle, Weg, etc.) erzeugen in ihm neue Bilder und lassen ihn so immer tiefer mit allen Sinnen in das Geheimnis Gottes eindringen -Eigentümlichkeit der monastischen Exegese besteht darin, dass der Wortsinn und der sogenannte „mystische Sinn“ nie auseinander gerissen werden (interessant ist dabei auch, dass das AT dabei fast noch eine größere Rolle spielt als das NT) -Das AT wird instrumentalisiert und meist direkt auf das NT, die Erfüllung der Sehnsucht in Jesus Christus, bezogen (inzwischen gibt es in der heutigen Exegese auch wieder Stimmen, die fordern, dass man das AT nicht auf Kosten des NT lesen darf) -Die wichtigsten alttestamentlichen Texte für die monastische Theologie waren die Psalmen, das Buch Ijob und v. a. das Hohelied, in dem das Grundprogramm des monastischen Lebens, die leidenschaftliche Suche nach Gott („quaerere Deum“) am vollendetsten zum Ausdruck kam 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 4

5 1. Motive monastischer Theologie b. Die Quellen monastischer Bildung -Neben die Heilige Schrift tritt als zweite große Quelle der monastischen Spiritualität die Religiosität der Väter -Spiritualität des Ostens: Apophthegmata patrum -Origenes als eine Art unsichtbarer Kirchenvater für die monastische Theologie, weil man in seinen Bibelkommentaren das gleiche Verlangen nach Innerlichkeit spürte wie man selbst es empfand -Dritte Quelle der monastischen Religiosität ist die klassische Kultur (Horaz, Ovid, Vergil) -Vor allem Vergil galt im Mittelalter (noch bei Dante) wegen der Formvollendetheit seiner Verse und der Ankündigung der Geburt eines Knaben als „nicht weit von der Wahrheit entfernt“ (Laktanz), also als quasi-christlich -„Man darf den Einfluss der klassischen Überlieferung auf die monastische Bildung des Mittelalters weder verkleinern noch übertreiben“ (Leclercq) -„monastischer Humanismus“, der sich aber weniger auf die Inhalte als auf die Form bezieht 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 5

6 1. Motive monastischer Theologie c. Die Früchte monastischer Bildung -Zu den Früchten monastischer Bildung gehören zunächst die schriftlichen Werke, welche die Mönche hinterließen. Diese waren weniger theoretischer als praktisch-pastoraler Natur: große Geschichtswerke, Predigten, Reden, Briefe und Sammlungen verschiedener Autoren -Innerhalb der Geschichtsschreibung spielte die Hagiographie eine besondere Rolle (wichtig ist v.a. der Nutzen für die geistliche Lebensführung, nicht die Wahrheit oder Authentizität der Erzählungen) -Hoher Stellenwert der Predigt (bewusst einfach gehalten), Ausdruck der Gottesfreundschaft -Briefe: Trostbriefe, Freundschaftsbriefe (Sinn der Mönche für Humor, Gedanken über die geistliche Freundschaft bei Aelred v. Rielvaux) -Literaturform des Florilegiums: „Ein Büchlein, zusammengestellt aus Worten der Heiligen Schrift und Väterworten, geschrieben besonders für alle, die das kontemplative Leben lieben“ (Johannes v. Fécamp († 1078)) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 6

7 1. Motive monastischer Theologie d. Fazit -Statt reiner Wissenschaft (oder besser: über die Wissenschaft hinaus) setzt die monastische Theologie – allen voran Bernhard – die Heiligkeit: „Nicht das Disputieren begreift, sondern die Heiligkeit.“ -Monastische Theologie als „confessio“, als Akt des Glaubens (Leclercq) -Die Themen monastischer Theologie kreisen immer um zwei große Bereiche: um das Geheimnis des Heils, also die „objektive Seite“ der Beziehung zwischen Gott und Mensch, wie sie in der Heiligen Schrift dargestellt und in der Liturgie gelebt wird; und um die Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott, also die „subjektive“ Seite der Gottesbeziehung -Für uns heute ist die Beschäftigung mit monastischer Theologie und Spiritualität nicht nur ein Kennenlernen einer vergangenen christlichen Frömmigkeitsform aus dem Mittelalter (das auch), sondern Impuls für die eigene Spiritualität und die eigene Art und Weise des Theologietreibens. -Es geht darum, Theologie und Spiritualität, Studium und geistliches Leben, Wissenschaft und geistliche Erfahrung wieder zusammenzubringen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 7

8 Gestalten monastischer Bildung a.Bernhard von Clairvaux (1090-1153) -„Chimäre seiner Generation“ -Kirchenpolitiker, der sowohl im Kampf gegen Gegenpäpste und neue Häretiker stand, als auch (in den Jahren 1146/47) einen neuen Kreuzzug predigte -1090 Geboren als Sohn eines frommen burgundischen Ritters von niederem Adel (hochgebildet) -1111 Bekehrungserlebnis -1113 Eintritt (mit 25 Freunden und 4 Brüdern) in das arme und relativ neue Kloster Cîteaux ein, das 1098 von Robert von Molesmes als Reformkloster gegründet worden war (Bernhard ist somit nicht der Gründer des Zisterzienserordens, doch markiert sein Eintritt einen Wendepunkt in der Geschichte der Zisterzienser) -1115 Abt (wir mit zwölf Mönchen zur Gründung von Clairvaux ausgesandt) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 8

9 Gestalten monastischer Bildung a. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) -Um 1128: De diligendo Deo -ab 1130: Bernhard wird immer mehr in das religiöse und politische Leben Frankreichs und bald auch ganz Europas involviert -Teilnahme an Synoden; Auseinandersetzung mit Abaelaerd ( † 1142); Kreuzzugspredigten -ab 1135: Beginn der Hoheliedpredigten (Sermones super cantica canticorum) -Papstspiegel De consideratione ad Eugenium papam (Mahnschrift an Papst Eugen III.) -20. August 1153: Öffentlicher Tod, umringt von vielen Äbten und Bischöfen (war schon zu Lebzeiten eine Legende und wurde als Heiliger verehrt) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 9

10 Gestalten monastischer Bildung a. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) -Kennzeichen der Mystik Bernhards: Betonung der Erfahrung, Bibelzentriertheit, Christozentrik -Beschreibung einer eigenen mystischen Erfahrung (SC 74,5f): „Ich bekenne, das Wort ist auch zu mir gekommen – in meiner Torheit sage ich das –, und zwar mehrmals. (…) Niemals hat es seinen Eintritt durch irgendwelche Anzeichen kundgetan. (…) Einzig aus der Bewegtheit meines Herzens erkannte ich seine Gegenwart, und an dem Verschwinden der Laster und dem Verstummen der fleischlichen Leidenschaften bemerkte ich seine mächtige Kraft. In dem Aufstöbern und Entlarven meiner geheimen Regungen bewunderte ich die Tiefe seiner Weisheit. (…) Und beim Anblick all dieser Dinge geriet ich in Schrecken über seine Gewalt der Größe.“ -Die Vereinigung mit dem Wort, sprich Gott, geschieht – wenn überhaupt – zu seltener Stunde und ist immer von kurzer Dauer (rara hora, parva mora) -Motiv des Gottgenießens (frui Deo) ist kein Selbstzweck -Ansätze einer Kreuzes- und Nachfolgetheologie im Leiden -4 Hauptwerke: De gradibus humilitatis et superbiae, De diligendo Deo, Sermones super Cantica canticorum, De consideratione ad Eugenium papam 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 10

11 Gestalten monastischer Bildung a. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) Über die Stufen der Demut und des Stolzes (De gradibus humilitatis et superbiae) -Antwort auf die Bitte von Gottfried von La Roche, der seinerzeit zugleich mit ihm die Welt verlassen hatte und Gründungsabt von Fontenay war -Christus ist selbst das beste Beispiel der Demut; doch ist die Demut Christi eigentlich ein Ziel, das wir nie ganz erreichen werden -Erkenntnis der eigenen Schwachheit ist ein Gebot der Vernunft -Zwölf Stufen des Stolzes: Erste Stufe ist die Curiositas als Neugier bzw. eitlen Eifer, mehr wissen zu wollen, als die Hl. Schrift und die Tradition vorgeben -Weitere Stufen des Stolzes: oberflächliche Gesinnung, grundlose Heiterkeit, die sich in grundlosem Lachen erweist, Prahlsucht, Eigenbrötelei, Arroganz, Anmaßung, Verteidigung der Sünden, heuchlerische Beichte und Rebellion -Innerklösterliche Probleme (Gebet für einen Ausgetretenen?) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 11

12 Gestalten monastischer Bildung a. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) De diligendo Deo -Antwort auf die konkrete Anfrage des päpstlichen Kanzlers Haimerich, wie Gott denn geliebt werden solle: „Ihr wollt also von mir wissen, warum und wie Gott geliebt werden soll. Ich antworte: Der Grund, Gott zu lieben, ist Gott. Das Maß ist, ohne Maß zu lieben“ (DD I, 1). -Vier Stufen der Liebe: sich selbst lieben um seinetwillen; Gott lieben um des Menschen willen; Gott lieben ohne direkte Wünsche oder Forderungen; Gott und sich selbst lieben um Gottes willen -Auf dieser Stufe, die Bernhard mit der unio mystica in Beziehung bringt, ist auch von der „Vergottung“ die Rede: „So erfüllt zu werden heißt, vergottet zu werden. Wie ein kleiner Wassertropfen, in viel Wein gegossen, ganz seine Natur zu verlieren scheint“ (DD X, 28). -Unterschied zwischen Gott und Mensch bleibt bestehen -Die Unio mystica geschieht „zwar selten, aber doch zuweilen; oder auch nur einmal und dies ganz plötzlich, im Zeitraum eines einzigen winzigen Augenblicks“ (DD X, 27). 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 12

13 Gestalten monastischer Bildung a. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) Hoheliedpredigten -Bernhard begann damit erst um 1135 und schrieb an ihnen bis zu seinem Tod 1153 (Frucht seiner eigenen, jahrelangen Erfahrung mit Gott) -Teilhabe an der Erfahrung, Jubel im Herzen, Braut-Bräutigam -Keine genaue Exegese des Hoheliedes -Immer wieder persönliche, autobiographische Erfahrungen -„Ich scheue mich nicht, zu bekennen, dass auch ich häufig, v.a. zu Beginn meiner Bekehrung, im Herzen hart und kalt und am Suchen war, wen meine Seele lieben wollte“ (SC 14,6). -„Es gibt einen Raum, wo man Gottes in seiner Stille und Ruhe gewahr wird. Das ist nicht der Raum, wo Gott als Richter oder als Lehrer, sondern wo er als Bräutigam begegnet“ (SC 23,15). -Insgesamt kann man die Hoheliedpredigten Bernhards als die reifste Frucht seiner Mystik bezeichnen; Motto und Ziel: „Mein Bemühen geht nicht so sehr dahin, Worte auszulegen, wie Herzen zu erfüllen“ (SC 16,1). 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 13

14 Gestalten monastischer Bildung a. Bernhard von Clairvaux (1090-1153) De consideratione ad Eugenium papam -In fünf Büchern gibt Bernhard hier Papst Eugen III. (1145-1153) verschiedene Betrachtungspunkte an die Hand -Selbst- und Gotteserkenntnis -Selbsterkenntnis: „Dass Du erhoben wurdest, können wir nicht verhehlen, aber zu welchem Zweck Du erhoben wurdest, das will bedacht sein. Ich denke nicht: um zu herrschen“ (DC II, 6, 9). -Sorge und Eifer für das Volk; keine Herrschaft, sondern Dienst -Gotteserkenntnis: „Das Geheimnis ist groß, es ist zu verehren, nicht zu durchforschen“ (DC V, 8, 18). -Das Eigentliche lehrt nicht die Theologie, sondern die Erfahrung: „Wir möchten wohl noch weiter nach Dem suchen, der noch nicht hinreichend gefunden ist und nie genug gesucht werden kann. Doch wird er durch Gebet wohl würdiger gesucht und leichter gefunden als durch Reden. So sei denn dem Buch ein Ende gesetzt, aber kein Ende des Suchens“ (DC V, 14, 32). 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 14

15 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik -Vielfalt zisterziensischer Spiritualität: „Stimmen von Cîteaux“ -Geboren um 1080 in Lüttich -trat um 1113 zusammen mit seinem Bruder Simon in die Benediktinerabtei Saint-Niçaise bei Reims ein -Bereits 1120 Abt von St. Thierry bei Reims -Begegnung mit Bernard 1124 auf dem Krankenlager (wollte deshalb seine Abtswürde niederlegen und Zisterzienser werden, aber Bernhard wies dieses Ansinnen ab) -In diese Zeit der inneren und äußeren Auseinandersetzung fallen die sehr persönlich gehaltenen Meditationen und Gebete Wilhelms -Gegen den Willen Bernhards trat Wilhelm dann 1135 doch in die zisterziensische Neugründung Signy in den Ardennen ein und wurde einfacher Zisterziensermönch 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 15

16 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik -Wichtige Werke -Orationes meditativae -Hohelied-Kommentar (1137-1139) -Epistola aurea (Brief an die Kartäuser von Mont-Dieu nahe Reims), vollkommener Führer der monastischen Spiritualität -Wilhelm starb am 8. September 1148, 5 Jahre vor Bernhard -Kennzeichen des Lebens Wilhelms: Er wurde von Bernhard und den ersten Zisterziensern von einem scholastischen zu einem monastischen Leben bekehrt -Grundthema der Mystik Wilhelms: Gottebenbildlichkeit des Menschen -Platonisch-neuplatonisches Element -Ästhetisch-kontemplatives Element -Christologisches Element -Familiäres Element -Zirkuläres Element 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 16

17 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik -Die meditativen Gebete Wilhelms sind 13 kurze Texte, die eine Mischung aus Gebet, Meditation, Argumentation, seelsorgerliche Rede und biographischer Erfahrung sind -Ähneln, was die Ergriffenheit des Autors betrifft, in manchem den Bekenntnissen des Augustinus („Theologie der unerfüllten Sehnsucht“) -„Ich bitte dich, schenke denen, die über dich meditieren, schreiben oder sprechen, einen nüchternen Sinn, genaue und treffende Worte! Schenke uns ein Herz, dass in der Sehnsucht nach Dir, Jesus, brennt, damit wir die Schriftstellen verstehen, in denen von dir die Rede ist“ (OM III, 3-4). -Die Sehnsucht nach Gott wird konkretisiert in der Liebe zu Christus -Ähnlich wie bei Bernhard zeigt sich bei Wilhelm ein neuer Typ menschlicherer Frömmigkeit dadurch, dass die Menschheit Jesu, v.a. seine Passion und sein Tod am Kreuz im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen -Wir sollen also den Weg gehen über den, der uns ähnlich ist, über Jesus Christus: „Mach’ mich so wie Jesus“ (OM 10). 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 17

18 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik -Kampf mit Gott, Erziehung durch Gott akzeptieren -„Ich werde dir auch weiter tragen helfen, so wie ich es bisher getan habe. (…) Einen Teil Liebe hast Du schon bekommen. Entweder hast Du es nicht gemerkt, oder du bist undankbar. (…) Bist du nicht ganz schön weit gekommen? Hast du nicht bereits eine ganze Menge empfangen?“ (OM XIII, 11) -Geistmystik und unio mystica (die mystische Einigung mit Gott, ist für Wilhelm v.a. eine unitas spiritus, eine Einheit im Geiste): „Unsere Liebe zu Gott ist der Heilige Geist.“ -Intellectus amoris: Wechselseitigkeit von Liebe und Wissen auf der höchsten Stufe der Einheit mit Gott; diese Stufe ist ein reines Geschenk; die Liebe selbst ist die Erkenntnis -Fazit: Wilhelm geht in seiner Spekulation über das Wesen der Einheit bzw. der unio mystica weiter als Bernhard (wohl auch aufgrund seiner theologischen Bildung, die es ihm erlaubte, tiefe Spekulationen über die Trinität anzustellen) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 18

19 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik -„Stimmen von Citeaux“ (Bernard McGinn) sind Zeugen einer Blüte der Mystik im 12. Jh.: Guerric von Igny (um 1070-1157), Isaak von Stella (um 1100-ca.1175), Aelred von Rievaulx (um 1109-1166) Guerric von Igny -Belgier, der zuerst als Dozent an der Kathedralschule von Tournai unterrichtete, dann aber 1121 in Clairvaux eintrat und 17 Jahre lang Schüler Bernhards war -1138 wurde er zum Abt von Igny (Diözese Reims) gewählt -Überliefert sind v.a. Predigten, in denen er die Festge- heimnisse des Kirchenjahres auf das geistliche Leben der Menschen anwendet -Adventspredigt: „Wirklich auf den Herrn warten: das bedeutet, ihm selbst dann die Treue halten, wenn uns der Trost seiner Gegenwart entzogen ist.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 19

20 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik Guerric von Igny -Christologische Ausrichtung seiner Mystik -Osterpredigt: „Es genügt mir, wenn Jesus lebt! Wenn er lebt, lebe auch ich, denn von ihm hängt meine Seele ab. Er ist selbst mein Leben, er ist selbst mein Genügen. Denn was könnte mir fehlen, wenn Jesus lebt?“ -Lehre von der Gottesgeburt in der Seele -Weihnachtspredigt: „Ihr alle seid Mütter des Kindes, das uns geschenkt ist. Wache also, heilige Mutter, hüte sorgfältig dein Kind, bis Christus ganz in Dir Gestalt annimmt, der dir geboren ist.“ -Ansprache auf das Fest Maria Verkündigung: „Sieh die unaussprechliche Herablassung Gottes und zugleich die unbegreifliche Kraft des Geheimnisses. Er, der dich geschaffen hat, ist nun in dir geschaffen. Als ob es ihm zu wenig wäre, dein Vater zu sein, will er dich auch noch zur Mutter machen.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 20

21 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik Isaak von Stella -Engländer, der zunächst als Hochschullehrer in Frankreich wirkte, bis er 1142 in das Kloster Stella (Diözese Poitiers) Eintrat -1148 Abt von Stella -1168 legt er sein Amt nieder und zieht sich in eine Art freiwilliges Exil in das kleine Kloster Chateliers auf der Insel Ré vor der Atlantikküste zurück (Todesdatum unbekannt) -Gilt theologisch und politisch unter den Zisterziensern als Außenseiter -Seine Predigten sind deswegen von Bedeutung, weil sie den Menschen als geistlichen Wesen genau in den Blick nehmen („mystische Anthropologie“) -Erkannte die Zwiespältigkeit des menschlichen Herzens: „Jeder von uns ist zugleich sehend und blind, jeder ist auf den Beinen und liegt zugleich am Boden. Wir sind von Grund auf zwiespältig und geteilt“ (28. Predigt). 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 21

22 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik Isaak von Stella -„Ich bin als Person ein einziger Mensch. Und doch finde ich in mir zwei Söhne vor, (…) einen Sohn des Menschen und einen Sohn Gottes. Von Natur aus bin ich ein Sohn des Menschen, und in meinem Äußeren ist dieses menschliche Bild zu sehen. Von Gnade aus bin ich ein Sohn Gottes, und in meinem Inneren trage ich sein Bild und Gleichnis“ (27. Predigt) -Ein geistlicher Mensch „kann nicht ständig fliegen; deshalb ist es wichtig, dass er im Stande ist, fest mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen“ (4. Predigt) -Das zweite Charakteristikum der Mystik Isaaks ist die negative Theologie -„Wer niemals das Licht geschaut hat, der hat auch keine Ahnung davon, wie tief die Finsternis sein kann“ (1. Predigt). -„Ich möchte auf keinen Fall einen Gott haben, der sich nach meinem Belieben für mich ändert und von seinem einmal gesprochenen wahren Wort abweicht“ (36. Predigt). -Trotz der negativen Theologie bleibt aber Jesus Christus das Ziel 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 22

23 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik Aelred von Rievaulx -„Bernhard des Nordens“ -Um 1110 geboren -1124-1134 Am Hof von David von Schottland -1134 Mönch, 1140 Priester, 1142 Novizenmeister -1143 Abt in Revesby (Lincolnshire), 1147 Abt in Rievaulx (Diözese York) -hat in England seiner Zeit beträchtlichen geistlichen und politischen Einfluss ausgeübt, und war einer der wenigen Zisterzienser, der auch über rein weltliche Angelegenheiten schrieb -Wichtigste Werke -Speculum Caritatis (Spiegel der Liebe), ein Handbuch für Novizen -De spirituali amicitia (Über die geistliche Freundschaft), einer der populärsten Texte der frühen Zisterzienser -1167 Tod in Rievaulx 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 23

24 Gestalten monastischer Bildung b. Wilhelm von St. Thierry und die Zisterziensermystik Aelred von Rievaulx -Bedeutung der brüderlichen Nächstenliebe und der Freundschaft auf dem Weg zur Einigung mit Gott (Ps 133, 1: „Seht, wie lieblich und gut ist es, wenn Brüder in Eintracht beisammen wohnen!“) -Die geistliche Freundschaft (für Aelred immer die Freundschaft unter den Mönchen/Männern im Kloster) ist ein Weg zu Gott -Homoerotische Neigung? -Es geht Aelred mit seiner geistlichen Freundschaft um dasselbe wie Bernhard mit seiner Brautliebe, nämlich um die höchste Form der menschlichen Liebe als Modell für unsere Beziehung zu Gott (Freundschaftsmystik – Brautmystik) -Irgendwann muss man lernen, den Freund loszulassen, um sich ganz in die Arme Jesu zu werfen -Bleibend wichtig ist die Beobachtung, dass das Erfahrungswissen von Gott auf Erden in der Freundschaft verwurzelt ist (neue Dimension im traditionellen Verständnis von Mystik) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 24

25 2. Franziskanische Spiritualität -Franziskus als Gestalt des Mystikers par excellence -Poverello, Stigmatisierung -Franziskanische Spiritualität behandelt aber auch Männer und Frauen, die ihm folgten - Klara von Assisi, Angela von Foligno, Thomas von Celano, Bonaventura -Spiritualität unterscheidet sich von der spezifisch monastischen Spiritualität eines Bernhard von Clairvaux -Franziskus ist in eine Zeit hinein geboren worden, in der spiritualitätsgeschichtlich die Betrachtung der Menschheit und v.a. des Leidens Christi und die Begeisterung für das Heilige Land, die sich in der Kreuzzugsidee zeigte, viele Menschen ergriffen hatte -Ideal ist das unbehauste Leben eines Pilgers und Kreuzfahrers (die Brüder sollen „Pilger und Fremdlinge in dieser Welt“ sein, „dem Herrn in Armut und Demut dienen“ und „voll Vertrauen um Almosen bitten gehen“) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 25

26 2. Franziskanische Spiritualität a.Franziskus – Mystiker und Prophet -war im Hl. Land und in Ägypten bei Sultan Al Malik, um inmitten der Kreuzzugsmentalität für den Frieden zu werben -musste Kompromisse hinsichtlich der Ordensregel eingehen, die sein eigentliches Anliegen etwas verwässerten, aber aufgrund der praktischen Umsetzung bzw. Lebbarkeit der neuen Spiritualität auch verständlich sind – Beispiel: Gemeinsames Stundengebet -Helmut Feld: Papst Gregor IX. als „Totengräber des Franziskus“ -erstens, weil er den Bau der prachtvollen Grabeskirche des Franziskus veranlasste (was sein Armutsideal gleichsam konterkarierte) -zweitens, weil er ihn schon zwei Jahre nach seinem Tod zu den Ehren der Altäre erhob und damit aus Franziskus einen Heiligen unter anderen in der katholischen Kirche machte und so die einzigartige Sprengkraft seines Lebens nahm -drittens, weil er das Testament, das den ursprünglichen Willen des Franziskus enthielt als unverbindlich für den Orden erklären ließ -Unterschied Bullierte Regel (schriftlich bestätigt durch Bulle „Solet annuere“ von 1223) – Nichtbullierte Regel (nur mündlich vom Papst bestätigt, dafür ausführlicher und näher an der franziskanischen Idee) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 26

27 2. Franziskanische Spiritualität a. Franziskus – Mystiker und Prophet Vier Kennzeichen der Spiritualität des Franziskus 1.Minoritas, „Mindersein“, „Minderbrüder“ -Es geht um „das Geringersein der Brüder als alle übrigen Menschen“ -Grundlage seiner Bekehrung war keine geistige oder intellektuelle Erkenntnis, sondern die konkrete Begegnung mit einem Aussätzigen -Sendung zu den Armen, Niedrigen und Ausgestoßenen (mit dieser Sendung sollen die Brüder der Demut und Armut unseres Herrn Jesus Christus nachfolgen) -Am Abend des 3. Oktober 1226, seines Todestages, soll er in seiner geliebten Portiunkulakirche geäußert haben: „Lobet und preiset meinen Herrn, und erweist ihm Dank, und dient ihm mit großer Demut.“ -Das letzte Testament, das von ihm überliefert ist, weist in diesem Zusammenhang auf die brüderliche Liebe, die „Herrin Armut“ und den kirchlichen Gehorsam hin 2.Orientierung am Evangelium -BR, Prolog: „Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesu Christi heiliges Evangelium zu beobachten durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit.“ -Die ganze Regel ist ein Kommentar zum Evangelium, das sich unschwer auch auf ganz andere Umstände und Lebenssituationen hin übersetzen lässt als die, welche die Regel im Auge hatte. 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 27

28 2. Franziskanische Spiritualität a. Franziskus – Mystiker und Prophet 2. Orientierung am Evangelium -Die Orientierung am Evangelium ging bei Franziskus in den letzten Lebensjahren mit der Liebe zum Kreuz einher -Spätsommer 1224: 40 Tage allein mit Fasten und Gebet auf dem Monte Alverna; Empfang der Stigmata -Im Spätmittelalter war die Stigmatisierung des hl. Franz der zwingendste Beweis für seine Sonderstellung als Beispiel Christi -wollte ein „zweiter“ oder „anderer Christus“ werden -„Nackt dem nackten Christus folgen“ (nudus nudum Christum sequi) -Totalidentifikation mit Christus 3. Kirchlichkeit / Katholizität -„Alle Brüder sollen katholisch sein, katholisch leben und reden. Wenn aber einer in Wort und Werk vom katholischen Glauben und Leben abirren sollte und sich nicht bessern würde, soll er aus unserer Bruderschaft gänzlich ausgestoßen werden.“ (NBR, Kap. 19) -Man sieht die Katholizität aber auch daran, dass den Brüdern das Stundengebet auferlegt wird, sie sich einen Generalminister wählen, ein Pfingstkapitel abhalten und sich von den Frauen fernhalten sollen (Einfluss des IV. Laterankonzils von 1215) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 28

29 2. Franziskanische Spiritualität a. Franziskus – Mystiker und Prophet 3. Kirchlichkeit / Katholizität -Trotz Programm einer „Laienspiritualität“ blieb Franziskus zeit seines Lebens eine treuer Sohn seiner Kirche -Einbindung in die Hierarchie durch Weihe zum Diakon (wird z.T. angezweifelt) 4. Schöpfungsliebe / Sonnengesang -Franziskus preist die ganze Schöpfung und versteht sie als Weg zu Gott -Alle Dinge, auch die scheinbar negativen wie der Tod, sind eine Möglichkeit, um Gott zu begegnen -Christliche Schöpfungsmystik (aufpassen, aus dem Sonnengesang nicht einen bloßen Ausdruck diffuser Naturmystik zu machen) -Franziskus geht es im Sonnengesang nicht nur um den Einsatz für Gottes gute Schöpfung, sondern auch um die gläubige Annahme von Krankheit, Sterben und Tod -Franziskus nimmt die ganze Wirklichkeit als seine Brüder und Schwestern an und bringt mit seiner Schöpfungsliebe letztlich zum Ausdruck, dass Gott uns durch die Wirklichkeit umarmt (Konzept einer umfassenden, universalen Welterlösung) -Simone Weil: „Das Beispiel des heiligen Franziskus zeigt, welchen Raum die Schönheit der Welt in einem christlichen Geist einnehmen kann. Nicht nur ist sein Gedicht vollkommene Poesie, sondern sein ganzes Leben war vollkommene tätige Poesie.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 29

30 2. Franziskanische Spiritualität b. Klara von Assisi (1193-1253) -erste Frau, die sich zur Form der Verwirklichung des Evangeliums berufen wusste -Gründerin der „Armen Frauen von San Damiano“ -Im Alter von 19 Jahren empfing sie am 19. März 1212 in der Kirche Santa Maria degli Angeli durch Franziskus den Habit der Armut -Übersiedlung nach San Damiano, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte -das Hauptvermächtnis, das Klara von Franziskus erhalten hatte, waren die Armut, die Erfahrung gegenseitiger Liebe und die gemeinsame Betrachtung des Herrn -Leben der Kontemplation -Armut als Schlüssel zur bräutlichen Vereinigung mit dem armen Christus (ist in diesem Sinne „mystischer“ als Franziskus) -Christus als Spiegel der Armut, Demut und Liebe 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 30

31 2. Franziskanische Spiritualität c. Angela von Foligno (1248-1309) -Ihr franziskanischer Beichtvater, Bruder Arnaldo, hat Angelas Weg der intensiven spirituellen Erfahrung aufgezeichnet -Ursprünglich verheiratet soll sie Gott um den Tod ihrer Verwandten gebeten haben, um „frei“ für die Liebe zu Christus zu sein, welche ihren Höhepunkt in der mystischen Vereinigung mit dem toten Christus im Grab am Karsamstag fand -Zusammenarbeit zwischen einer ekstatischen Frau und einem gebildeten Kleriker -Im sog. Memorial des Arnaldo wird ihre geistliche Pilgerschaft in bis zu dreißig Stufen beschrieben (Angela von Foligno bildet den sog. „Magdalenatypus“, den Fall einer Sünderin, die mit Blick auf den Gekreuzigten und seine Liebe zu einem neuen Leben in Buße hingezogen wurde) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 31

32 2. Franziskanische Spiritualität c. Angela von Foligno (1248-1309) -Angela ging es in ihrem Memorial („einer der ersten und bestimmt längsten und komplexesten Autobiographien des Spätmittelalters“) um die absolute Identifikation mit Christus und seinem Evangelium -Sie will zeigen, wie eine Frau zum zweiten Christus werden kann, in dem sie sich mit dem leidenden Erlöser identifiziert und schließlich in die Dreifaltigkeit einbezogen wird -Sie wird selbst zu einem Sohn Gottes bzw. zum Sohn Christi d. Thomas von Celano -Verfasser der beiden Lebensbeschreibungen des hl. Franz -Erste Lebensbeschreibung: In Greccio wurde das Kind Jesus, das vergessen worden war, „zum Leben erweckt durch seinen Diener Franziskus“ -Zweite Lebensbeschreibung: Liebe des Franziskus zur Passion -Bild von Franziskus, das einerseits von der Demut der Menschwerdung (Geheimnis von Weihnachten) und andererseits von der liebenden Hingabe am Kreuz (Geheimnis der Passion) geprägt ist 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 32

33 2. Franziskanische Spiritualität e. Bonaventura (1221-1274) -1257 Wahl zum Generalminister des Ordens -1273 Erhebung zum Kardinal -15. Juli 1274: Tod auf dem Konzil von Lyon -Doctor seraphicus, sapientiale Theologie -Definition der Mystik als „cognitio Dei experimentalis“ -Sein bedeutendstes spekulatives und mystisches Werk ist der Traktat Itinerarium mentis in Deum, das er 1259 kurz nach seiner Wahl zum Generalminister geschrieben hat -Die Identifikation mit dem hl. Franziskus (La Verna) und die Liebe zum gekreuzigten Christus sind der Ausgangspunkt dieser Schrift -Der Weg zu Christus führt über sechs Stufen -Eins und Zwei: Über die Gesamtheit aller Dinge hinausgehen (transire) -Drei und Vier: In unseren Geist einkehren (intrare) -Fünf und Sechs uns selbst übersteigen (transcendere) zum ewigen und höchsten Gott 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 33

34 2. Franziskanische Spiritualität e. Bonaventura (1221-1274) -Legenda maior / Vita des hl. Franziskus: Die Nachahmung des Gekreuzigten wird an die Praxis totaler Armut geknüpft -Typisch für Bonaventuras Spiritualität ist die totale Christozentrik (wir sollen den Weg gehen, den Christus selbst gegangen ist) -Bonaventura ist mit der Spiritualität der Wüstenväter vertraut, verbindet diese aber mit dem Armutsideal des Franziskus -Liebe zur Schöpfung: „Wer durch den Glanz der geschaffenen Dinge nicht erleuchtet wird, ist blind; wer von ihrem lauten Ruf nicht aufwacht, ist taub“ (Itin. ment. in Deum). -Bonaventuras Einfluss auf die spätere Theologie und Spiritualität ist nicht hoch genug einzuschätzen (bietet eine alternative Art, Theologie zu treiben, an); ihm ist es gelungen, das Leben des hl. Franziskus sozusagen theologisch umzusetzen (z.B. Theorie des Mitleidens, vgl. J.B. Metz) -Universale Bedeutung franziskanischer Spiritualität („Minderbruder sein im Sinn der Sanftmut und Demut“) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 34

35 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a.Meister Eckhart (um 1260 – ca. 1328) -Haupt der deutschen Mystik -Brückenbauer zu den östlichen Religionen, v.a. dem Buddhismus (D. T. Suzuki: „Als ich zum ersten Mal.... ein kleines Buch mit einigen von Meister Eckarts Predigten las, beeindruckten diese mich tief. … Die darin geäußerten Gedanken waren buddhistischen Vorstellungen so nahe, dass man sie fast mit Bestimmtheit als Ausfluss buddhistischer Spekulation hätte bezeichnen können. So weit ich es beurteilen kann, scheint mir Eckhart ein ungewöhnlicher ‚Christ’ zu sein“.) -Dominikaner: steht in der Tradition der Kirche, auch wenn ihn seine intellektuell-mystische Theologie manchmal zu Äußerungen führen konnte, die missverständlich waren -Einheitsmetaphysiker: Liebe zu Gott als der absoluten Einheit ist so groß, dass für ihn bestimmte Glaubenswahrheiten (v.a. der Gnaden- und Trinitätslehre, aber auch der Christologie) sekundär wurden 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 35

36 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a.Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) Biographie -um 1260 in Hochheim bei Gotha geboren -um 1277 Studium der artes (sieben freien Künste) in Paris und noch vor 1280 Theologie unter Albert dem Großen in Köln -1293/94 Lektor an der Pariser Sorbonne, dann Prior der Dominikaner in Erfurt -1303-1311 Provinzial der neu errichteten Dominikanerprovinz Saxonia -1311-1313 Lehrtätigkeit in Paris und Betreuung von Schwesterngemeinschaften in Straßburg und am Rhein -nach 1323 Leitung des Studium generale der Dominikaner in Köln (dort deutsche Predigten – Einsetzung einer Kommission durch den Erzbischof von Köln, um seine Rechtgläubigkeit zu überprüfen) -nach seinem Tod wurden 28 Aussagen Eckharts durch die Bulle In agro dominico (1329) von Johannes XXII. verurteilt (Eckhart hat wohl noch vor seinem Tod die ihm zur Last gelegten Sätze widerrufen) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 36

37 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) -Seine Mystik entwickelte Eckhart v.a. in den deutschen Predigten und Traktaten. In den lateinischen Werken finden wir dagegen mehr sein scholastisches Grundkonzept. -war zugleich lehrender Theoretiker (lesmeister) und Praktiker der christlichen Frömmigkeit (lebmeister) -Um die Lehre der Gottesliebe mit dem Leben seiner Zuhörer in Deutschland in Verbindung zu bringen, verfasste er die Traktate „Reden der Unterweisung“, „das Buch der göttlichen Tröstung“ und „Vom edlen Menschen“ -„Mit wem es Recht steht, wahrlich, dem ist es an allen Stätten und unter allen Leuten recht. Mit wem es aber unrecht steht, für den ist es an allen Stätten und unter allen Leuten unrecht. … Wer aber Gott recht in Wahrheit hat, der hat ihn in allen Stätten und auf der Straße und bei allen Leuten ebenso gut wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle. … Ein solcher Mensch trägt Gott in allen seinen Werken und an allen Stätten, und alle Werke dieses Menschen wirkt allein Gott.“ (RdU 6) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 37

38 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) Bedeutung des „Durchbruchs“ (wesenliche kere) -Der Durchbruch ist entscheidend, weniger der Weg, auf dem ich zu Gott gelange. Wichtig ist, dass ich zu ihm gelange, und dass ich ihn zum Zentrum meines Lebens mache. -„Beginne nicht heute eines und morgen ein anderes und sei ohne alle Sorge, dass er darin je irgendetwas versäume. Denn mit Gott kann man nichts versäumen.“ (RdU 22) -„Lass Gott in dir wirken, ihm erkenne das Werk zu, und kümmere dich nicht darum, ob er mit der Natur oder übernatürlich wirke; beides ist sein: Natur und Gnade.“ (RdU 23) -Abegescheidenheit: Demut, inneres Leerwerden, die Suche nach der Einförmigkeit mit dem Willen Gottes, gleichmütiges Ertragen des Leidens (vgl. Indifferenz bei Ignatius) -„Du sollst wissen: leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein.“ (DW 5, 411) -Abgeschiedenheit als Grundhaltung eines geistlichen Lebens 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 38

39 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) Lehre vom „Seelenfunken“ -„Es ist von allen Namen frei und aller Formen bloß, ganz ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in sich selbst. Es ist so völlig eins und einfaltig, wie Gott eins und einfaltig ist, so dass man mit keinerlei Weise da hinein zu lugen vermag. Jene nämliche Kraft, von der ich gesprochen habe, darin Gott gründend und blühend ist mit seiner ganzen Gottheit und der Geist in Gott, in dieser selben Kraft gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn so wahrhaft wie in sich selbst.“ (Predigt 2, 163) -Gottesgeburt in der Seele als das zentrale Motiv von Eckharts Mystik (Akt der Gnade) -Gottgemäßheit und Gottebenbildlichkeit des Menschen -„Solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.“ (Predigt 32, 209) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 39

40 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) Lehre vom doppelten Sein der Dinge -„Merke: Jedes Geschöpf hat ein zweifaches Sein. Das eine in seinen ursprünglichen Ursachen, jedenfalls im Wort Gottes, und das ist ein festes und beständiges Sein.... Das andere Sein ist das Sein, das die Dinge in der äußeren Wirklichkeit, in der ihnen eigentlichen Form haben.“ -A. M. Haas: „Es ist ganz klar, dass Eckhart immer, wenn er von der Sohnesgeburt spricht, dieses ursächliche Sein als einen Ort, dahin jeder Gläubige zurückzukehren hat, ins Auge fasst. Im ursächlichen Sein Gottes aber sind alle Geschöpfe – als göttliche Ideen – Gott in Gott. Hier ist die Differenz zwischen geschaffenem und ungeschaffenem Sein, zwischen Inkarnation und Schöpfung, ein unangemessener Gesichtspunkt. Eckhart geht es um die mystische, unter der entscheidenden Mitwirkung der göttlichen Gnade bewirkte Aufhebung dieser Differenz.“ -Zentrale Themen seiner Mystik: Abgeschiedenheit, Einformung in Gott, Seelenfunken, Lauterkeit göttlicher Natur (negative Theologie) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 40

41 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) -Eckhart warnt vor geistlichem Genuss und einer sich selbst genießenden Mystik -Kontemplation muss immer zur Aktion führen (vgl. Eckharts Interpretation der Perikope von Martha und Maria deutlich: Maria als die Anfangende, welche noch viel zu lernen hat, Martha als diejenige, welche „ganz wesenhaft“ dasteht) -„Nun aber wollen gewisse Leute es gar so weit bringen, dass sie der Werke ledig werden. Ich aber sage: Das kann nicht sein! … Als Maria zu Füßen unsres Herrn saß, da lernte sie noch, denn noch erst war sie in die Schule genommen und lernte leben. Aber späterhin, als Christus gen Himmel gefahren war und sie den Heiligen Geist empfangen hatte, da erst fing sie an zu dienen … Wenn die Heiligen zu Heiligen werden, dann erst fangen sie an, Tugenden zu wirken.“ (Predigt 28, 289) -Martha als Verkörperung einer „Mystik des Alltags“ -Christliche Wesentlichkeit als Sein im gleichzeitigen Ein- und Ausgehen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 41

42 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) Christologie -tritt bei Eckhart in den Hintergrund -Die Geburt des Sohnes im Herzen des Gläubigen ist nichts anderes als die je neu aktualisierte und zu vergegenwärtigende Inkarnation Gottes in Jesus Christus -Wir haben uns bei der Gottesgeburt in der Seele am Vorbild Christi zu orientieren -Die Menschwerdung Gottes ist nicht einfach nur ein einmaliges historisches Ereignis, sondern geschieht im hier und jetzt in der Seele jedes Menschen, der sich für Gottes Geist öffnet. -„Warum ist Gott Mensch geworden? Darum, dass ich als derselbe Gott geboren wurde. Darum ist Gott gestorben, damit ich der ganzen Welt und allen geschaffenen Dingen absterbe.“ (Predigt 29, 292) -„Gott gebirt seinen eingeborenen Sohn in Dir, es sei Dir lieb oder leid, ob du schläfst oder wachst; er tut das Seine.“ (Predigt 23, 260) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 42

43 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) -An diesem einen Sein von Vater und Sohn hat der Mensch als Idee vor aller Schöpfung Anteil, weil alle Dinge am Beginn (in principio) bei Gott waren -„Darum bin ich Ursache meiner Selbst, meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewig bleiben. Was ich meiner Geborenheit nach bin, das wird Sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; darum muß es mit der Zeit verderben. In meiner ewigen Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, wäre auch ‚Gott’ nicht: daß Gott ‚Gott’ ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht ‚Gott’.“ (Predigt 32, 208) -A.M. Haas: „Es ist die Vorstellung einer Einheit zwischen Mensch und Gott, die für ihn so hinreißend und bewegend ist, dass er eigentlich von nichts anderem spricht.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 43

44 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner a. Meister Eckhart (um 1260 - ca. 1328) -Idee einer letztlichen Gleichheit von Gott und Mensch -„Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde.“ -Die Einheit von Gott und Mensch, die sich letztlich in der Person Jesu Christi gezeigt hat, ist das Ziel christlicher Spiritualität (das ideale, von Gott gewollte Menschsein wird sich immer an ihm orientieren müssen) - Erlösung am Kreuz spielt keine wichtige Rolle bei Eckhart (wird weitgehend ausgeblendet) -Eckhart hat letztlich die Lehre der Vergöttlichung aus dem Neuplatonismus intellektuell weiter gedacht (Gott ist Mensch geworden, damit sich der Mensch seiner göttlichen Würde und Abstammung bewusst wird) -Anstoß für heute / Folge für unser Handeln: Wir sollten den Mut haben, „göttlicher“ vom Menschen zu denken 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 44

45 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Taulers Lehre ist uns bezeichnenderweise ausschließlich in Predigten überliefert. Er schrieb keine gelehrten lateinischen Traktate wie Eckhart. In diesen Predigten versucht er v.a. ethisch und moralisch auf seine Zuhörerinnen (lange Zeit betreute er Ordensschwestern in Straßburg) einzuwirken -Versuch der „Korrektur“ Eckharts: „Er sprach aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, ihr aber fasst es der Zeitlichkeit nach auf.“ (Predigt 15a, 103) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 45

46 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Tauler meinte, dass es für einfache Menschen nicht gut sei, über so schwierige und hohe Dinge wie die Vereinigung der Seele mit Gott nachzudenken: „Du aber frage nicht nach hoher Weisheit, sondern geh’ in deinen eigenen Grund, und lerne dich selber kennen, und frage nicht nach Gottes Seinslosigkeit, nach dem Ausfluss und dem Rückfluss der Dinge in Gott, nach dem Seelengrund in der Nichtigkeit der Seele und nach dem Seelenfunken in Gottes aus sich selbst seiendem Sein.“ (Predigt 16, 111f) -verstand sich nämlich zeit seines Lebens (mehr noch als Eckhart) als lebmeister, nicht als lesmeister -um 1300 in einer angesehenen Straßburger Bürgerfamilie geboren -Tritt schon in jungen Jahren (mit 14 oder 15) in den Dominikanerorden in Straßburg ein -Interessant ist seine Beziehung zur deutschen Frauenmystik und zu dem sog. „Kreis der Gottesfreunde“, in dem viele Frauen und Männer in einem geistlichen Austausch standen (wichtig für Tauler v.a. das Kloster Medingen, Margarethe Ebner) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 46

47 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Taulers Priesterweihe mit 25 Jahren -1338-1342 Päpstliches Interdikt (Umzug nach Basel) -Ab 1346/47 wieder ganz in Straßburg -Er selbst deutete wiederholt eine Krise in der Lebensmitte und die Notwendigkeit einer zweiten Bekehrung an, die der gottsuchende Mensch nicht vor seinem vierzigsten Lebensjahr vollzieht. -Tauler macht damit auf ein allgemeingültiges Gesetz des menschlichen Lebens aufmerksam, nämlich auf die Tatsache, dass der Mensch in der Lebensmitte (zwischen 40 und 50) entwicklungspsychologisch in eine Phase eintritt, in der er zu einer neuen Lebenseinstellung, einer „wesenlichen kere“ gelangen kann -1361 Tod in Straßburg (Grabplatte in der Neuen Kirche in Straßburg) -Einfluss auf Luther und Petrus Canisius (bis heute ist sein Einfluss sowohl auf Protestanten wie auf Katholiken ungebrochen) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 47

48 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) Taulers Mystik -Ruf nach Selbsterkenntnis -Der Mensch ist „gottfarben“, „gottförmig“; in solchen Menschen findet Gott seinen Ruhm -Unterschied zwischen Tauler und Eckhart besteht darin, dass Tauler immer die absolute Gnadenhaftigkeit der Einheit mit Gott hervorhebt, und damit seinen Meister in orthodoxer Weise „korrigiert“ -Nur der Mensch, der erkannt hat, dass er aus sich selbst heraus „nichts“ ist, d.h. nichts alleine wirken und leisten kann, sondern nur aus Gott heraus, der wird wirklich ein gottförmiger Mensch (Radikalisierung der biblischen Gottebenbildlichkeit) -Die Seele wird ganz gottfarben, göttlich, gottförmig. Sie wird durch Gottes Gnade all das, was Gott von Natur ist, und zwar in der Vereinigung mit Gott, in dem Einsinken in Gott, sie wird über sich hinaus in Gott geholt. (...) Denn Gott und die Seele sind eins in dieser Vereinigung, durch Gottes Gnade, nicht von Natur.“ (Predigt 37, 277) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 48

49 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Mehr als Eckhart betont Tauler die unaufhörliche Anstrengung der Umkehr bzw. Abkehr von der menschlichen Sünde -Wichtige Haltungen: Gelassenheit, Lauterkeit, Einfachheit, „mystisches Sterben“ -Kennzeichnend ist die Betrachtung des Lebens und Leidens Christi („Fußstapfen Christi“) -Der Weg zur Vereinigung mit Gott führt über Leiden und Kreuz, doch wendet sich Tauler auch gegen die zu seiner Zeit weit verbreitete übertriebene Passionsmystik -„Die bloße Betrachtung dieses Leids bringt wenig Frucht, wenn nicht gesehen wird, dass darin Gott zu Nichts geworden ist, dass Gott am Kreuze gestorben ist für den Menschen.“ – „Folge deinem gekreuzigten Gott!“ -„Du sollst deinen Gott nicht wie einen reinen Menschen ansehen, sondern ihn betrachten als allergrößten, gewaltigen, ewigen Gott.“ (Predigt 51, 392f) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 49

50 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Christusnachfolge und Kreuzesnachfolge werden identisch: „Dieses Kreuz ist der gekreuzigte Heiland. Der soll und muss in uns geboren werden durch alle Kräfte hindurch, Vernunft, Wille, den äußeren Menschen, die Sinne.“ (Predigt 60, 464) -Auch die Kirche und die Sakramente spielen für Tauler eine wichtige Rolle auf dem Weg zu Gott (der Mensch braucht die Gnadenmittel der Kirche, allen voran die Eucharistie) -In der Eucharistie wird die Vergöttlichung des Menschen auf die Spitze getrieben: „Denn er ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werde; aber das war ihm nicht genug: Er wollte sogar unsere Speise werden.“ (Predigt 30, 208) -Fazit: Es geht Tauler um zwei große Geheimnisse, um das Geheimnis des Menschen, und um das Geheimnis Gottes. Deshalb kann man von einer christlichen Anthropologie sprechen -Theologie ohne Erfahrung ist unglaubwürdig 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 50

51 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Tauler ist überraschend modern in der Einschätzung und Einbeziehung psychologischer Bezüge in seine Verkündigung (Krise in der Lebensmitte, Angst- und Leiderfahrungen) -Angst und Bedrängnis sind nach Tauler ganz natürliche Folgen der Entäußerung des Menschen und gehören notwendigerweise zum Prozess der Einkehr in den Seelengrund (das getrenge ist ein wesenhafter Bestandteil des mystischen Weges) -Ziel ist das Einsinken in den göttlichen Abgrund 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 51

52 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) Heinrich Seuse -besuchte das studium generale in Köln, war dort Schüler Meister Eckharts, von dem er fasziniert war -Seuse versuchte seinen Lehrer – ähnlich wie Tauler – mäßig zu verteidigen, seine Mystik ging aber letztlich in eine andere Richtung -Er ist unter den drei großen Dominikanern der eigentliche „Mystiker“, d.h. Visionen, Auditionen, asketische Praktiken und der Austausch mit der deutschen Frauenmystik prägten sein Leben ungleich mehr als das Taulers oder Eckharts -In seiner Autobiographie berichtet er, wie er zu Beginn seines geistlichen Weges harte, bisweilen brutale Bußpraktiken übte. -Mit einem Schreibgriffel stach er sich oberhalb seines Herzens ins Fleisch, „und stach also hin und her und auf und ab, bis er den Namen IHS deutlich auf sein Herz gezeichnet hatte“. 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 52

53 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Bedeutend war seine Freundschaft mit der Nonne Elsbeth Stagel aus dem Kloster Töss, in der Seuse nicht nur der Führende, sondern oft auch der Geführte und Empfangende war -Wichtigstes Werk Seuses: Horologium sapientiae -Lateinische Version des Büchleins der ewigen Weisheit, das in die 24 Stunden des Tages (Kapitel) gegliedert ist -wurde neben der Imitatio christi des Thomas von Kempen zum meistgelesenen Andachtsbuch des Spätmittelalters, wie überhaupt den Schriften Seuses im Unterschied zu denen Eckharts und Taulers eine weitere Verbreitung – wohl auch aufgrund ihres Volkscharakters – beschieden war -Inhaltliche Schwerpunkte seiner Mystik sind die Passionsfrömmigkeit, ddie Verehrung zum Namen und Herzen Jesu und zur Eucharistie, sowie die Marienverehrung (wesentlich traditioneller, gefühlsbetonter, konkreter und auch „körperlicher“ als Tauler und Eckhart) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 53

54 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) -Dialog zwischen der Ewigen Weisheit (Gott)und dem Diener (Seele) -Die Popularität des Büchleins der ewigen Weisheit liegt nicht zuletzt darin, dass die Passionsfrömmigkeit und die Liebe zum Namen Jesu im Spätmittelalter in der Volksspiritualität weit verbreitet war -Zweites Werk Seuses: Büchlein der ewigen Wahrheit -In ihm zeigt sich Seuse auch von der Eckhartschen Mystik inspiriert (Beispiel Lehre vom doppelten Sein in Kap. 3) „Der Jünger: Ewige Wahrheit, wie verhielt es sich aber mit den Geschöpfen, die von aller Ewigkeit her von Gott waren? Die Wahrheit: Sie sind dort gewesen wie in ihrem ewigen Vorbild. Der Jünger: Was versteht man darunter? Die Wahrheit: Darunter versteht man sein ewiges Wesen in der Art, wie es sich in mitteilbarer Weise dem Geschöpf zu erfassen gibt. Und merke: Alle Geschöpfe sind von aller Ewigkeit her Gott in Gott und besaßen dort von Grund auf keinen anderen Unterschied als den, von dem gesprochen wurde. Sie sind dasselbe Leben, Wesen und Vermögen, sofern sie in Gott sind und sind dasselbe Eine und nichts weniger. Aber nach dem Ausgang, mit dem sie ihr eigenes Wesen gewinnen, hat ein jegliches sein besonderes Wesen. (...) Und das ist nicht Gottes Wesen, denn der Stein ist nicht Gott und Gott auch nicht der Stein, wenn auch alle Geschöpfe durch ihn das sind, was sie sind. In diesem Ausfluss haben alle Geschöpfe ihren Gott gewonnen, denn wo ein Geschöpf sich als Geschöpf findet, bekennt es seinen Schöpfer und seinen Gott. 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 54

55 3. Die deutsche Mystik der Dominikaner b. Johannes Tauler (um 1300-1361) und Heinrich Seuse (um 1295-1366) Briefe Seuses an Elsbeth Stagel (Kloster Töss) -gab ihr nicht nur Ratschläge für das geistliche Leben, sondern offenbarte ihr auch eigene geistliche Schauungen -„Eines hellen Morgens, zu Weihnachten, als man den frohen Gesang vom väterlichen Glanz der ewigen Weisheit zur zweiten Messe singen sollte, war dem Diener in seiner Kapelle eine stille Versenkung seiner äußeren Sinne zuteil geworden. Ihm schien es, er werde in einen Chor geführt, in dem gerade die Messe gesungen wurde. … Und in dem ward ihm Herz und Seele so voll neuer brennender Begier und innerlichen Lichtes, dass es ihm alle Kraft entzog. Es war, er wusste nicht wie, als vereinige sich ihr Herz mit Herzen in lauterer über den Sinnen liegender Weise.“ (8. Brief) -Seuse lebte, schrieb und predigte aus seiner Intimität mit Gott (wahrscheinlich berührt gerade das den heutigen Leser seiner Werke am stärksten) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 55

56 4. Die deutsche Frauenmystik -Mystisches Frauen-Dreigestirn im Mittelalter: Mechthild von Magdeburg (um 1207-um 1290), Gertrud die Große (1256-ca.1302) und Mechthild von Hackeborn (1241-1298) -Alle drei hatten mit dem nach der Wende wiederbelebten Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben zu tun -„Geist von Helfta“: Zentral ist bei allen der Dialog der Seele mit Gott, die Brautmystik, die Betonung der Liebe und die Ähnlichkeit in den verwendeten, geschauten Metaphern 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 56

57 4. Die deutsche Frauenmystik 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 57 Gertrud die Große -Lebte bis zu ihrem 25. Lebensjahr wie eine ganz normale Nonne -Erfuhr dann, im Januar 1281, eine Krise, die durch eine Christuserscheinung gelöst wurde -Hauptwerke: Gesandter der göttlichen Liebe (Legatus divinae amoris), Exercitia spiritualia -Die Sprache Gertruds bzw. ihrer Kompilatorin, die ihre Visionen niederschrieb, ist für uns heute eher schwer zugänglich. Manches ist sehr süßlich formuliert, anderes schwer verständlich, wieder anderes sehr langatmig (dulcis ist Lieblingsadjektiv für Gertrud) -Mitteilung von Gebetserfahrungen in der Liturgie -Ziel: sich Gott ganz zu verschenken, ganz in ihn einzutauchen und ihn allein wirken zu lassen

58 4. Die deutsche Frauenmystik Gertrud die Große -Verbindung der monastischen Theologie und der Aussagen der Hl. Schrift mit der für die Nonnen von Helfta so typischen reichen Bilderwelt von Licht und Feuer, Singen und Tanzen, der Pflanzenwelt, kostbarer Kleidung, Edelsteinen etc. (Frauenpoesie) -Das zweite Buch des Gesandten der göttlichen Liebe ist von Bedeutung, weil sie ihre Bekehrung zu einem tieferen Leben mit Christus beschreibt, der sich als bildschöner junger Mann ihr zeigte, der sich ihr anverlobte -Dabei wurde ihr diese Einigung mit Christus immer dann bewusst, wenn sie die Kommunion empfing (liturgische Erfahrungen) -Gertruds Christusvisionen konzentrierten sich vor allem auf das Herz und die Wundmale Jesu. Sie hat Visionen, in denen sie ihre rechte Hand in die Seitenwunde Jesu legt und empfängt – wie viele andere mittelalterliche Mystikerinnen – innerlich die Wundmale der Passion -Brautspiritualität: Verlobung mit Christus, sieben goldene Ringe, Herz durch den Liebespfeil durchbohrt, Totalidentifikation mit Christus 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 58

59 4. Die deutsche Frauenmystik Gertrud die Große -Christusliebe soll fruchtbar für andere werden: „Ich habe nur einen Wunsch, nur ein Begehren: Ich will dich loben von ganzem Herzen, aus tiefster Seele, mit all meiner Kraft. … Und ich wünsche sehr, dass einige, die diese Niederschrift lesen, durch die Tiefe deiner Liebe im Herzen erfreut und gestärkt werden.“ -Das Buch des Gesandten der göttlichen Liebe, das dem Herzen Jesu gleichgesetzt wird, ist nicht für Gertrud oder irgendeine Nonne geschrieben worden, sondern für alle Menschen, die sich dem Herzen Jesu öffnen wollen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 59

60 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Hackeborn -Hauptwerk: Buch der besonderen Gnade (Liber specialis gratiae) -Thema: Die Verehrung des Herzens Jesu bzw. Gottes -Dabei ist Mechthild in der Beschreibung der Vereinigung mit dem Herzen Jesu von ihren Bildern noch phantasievoller als Gertrud -Sie spricht vom göttlichen Herzen als Weinberg, Buch, Spiegel, Psalterium, Leier und Apotheke, aus der die drei Heilmittel Wasser, Wein und göttliche Süße an die Menschen verteilt werden -Manchmal beschreibt Mechthild das göttliche Herz als Tor oder Eingang in die Tiefen Gottes, häufiger jedoch als Haus, in dem die Braut Christi sicher und bequem wohnen kann -Gott spricht zur Seele: „Aber auch wenn du mich in deinem Innersten trägst, damit ich dir innerlicher als dein Innerstes bin, so überragt und übertrifft dennoch mein göttliches Herz derart deine Seele, dass es völlig unerreichbar erscheint.“ (vgl. Augustinus, Confessiones) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 60

61 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Hackeborn -Herz Jesu als „Küche“, die für alle offen ist und von allen genutzt werden kann -Hören auf den Herzrhythmus Jesu: Schon früh im „Buch der besonderen Gnade“ wird Mechthild von Christus so fest umarmt, dass sie seinen sehr ungewöhnlichen Herzrhythmus Hören kann: drei starke Schläge und ein schwacher -Bericht von Mechthilds Tod: Eine der Visionärinnen, höchstwahrscheinlich Gertrud, sieht, wie Christus höchstpersönlich die Rolle des Priesters ausübt, der Mechthild auf dem Sterbebett salbt -Frage der Miterlöserschaft (kennzeichnend für die Mystikerinnen von Helfta): In ihrer Aneignung der großen Erlösungstat Gottes werden Gertrud wie Mechthild zu Vermittlerinnen der göttlichen Macht, ja geradezu zu Priesterinnen, die über die Vollmacht zum binden und lösen verfügen (dennoch bedeutet ihre Stellung nicht jene Art Bedrohung für den Status der Kleriker und die Rolle der Sakramente der Kirche, wie man sie in den Schriften mancher Beginen findet) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 61

62 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Magdeburg -Gegen 1207 geboren -Ca. 1230 Flucht nach Magdeburg, um Begine zu werden -Hauptwerk: Das fließende Licht der Gottheit (verfasst Zwischen 1250 und 1280) -Einfluss der Dominikaner (Beichtvater: Heinrich von Halle) -Ca. 1272 schließt sie sich, schon alt und von schlechter Gesundheit, der Kommunität der Zisterziensernonnen zu Helfta an -Mechthild stirbt vermutlich gegen 1282 in Helfta, wobei sie in diesen letzten Jahren noch nicht unerheblichen Einfluss auf Getrud und Mechthild von Hackeborn gehabt haben dürfte -Kein theologisches Studium, beherrschte auch nicht die lateinische Sprache (wie die anderen Nonnen von Helfta) -Beschreibung ihrer persönlichen Erfahrungen mit Gott 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 62

63 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Magdeburg -Das fließende Licht der Gottheit, Prolog: „Dieses Buch sollte man bereitwillig aufnehmen, denn es ist Gott selbst, der die Worte spricht. Dieses Buch sende ich jetzt als Botschaft allen geistlichen Menschen, bösen wie guten, denn wenn die Säulen fallen, kann das Bauwerk nicht stehen bleiben. Es geht darum nur um mich und erzählt auf treffliche Weise von meinem verborgenen inneren Leben. Alle, die dieses Buch erfassen wollen, sollen es neunmal lesen. Dieses Buch heißt ‚das fließende Licht der Gottheit‘.“ -Gemeinschaftswerk von Gott und Mensch -Wie die anderen großen Beginen sah sich Mechthild als quasi-Evangelistin an: Ihr Buch hat für sie Offenbarungscharakter -B. McGinn: „Strategie, ihren Schriften angesichts eines gemeinsamen Problems Autorität zu verschaffen: des kirchlichen Verbots, das Frauen in der Öffentlichkeit als Lehrerinnen auftraten.“ – „Ablehnende Haltung der kirchlichen Autoritäten gegen das prophetische Auftreten von Frauen.“ - 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 63

64 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Magdeburg -„Das fließende Licht der Gottheit“ ist kein reines Visionenbuch, sondern eher eine theologische Reflexion auf den Sinn des Lebens und der mystischen Erfahrungen Mechthilds (erinnern teilweise an die Bekenntnis des Augustinus) -keine rein private Botschaft, sondern Erzählung der Geschichte eines einzelnen Menschen, um damit eine Botschaft für alle zu verkünden -Leitfaden für alle Christen -Unterschied zu Augustinus: Gott spricht mit ihm v.a. über die Worte der Hl. Schrift, während bei Mechthild Gott persönlich mit ihr spricht -Einsatz der Poesie, Gedichte haben etwas Volkstümliches: „Du sollst minnen das Licht, du sollst fliehen das Icht. Du sollst alleine stehen und sollst zu niemand gehen. Ruhelos strebend sollst du sein, aller Dinge dich befreien. Du sollst die Gefangenen entbinden und die Freien überwinden. Du sollst die Kranken laben und doch selbst nichts haben.“ -Hauptinhalte: Braut- und Liebesmystik, Leidensmystik 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 64

65 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Magdeburg -„Fließen der Gottheit“: Damit bezeichnet sie die sich aus Gott ergießende Gnade, die Mitteilung göttlichen Lebens in die geistigen Geschöpfe hinein -Gott „gießt ohne Unterlaß Tag für Tag aus der Heiligen Dreifaltigkeit Gaben in das Herz der Sünder“ - So wird das Fließen immer mehr zum Ausdruck des Wesens der Liebe überhaupt -Wohin dann mit der Fülle? Wir können nicht anders als selber zu fließen beginnen, d.h. die Gnade über alle Menschen fließen zu lassen -Hans Urs von Balthasar: „Die im fließenden Licht lebende Seele ist ihrer Grenzen ledig geworden: Sie ist wahrhaft universal und katholisch. Sie gehört der Christenheit in der Welt, lebt für sie und wird von Gott mit Aufträgen für sie bedacht.“ -Diesen Auftrag sah Mechthild u.a. auch darin, die geistliche Obrigkeit wegen ihres unkeuschen und unreinen Lebens zu ermahnen (nicht nur süße Mysterikerin, sondern auch unangenehme Kritikerin) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 65

66 4. Die deutsche Frauenmystik Mechthild von Magdeburg -„Weh dir, Krone des heiligen Priestertums! Wie bist du dahingeschwunden, du hast nichts mehr als die Überreste deiner selbst, dass ist die geistliche Gewalt. Mir ihr kämpfst du gegen Gott und deine auserwählten Freunde.“ -Apokalyptische Tendenz: „Darum muss ich meiner heiligen Braut, der heiligen Christenheit, einen neuen Mantel umlegen. Das werden die letzten Brüder sein, über die ich schon vorher geschrieben. Sohn Papst, dies sollst du vollbringen, dann kannst du dein Leben verlängern. Deine Vorgänger hatten ein kurzes Leben, weil sie meinen verborgenen Willen nicht vollzogen. Da ich den Papst im Gebet durchschaute, hört ich, dass ihm Gott diese Worte vertraute.“ -Nicht zuletzt durch solche Worte prophetischer Kritik ist Mechthild von Magdeburg den Menschen ihrer Zeit in Erinnerung geblieben und auch heute noch aktuell 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 66

67 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna -Die Spiritualität des Spätmittelalters ist von vielen einzelnen Mystikergestalten geprägt: Birgitta von Schweden († 1373), Katharina von Siena († 1380), Johannes Gerson († 1429), Nikolaus von Kues († 1464) -Dennoch gab es auch eine Bewegung, die den Geist spätmittelalterlicher Frömmigkeit sehr gut zum Ausdruck bringt, die Devotio moderna (= moderne Frömmigkeit) -Die Bewegung entstand in den Niederlanden und breitete sich rasch nach Deutschland aus. Gründer ist Gerhard Groote aus Deventer (1340-1384) -prangerte die Weltlichkeit der Geistlichen an. Noch bevor er aber in echten Konflikt mit der Amtskirche kam, starb Gerhard Groote am 20. August 1384. -Groote gab den Anstoß für eine Gruppe von Schülern, die sich nach seinem Tod im Pfarrhaus des Florens Radewijns (1350-1400) trafen (Geburtsstunde der „Brüder vom gemeinsamen Leben“, die eine große Bedeutung für die Spiritualität des 15. und 16. Jhs haben sollten) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 67

68 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a. Devotio moderna -In Deutschland waren die Brüder vom gemeinsamen Leben u.a. in Marburg ansässig („Kugelherren“ = Kugelkirche) -Geistlicher und theologischer Protektor des Ordens war Johannes Gerson, der diese neue Bewegung auf dem Konzil von Konstanz gegen Angreifer verteidigt hatte -Brüder vom gemeinsamen Leben bildeten eine Kleriker- Gemeinschaft (Stundengebet, Schweige- und Studierzeiten) -Widerstand und Verurteilung vor allem durch die Bettelorden, die den Brüdern und Schwestern des gemeinsamen Lebens vorwarfen, einen neuen Orden ins Leben gerufen zu haben -Monastischer Zweig der Devotio moderna war die sog. „Windesheimer Kongregation“ (vgl. auch Imitatio Christi von Thomas von Kempen) -Devotio moderna versteht sich als ein Wiederaufleben der monastischen Spiritualität 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 68

69 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a. Devotio moderna -Spiritualität der devotio moderna -Weltverachtung (contemptus mundi): Der Weg zu Gott ist ein Leben des Kampfes und der Selbstverleugnung -Nachfolge heißt, sein Leben am Beispiel des Lebens Christi auszurichten. Das zentrale Wort der Frömmigkeit der Devotio moderna ist die imitatio, näherhin die imitatio Christi -Diese imitatio vollzieht sich in verschiedenen Stufen bzw. Übungen: lectio (spirituelle Lesung), meditatio, oratio (Gebet) und contemplatio, wobei immer die Passion Christi im Mittelpunkt steht -Gerhard Zerbolt von Zutphen (1367-1398): „Lesung ohne Gebet ist trocken; Meditation ohne Lesung falsch. Gebet ohne Meditation ist lau; Meditation ohne Gebet fruchtlos; Kontemplation ohne Gebet selten oder ein Wunder.“ -Die Summe der Spiritualität findet sich für die Devotio moderna in dem Thomas von Kempen (um 1380-1471) zugeschriebenen Werk „De Imitatione Christi“ -D. Bonhoeffer: „Ich hatte mir bisher nicht viel daraus gemacht. Man muss wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. Es ist in jedem Wort ganz außergewöhnlich gefüllt und schön. Es gibt neben dem wir doch auch ein Ich und Christus.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 69

70 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a. Devotio moderna Nachfolge Christi (Thomas von Kempen): 4 Bücher 1.Ratschläge zu einem geistlichen Leben 2.Ermahnungen für das innere Leben 3.Vom inneren Troste 4.Vom Sakrament des Altares -Christus als das Beispiel und Vorbild für Selbsterkenntnis, Demut und Gehorsam -„Unser höchstes Bestreben sei darum, in die Betrachtung des Lebens Jesu Christi uns zu versenken und daraus zu lernen. … Aber leider trifft es zu, dass viele zwar oft das Evangelium hören, aber davon nicht innerlich ergriffen werden, weil ihnen die Hauptsache, der Geist Christi, fehlt. Wer die Lehre Christi in ihrer Fülle kennenlernen und daran Geschmack finden will, der muss mit allem Ernste danach streben, dass sein ganzes Leben gleichsam ein zweites Leben Jesu werde.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 70

71 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a. Devotio moderna Thomas von Kempen, Nachfolge Christi -Abwertung der akademischen Bildung: „Wahrhaftig, hohe Worte machen den Menschen nicht heilig und gerecht; ein Leben voll Tugend, das macht uns bei Gott angenehm. Es ist mir ungleich lieber, Reue und Leid im zerschlagenen Herzen zu empfinden, als aus dem Kopfe eine schulgerechte Erklärung davon geben zu können. … Alles ist Eitelkeit, außer Gott lieben und ihm allein dienen.“ -Scholastische Theologie und jegliche formale theologische und philosophische Bildung werden als nutzlos, überflüssig und bedeutungslos für das spirituelle Leben betrachtet. Wahres Verstehen kommt allein von Gott durch Übereinstimmung mit Christus und durch das Befolgen der Worte des Evangeliums. -„Also ist es Eitelkeit, immer nur wünschen, dass man lange lebe, und sich wenig darum bekümmern, dass man fromm lebe. Also ist es Eitelkeit, das Auge stets hin heften auf das Gegenwärtige und nie hinausblicken auf das zukünftige Leben.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 71

72 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a. Devotio moderna Thomas von Kempen, Nachfolge Christi -2. Buch, 11. Kapitel: Von der geringen Zahl der Liebhaber des Kreuzes -„Viele lieben Jesus, so lange sie nichts zu leiden haben, loben und preisen ihn, so lange sie Tröstungen von ihm empfangen. Aber wenn er sich verbirgt und sie auch nur eine kurze Zeit allein lässt, da klagen sie gleich oder verlieren gar allen Mut. Die aber Jesus seinetwegen und nicht ihres Trostes wegen liebhaben, die preisen ihn in den Tagen der heißesten Angst wie in den Stunden des höchsten Jubels.“ -„Muss man diejenigen, die immer nur nach Tröstungen verlangen, nicht Lohnknechte nennen? Zeigen sie denn nicht selbst durch ihr Verhalten, dass sie sich selbst mehr als Christus lieben, da sie nur auf eigenen Vorteil und Gewinn sinnen? Wo findest du noch einen Menschen, der seinem Gott umsonst, dass heißt ohne Eigennutz, dienen will, der in Gott nichts als Gott, in dem Guten nur das Gute sucht?“ -Es kommt darauf an, in allem auf Christus zu hören und ihm nachzufolgen, das Leben Jesu zu meditieren und sich ihm immer mehr anzugleichen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 72

73 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna -Die Betrachtung und das Sich-hinein-versetzen in das Leben Jesu werden im Spätmittelalter immer wichtiger (vgl. auch Bonaventuras Schrift Lignum vitae, die Vita Christi Ludolphs von Sachsen oder der „Rosengarten“ von Johann Mombaer) -Ignatius von Loyola steht – mehr als man vielleicht meinen oder zugeben mag – in der Tradition der Devotio moderna -Einfluss auf Luther und die Reformation, aber auch Unterschiede: Während man bei Luther einen klaren Bruch mit der monastischen Tradition feststellen kann, beobachtet man bei der Devotio moderna eher eine Kontinuität -Das „Moderne“ an der Devotio moderna ist nicht, dass sie mit irgend einer Devotio antiqua bricht, sondern dass sie sich für die Ausübung der monastischen Frömmigkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb des Klosters einsetzt (Ausweitung der monastischen Spiritualität auf die „normalen“ Leute, die Laien) -DM als Vorläuferin der ignatianischen Frömmigkeit und/oder der Reformation? 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 73

74 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna Jan Ruusbroec (1293-1381) -wurde 1317 Priester und wirkte 25 Jahre lang als Vikar und Kaplan an der Hauptkirche Brüssels St. Gudula -mit zwei Freunden zog er sich später an einen einsamen Ort nach Groenendaal in der Nähe von Brüssel zurück -lebte seither nur noch der Meditation und Ausarbeitung seiner Werke -1381 stirbt er, von Verehrung umgeben (1908 selig gesprochen) -Von seinen Werken sind 11 nicht immer leicht lesbare Traktate erhalten, mit bisweilen geheimnisvoll wirkenden Titeln wie „Vom blinkenden Stein“, „Von den sieben Einschließungen“ oder „Das Reich der Geliebten“ -„Die Zierde der geistlichen Hochzeit“ darf als das Meisterwerk Ruusbroecs bezeichnet werden. Es beschreibt u.a. die 3 Phasen des mystischen Lebens, die aktive, innerliche und „überwesentliche“ (transzendente), und kennzeichnet die wahre gegenüber der falschen Mystik 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 74

75 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna Jan Ruusbroec (1293-1381) -Wie für Eckhart wurzelt auch für Ruusbroec im Seelenfunken und in der „obersten Vernunft“ eine natürliche Neigung des Menschen zu Gott -Diese Erleuchtung geschieht in 3 Dimensionen: 1. Als plötzliches inneres Berührtwerden, 2. Als Sammlung aller inneren und äußeren Kräfte, und 3. Als bildlose Freiheit -Mensch als Bild der Trinität (imago trinitatis) -Tradition apophatischer Theologie: „Der Grund und Boden selbst … bleibt, außer durch die wesentliche Einheit selbst.“ -Die „Weise Gottes“: „Da kommt der Geist unseres Herrn als gewaltiges Feuer, das alles verbrennt, alles verzehrt und verschlingt; so vergisst der Mensch sich selbst und alle Übungen; und er fühlt sich nicht anders, als wäre er ein Geist und eine Liebe mit Gott... Dieses Genießen ist ohne Ende und Weite, wie ein Verlorensein. Da ist nicht Weise noch Weg, noch Pfad, noch Stätte, noch Maß, noch Ende, noch Beginn oder etwas, was man bemerken oder angeben kann.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 75

76 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna Jan Ruusbroec (1293-1381) -Ruusbroec schwankt zwischen der Geschöpflichkeit des Menschen und seiner Ungeschaffenheit in Gott hin und her, worin sich der Einfluss Eckharts zeigt (doch ist seine Mystik stärker als die Eckharts trinitarisch geprägt) -Das „gemeinsame“ bzw. „zusammenfassende“ Leben besteht für Ruusbroec in der Gleichzeitigkeit von aktivem Wirken und passivem Genießen -Einfluss der DM auf große Theologen wie Johannes Gerson und Nikolaus von Kues -Bei Gerson zeigt sich dies v.a. in seiner Sympathie für die einfachen Leute, denen er durch zahlreiche geistliche Traktate eine Art Laienspiritualität vermittelte, z.B. Traktat über die Kunst des Sterbens (ars moriendi) -In all diesen Traktaten versteht sich Gerson als Lehrer und Erzieher der Christen, der klare Weisungen aufzustellen hat, damit die einfachen Menschen nicht vom Weg des Glaubens abirren 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 76

77 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna Johannes Gerson -Geistliche Ratschläge für Laien und Befähigung zur persönlichen geistlichen Unterscheidung -„La montaigne de contemplation“: „Ich habe, wie es mir scheint, klar gezeigt, dass es keine verlorene oder ungehörige Angelegenheit ist, zu einfachen Menschen über das kontemplative Leben zu sprechen. … Wenn das so ist, dann erkennt ein einfacher Mensch Gott besser, denn indem er ihn liebt, empfängt er Werke in seiner Seele – wie gesagt wurde –, die kein Kleriker oder Philosoph aufgrund äußerer Werke oder vernünftiger Überlegungen empfangen kann.“ -Glaube, Hoffnung und Liebe spielen für das geistliche Leben letztendlich eine größere Rolle als die Gelehrsamkeit der Theologen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 77

78 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik a.Devotio moderna Nikolaus von Kues -hat eine mystische Theologie entwickelt, die letztendlich auf Einfachheit aus ist, auch wenn sich der Kardinal ganz auf der Höhe des philosophischen Diskurses befindet -De docta ignorantia: Gott ist letztendlich der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) -Erkenntnis mit Liebe (cognitio cum amore) -Tendenz: Weg von der intellektuell geprägten Mystik hin zu einer durch Gefühle geprägten, immer stärker psychologisch, auf Seelenereignisse und Erfahrung ausgerichteten Mystik – eine Bewegung, die das 16. und 17. Jh. sehr nachhaltig charakterisieren wird -Die Nachfolge Christi und die ganze DM kündigen diesen praktischen Weg schon unübersehbar an 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 78

79 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit „Theologia deutsch“ -Mystische Schrift aus dem späten 14. Jh. -Zentrales Thema: Unterscheidung der Geister und Lehre von der „Vergottung“ (Hintergrund: Verurteilung der Beginen und Begarden auf dem Konzil von Vienne 1311-1313) -Blick auf das Christusleben: „Wahrlich, man soll wissen und glauben, dass es kein so köstliches, gutes und Gott so liebes Leben gibt als das Leben Christi.“ -Dieses Christusleben kann aber nur der führen, der das vollkommene und wahre Gut erkannt hat, das – gut paulinisch – darin besteht, zu begreifen, dass alles Erkennen nur Stückwerk ist, weil die Erkenntnis Jesu Christi alles andere übersteigt (vgl. Eph 3,19) -typische Ablehnung des vielen Fragens und Lesens bzw. der natürlichen Kunst und Vernunft 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 79

80 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit „Theologia deutsch“ -Es geht um ein passives Erleiden der Gottheit: „Ich vermag das nicht ohne Gott, und Gott kann und will es nicht ohne mich. Darum, soll es geschehen, so muss Gott auch in mir vermenscht werden.“ -Attraktion des Traktats: Er ist relativ konkret, indem er sich zum einen von den Freigeistern distanziert und sie heftig kritisiert, und zum anderen auch das eigene Wirken des Menschen hervorhebt -„Kunst der Vergottung“ braucht vier Dinge -große Begierde, Eifer und stete Sorge, wie man diese Kunst erlernen kann -Beispiel und Vorbild, daran man lernen kann -dem Lehrmeister mit ganzem Eifer genau und gut zuschauen und mit Ernst ihm in allen Dingen gehorsam sein -Sehnsucht nach Gott („dass man‘s angreife und es mit Eifer übe“) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 80

81 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Katharina von Siena (1347-1380) -Kirchenlehrerin (seit 1970) -Starke, beeindruckende Frau, welche in der Kirchenpolitik des späten 14. Jhs eine wichtige Rolle gespielt hat -begründete um sich eine Familie (Hausgenossenschaft) von geistlichen Freunden und Anhängern -Die letzten 10 Jahre ihres sehr kurzen Lebens (sie wurde nur 33 Jahre alt) trat sie immer mehr in die Öffentlichkeit -Um 1370 herum diktierte sie ihre ersten politischen Briefe, setzte sich für die Kreuzzugsidee ein und versuchte vor allem Papst Gregor XI. dazu zu bewegen, von Avignon nach Rom zurückzukehren -Gegen Ende des Lebens schrieb sie ihr wohl wichtigstes Werk, das Buch der göttlichen Vorsehung (Libro della Divina Provvidenza) -Nach schwerem Leiden starb sie am 29. April 1380 in Rom und wurde 1461 heilig gesprochen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 81

82 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Katharina von Siena (1347-1380) -Sorge um die Kirche, Druck (Drohungen) auf den Papst in Avignon -„Habt Mut und kommt! Kommt die ärmsten Diener Gottes und eure Söhne zu trösten. Sie erwarten Euch mit herzlichem und liebevollem Verlangen.“ (Januar 1376) -„Hütet euch, ist euch das Leben lieb, diesbezüglich eine Nachlässigkeit zu begehen: Spottet nicht über die Wirkungen des Heiligen Geistes, der von euch sie auszuführen verlangt, da ihr es könnt, wenn ihr wollt. … Tut nicht weiterhin so, auf dass ihr nicht einen scharfen Verweis von Gott erhaltet. Ich, an eurer Stelle, befürchtete, dass das göttliche Gericht über mich käme. Und darum bitte ich euch flehentlich im Namen Christi des Gekreuzigten, dem Willen Gottes gehorsam zu sein. … Mehr sage ich nicht. Verzeiht mir, verzeiht: Die große Liebe, die ich zu eurem Heile habe und der riesige Schmerz, wenn ich das Gegenteil sehe, lässt mich so sprechen... Handelt so, dass ich nicht bei Christus dem Gekreuzigten Beschwerde gegen euch einlegen muss, denn auf einen anderen könnte ich mich nicht berufen, da niemand höher ist auf Erden als Ihr.“ (Sommer 1376) -Autorität einer von Gott inspirierten Frau (konnte so auftreten, weil sie 1374 eine Prüfung ihrer Rechtgläubigkeit vor dem Generalkapitel ihres Ordens in Florenz bestanden hatte. Seitdem hatte sie sich Respekt bei den Päpsten verschafft) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 82

83 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Katharina von Siena (1347-1380) Spezifische Spiritualität -Leiden mit Christus am Kreuz: In ihren Visionen steht zentral das Erlöserblut Christi, das barmherzig auf alle Menschen, gute und böse, verströmt wird und so die Welt heil macht -Lobpreis der Trinität: „Du, ewige Dreifaltigkeit, bist ein abgründiges Meer: je weiter ich in dich eindringe, um so mehr finde ich, und je mehr ich dich finde, um so mehr suche ich dich. Du verschaffst keine Sättigung, denn wenn sich die Seele in deinem Abgrund sättigt, ist sie nicht satt, da sie immerfort im Hunger nach dir verbleibt.“ -„Du, ewige Dreifaltigkeit, bist Schöpfer, und ich, dein Geschöpf, habe in der Neuschöpfung, die du mir im Blute deines Sohnes zuteil werden ließest, erkannt, dass du in die Schönheit deines Geschöpfes verliebt bist. Oh Abgrund, oh ewige Gottheit, oh tiefes Meer! Was konntest du mir größeres schenken als dich selbst?“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 83

84 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Katharina von Genua (1447-1510) -Wurde jung einem reichen Lebemann angetraut -Nicht nur sie, auch ihr Mann machte eine Bekehrung durch und fügte sich während der 20 Jahre bis zu seinem Tod den geistlichen Bemühungen seiner Gattin -Nach dem Tod ihres Mannes lebte Katharina die letzten 10 Jahre ihres Lebens krank und unter starken inneren Erschütterungen -„Theologin des Fegefeuers“ -hat das Fegefeuer zunächst körperlich in ihrer ungewollten Ehe erlebt, dann in ihrem Engagement für die Kranken (Pest in Genua) sowie in ihrem eigenen nervösen Leiden. Sie erlebte das Fegefeuer aber auch geistlich, wie sie in ihrem Traktat belegt. -Im Fegefeuer erfährt man, was man alles hätte tun können und nicht getan hat (Leiden des Fegefeuers besteht in erster Linie in dieser Erkenntnis) -Fegefeuer hat einen doppelten Charakter: Zum einen (negativ) das Leiden an der eigenen Unvollkommenheit, und zum anderen (positiv) die Hoffnung auf das endgültige Heil bei Gott. 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 84

85 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Englische Mystik des Spätmittelalters -Kennzeichnend für die vier großen Autoren den 14. Jhs (Richard Rolle, Walter Hilton, den anonymen Verfasser der Cloud of Unknowing und Juliana von Norwich) ist eine gewisse Individualität und Exzentrik -Bei allen englischen Mystikern ist zudem die Liebe der zentrale Punkt ihrer Botschaft, womit sie in der Tradition der affektiven Mystik stehen Richard Rolle -Um 1300 in Yorkshire geboren -Eremit: zog sich auf ziemlich ungewöhnliche Weise von der Welt zurück -starb 1349 wahrscheinlich an der Pest -Hauptwerke: „Das Feuer der Liebe“, „Die Wiederherstellung des Lebens“ -B. McGinn: „Man liest Richard Rolle nicht wegen differenzierter Urteile zu schwierigen Fragen, sondern wegen seiner kraftvollen und zarten Sprache der Liebe.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 85

86 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Englische Mystik des Spätmittelalters Walter Hilton ( † 1396) -erst Eremit, dann Augustinerchorherr -Hauptwerk: The Scale of perfection (Thema: die Wiederherstellung des göttlichen Bildes im Glauben und im Fühlen) -Die Wiederherstellung des Bildes bedeutet seine Übereinstimmung mit dem Bild von Jesus -vertritt wie viele andere Mystiker die Meinung, die Kontemplation als der wachsende Ausdruck der Liebe Gottes sei auf allen Stufen des christlichen Lebens und in jedem Stand möglich -so trägt er seinen Teil zu einer „Demokratisierung der Mystik“ im Spätmittelalter bei 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 86

87 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Englische Mystik des Spätmittelalters „Cloud of unknowing“ -Anonymer Autor (wahrscheinlich Kartäuser): Neben der „Wolke des Nichtwissens“ gehören zu seinen Werken das Buch der geheimen Empfehlung (Book of Privy Counselling) und der Brief von der Unterscheidung der Geister (Epistle of Discerning Spirits) -Aussage der „Cloud of unknowing“ -Weg zu Gott muss zunächst durch die dunkle Straße -zwei Lösungen, um die Wolke des Nichtwissens zu durchstoßen -Die erste besteht darin, dass man eine andere Wolke beschwört, nämlich die „Wolke des Vergessens“, die man zwischen sich und die gesamte Schöpfung stellen muss -Die andere Möglichkeit besteht darin, dass man „mit einem spitzen Pfeil sehnsüchtiger Liebe auf diese dicke Wolke des Nichtwissens“ schießt -zwei Arten der Vereinigung, die in diesem Leben möglich sind: Die eine ist die plötzlich hereinbrechende Ekstase und die andere der ständige Besitz Gottes 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 87

88 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Englische Mystik des Spätmittelalters „Brief über die Unterscheidung der Geister“ -will vor allem herausstellen, dass der heilige Geist individuell führt -mahnt vor einem „äffischen Nachahmen“ und ermutigt zum Handeln nach seiner eigenen Veranlagung: „Höre auf, die Veranlagung anderer Menschen zum Maß deines Handelns zu nehmen. Handle vielmehr nach deiner eigenen Veranlagung, wenn du sie recht erkennst. Und bis du sie recht erkannt hast, handle nach dem Rat von Menschen, die schon Kenntnis ihrer eigenen Anlage haben, aber handle nicht nach ihrer Veranlagung. Jedenfalls sollen derartige Menschen dir in solchen Fällen Rat geben, und keine anderen.“ -Gleichwohl bedeutet das keine beliebige Freiheit (Autor insistiert auf den Gehorsam als Garantie gegen alle Illusionen) -Discretio und Kunst der correctio fraterna 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 88

89 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Englische Mystik des Spätmittelalters Juliana von Norwich (1342-1416) -Book of showings: Bemühungen, den Sinn ihrer Visionen Zu verstehen, die sie im Alter von 30 Jahren 1373 auf dem Sterbebett erhielt -„Was, du möchtest die Absicht des Herrn in dieser Sache erkennen? Erkenne es gut, Liebe war seine Absicht. Wer offenbart es Dir? Liebe. Was hat er Dir geoffenbart? Liebe. Warum offenbart er es Dir? Aus Liebe.“ -zwei Schwierigkeiten im Denken Julianas -Heilsuniversalismus: „Ich darf alle Dinge gut machen, ich kann alle Dinge gut machen, und ich werde alle Dinge gut machen; und du wirst selbst sehen, dass jede Art von Ding gut sein wird.“ -Bedeutung der Sünde (behauptet, dass die Sünde notwendig ist, um zu Gott zu gelangen) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 89

90 5. Schulen spätmittelalterlicher Mystik b. Weitere Zeugen spätmittelalterlicher Frömmigkeit Englische Mystik des Spätmittelalters Juliana von Norwich (1342-1416) -vom Standpunkt der göttlichen Liebe aus stellt der Schmerz, den die Sünde in uns verursacht, einen notwendigen Teil des Läuterungsprozesses aus Fallen und Erheben dar -Mutterschaft Gottes: Christus ist unsere Mutter, die ihre Kinder behütet, ernährt, tröstet, vor dem Bösen bewahrt und auf dem Lebensweg mit Liebe begleitet -Beschreibung der kontemplativen Gebets -zählt zu den größten Mystikerinnen des ausgehenden Mittelalters -Aktualität: Gründung eines Julianerordens in den USA, weltweites Interesse an Juliana als Exponentin der Frauenmystik, Einrichtung einer Gedenkstätte am Ort ihres Wirkens -Ihre theologischen Gedanken sind hochaktuell 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 90

91 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie In der orthodoxen Mystik des Mittelalters kann man zwei große Stränge unterscheiden: den sog. Palamismus, der auf den hl. Gregor Palamas (1296-1359) zurückgeht, und die v.a. für die russische Spiritualität wichtig gewordene Kleine Philokalie (Sammlung von Belehrungen der Mönchsväter der Ostkirche über das Gebet) Gregor Palamas (1296-1357) -Mönch des heiligen Berges Athos, großer Theologe, Erzbischof von Thessaloniki -Synthese des spirituellen Reichtums des Ostens (häufige Verweise auf die biblische und patristische Tradition) -Das spirituelle Leben gründet sich nach Palamas auf drei Voraussetzungen -Erschaffung von Mann und Frau „nach dem Bild und Gleichnis Gottes“ -Erneuerung und Gottwerdung (theosis) der menschlichen Natur in Christus -Möglichkeit des Menschen, an dieser Erneuerung und Gottwerdung teilzuhaben (die orthodoxe Spiritualität nimmt ernst, dass der Mensch Abbild Gottes ist) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 91

92 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie Gregor Palamas (1296-1357) -Das Geschenk der Gottwerdung erfährt jeder Gläubige durch den Heiligen Geist. Dieser wirkt aber nicht unbestimmt, sondern konkret in der Kirche durch die Sakramente, v.a. die Taufe und die Eucharistie -So wie die Taufe das Abbild des Menschen reinigt und den Anfang der Nachfolge Christi darstellt, so befähigt die Eucharistie einen Christen, sich zum Gleichnis und der Fülle der Verbindung und Identifikation mit Christus weiter zu entwickeln -Damit jedoch die Gnade der Sakramente Früchte hervorbringt, ist das menschliche Mitwirken notwendig (Synergie) -Bedeutung der „äußeren“ Werke in der orthodoxen Spiritualität: Gebet, Gottesdienst, Liturgie, Bilderverehrung etc. -Die sichtbaren Zeichen der göttlichen Gnade spielen eine große Rolle -Orthodoxe Spiritualität ist in stärkerem Maße als die westliche pneumatologisch, sakramental und marianisch geprägt 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 92

93 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie Gregor Palamas (1296-1357) -Eine wichtige Methode der östlichen Spiritualität ist der sogenannte Hesychasmus -Das Wort hesychia (Schweigen) hatte seit der Zeit des Origenes schon die Bedeutung von Isolation und einem Leben abseits der Welt angenommen. Für Palamas bedeutet dieses Schweigen das Zeichen für eine Seele, die ihre wahre Ausgeglichenheit erreicht hat -Typisch für die Orthodoxie ist, dass Palamas die Jungfrau Maria als den Prototyp des Hesychasten darstellt -Atem- und Konzentrationstechnik beim Gebet: Bei dieser Methode hielten die Mönche ihr Kinn gegen die Brust gepresst und ihre Augen auf den Boden geheftet, während sie still das einfache Gebet „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ wiederholten -Palamas selbst hatte Vorbehalte gegen den Gebrauch dieser Methode (Bedenken, dass sie als automatisches System zur Erreichung des göttlichen Lichtes interpretiert werden könnte) – Methode nur für Anfänger, nicht für Fortgeschrittene 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 93

94 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie Gregor Palamas (1296-1357) -Atemtechnik und Körperhaltung sind eine gute Vorbereitung für die liebende Vereinigung mit Gott, aber das Entscheidende geschieht im Herzen (daher „Herzensgebet“: Wenn ich den Namen Jesu Christi, des Sohnes Gottes, von den Lippen so sehr in mein Herz genommen habe, dass ich ihn immer und überall mit mir herumtrage, dann habe ich die wahre Gemeinschaft mit Gott erlangt) -Lehre vom unablässigen Gebet -Gebet soll zum Wesen des Menschen werden -Basilius der Große: „Alles im Leben sollte eine Zeit für Gebet sein.“ -nicht nur zu bestimmten Zeiten Gott preisen, sondern immer -Ständiges Gebet ist für Palamas und viele andere orthodoxe Mystiker nichts anderes als die ständige und lebendige Gemeinschaft eines Menschen mit Gott -Göttliche Gnade und menschliches Mitwirken in Form von Demut, Selbstvorwürfen, Mühsal, Fasten, Wachen u.a. sind die beiden Seiten des immerwährenden Gebetes -Theologisch lässt sich dies durch die Menschwerdung begründen 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 94

95 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie Gregor Palamas (1296-1357) -Gottesschau: hat nach orthodoxer Vorstellung ein Anfang und eine Folge, aber kein Ende. Selbst im Jenseits, wo die Schau Gottes scheinbar vervollständigt und vervollkommnet wird, hat sie keinen statischen Charakter. Vielmehr ist die Gemeinschaft mit Gott eine dynamische Gemeinschaft, so wie er in sich selbst ja auch eine dynamische Beziehung ist. Der Mensch wird also in der Ewigkeit in das dynamische Leben der Dreifaltigkeit hineingenommen -Verklärung Christi: enthält als Versprechen für die direkte Schau Gottes für Palamas wie auch für die alten Kirchenväter einen gewaltigen eschatologischen Sinn (der Christ kann schon im jetzigen Leben ein Teilhaber der eschatologischen Herrlichkeit des Reiches Gottes sein und das Versprechen der direkten Schau Gottes erhalten) -Fazit: Die Lehre von Gregor Palamas und des Hesychasmus spiegeln die tiefsten Wahrheiten der christlichen Ethik und des orthodoxen spirituellen Lebens wider (versuchen innerhalb der Gabe zu leben, die der menschgewordene Sohn Gottes den Menschen dargeboten hat) 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 95

96 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie (Kleine) Philokalie -erst Ende des 18. Jh. von einem Mönch auf dem Berg Athos zusammengestellt (Gebetstexte aus der Zeit vom 4. Jh. bis zum 14. Jh.) -wurde bald zum asketisch-pädagogischen Handbuch für das klösterliche Leben in der Ostkirche, fand aber auch unter den Laien, besonders in Russland, große Verbreitung -Themen der Philokalie -Stufen der Reinigung -Übungen in der Gegenwart Gottes -Gebet und Gottversenkung -geistige Nüchternheit und Bewachung des Gemütes -Geistliche Täuschungen -Unterscheidung der Geister -Verjagen der bösen Gedanken -Übung des Psalmengebetes 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 96

97 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie (Kleine) Philokalie Nicephorus (Lehrer des Gregor Palamas) -Beschreibung des Herzensgebets: „Setze dich wie ich eben sagte und sammle deinen Geist, ziehe deinen Atem durch die Nase ein; denn das ist der Weg, den der Atem nimmt, um zum Herzen hinabzusteigen. Zwinge den Atem, in dem Augenblick des Einatmens zum Herzen hinabzusteigen. Wenn du ihn dort eine Zeit lang festhältst, wirst du die Freude spüren, die daraus folgt. Du wirst es nicht bedauern. … Deine einzige Tätigkeit und Betrachtung ist ‚Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner’. Unter keinen Umständen sei untätig. Pflege diese Übung weiter, auch wenn dein Geist schon freigeworden ist von Zerstreuung. … Richte dich durch diese Übung täglich empor in Liebe und im Verlangen nach Gott.“ -Achtsamkeit: „Die Achtsamkeit ist die Ruhe des Geistes, das Stillwerden oder das Schweigen, das durch Gottes Barmherzigkeit der Seele geschenkt wird.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 97

98 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie (Kleine) Philokalie Symeon (der neue Theologe) -Wachsamkeit und Sorglosigkeit -Aufstieg der Seele: „Das Jugendalter des geistlichen Lebens besteht in der Beherrschung der Leidenschaften. Das ist die Aufgabe der Anfänger. Der zweite Schritt im Wachstum des geistlichen Lebens ist die Beharrlichkeit im Psalmengebet. Sind einmal die Leidenschaften beherrscht und beruhigt, dann spendet das Psalmengebet und jedes mündliche Gebet der Zunge Süßigkeit und es wird wertvoll vor Gott. Der dritte Schritt auf der Stufe des Wachstums, der den Jüngling zum Manne heranreifen lässt, ist das Gebet des Geistes. Es ist das Zeichen des Fortschrittes. Es folgt der vierte Schritt im geistlichen Wachstum. Das ist das Greisenalter, das Alter im Schmuck der weißen Haare. Die zielbewusste und unerschütterliche Gottversenkung ist die Speise der Vollkommenen.“ 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 98

99 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie (Kleine) Philokalie Gregor der Sinait (1255-1346) -Ausführungen über die Gottversenkung und die Art des Betens, über die Beherrschung des Atmens und über das Psalmengebet angestellt -Gebetshaltung: „Setze dich am Morgen auf einen niedrigen Schemel in halbgebeugter Haltung. In dieser Stellung lass deinen Atem gleichsam in dein Herz strömen und halte ihn dort fest. Während du mühsam gebeugt bleibst, rufe trotz lebhafter Schmerzen in Brust, Schultern und Nacken ohne Unterlass in dein Gemüt hinein ‚ Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner’.“ -Psalmengebet für Anfänger, Fortgeschrittene sollen das Schweigen üben (allerdings können Psalmen in Zeiten der Trockenheit oder Täuschung eine wichtige Hilfe sein) -Bei Täuschungen: Zeit, Erfahrung, Unterscheidung der Geister, Namen Christi, Rat eines erfahrenen geistlichen Begleiters -Stetiges Bemühen wichtig, kein sprunghafter Anstieg 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 99

100 6. Orthodoxe Mystik: Palamismus und Philokalie Fazit -Was wir von der Spiritualität der Ostkirche insgesamt für heute lernen können, ist mehreres -Wiedergewinnung des Hl. Geistes für die Kirche -Wiederentdeckung des Sakramentalen in unserer Spiritualität und der Liturgie (Taufe, Eucharistie) -Vorbild und Beispiel ist für alle Christen Maria, die ganz auf der Seite der Kirche und des neuen Menschen steht -Spiritualität des Alltags: Man muss immer mit dem Göttlichen rechnen -Gott ist weniger Objekt, mit dem man sich auseinanderzusetzen hat, als vielmehr subjektive, reale Gegenwart im Menschen -Im Unterschied zum Westen hat man keine Scheu, von „Vergöttlichung“ zu sprechen -Diese wird Wirklichkeit in der „göttlichen Liturgie“, Die das Ziel des spirituellen Lebens – die Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott – schon hier auf Erden abbildet 27.05.2016 VL Spiritualität Mystik des Mittelalters Prof. Dr. Cornelius Roth 100


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