Bevölkerung und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bis 1871

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 Präsentation transkript:

Bevölkerung und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bis 1871 Ulrich PFISTER Bevölkerung und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bis 1871

Mit anderen Worten: Wie ist der langfristige Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Wirtschaftswachstum beschaffen? So genau kennen wir die Antwort nicht Historische Langzeitanalysen haben das Potential zur Beantwortung dieser Frage beizutragen

„Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist“ — Der Kommentar des Historikers Den Zeitgenossen Goethes waren Bevölkerungsfragen sehr wichtig Robert Malthus (1766–1834) „An Essay on the Principle of Population“ (1798) (dazu später mehr) Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771) Justi entwarf ein Panorama von wirtschaftspolitischen Reformen, die in Deutschland Wirtschaftswachstum und damit eine Machtposition auf Augenhöhe mit Frankreich und England bewirken sollten Maßnahmen zur Erleichterung des Bevölkerungswachstums waren Teil dieser Reformen → Justi ging offensichtlich von einem positiven Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Entwicklung aus Den Zeitgenossen fehlten allerdings die Methodik sowie das Datenmaterial, um ihre Vermutungen zu testen Große Bedeutung retrospektiver empirischer / angewandter Forschung zum Verständnis langfristiger demographischer Vorgänge

Struktur der weiteren Ausführungen (Vorläufige, mit Ungewissheiten behaftete) Informationen zur demographischen Entwicklung Deutschlands in den anderthalb Jahrhunderten vor der Nationalstaatsgründung werden genutzt, um Aussagen zu zwei Ansätzen des Zusammenhangs zwischen Bevölkerung und Wirtschaftswachstum zu entwickeln (Moderner) Malthusianischer Ansatz Unified Growth Theory (Galor 2011)

Hintergrund: Wachstum des Volkseinkommens pro Kopf ca. 1650–1880 Periode Jährliche Wachstumsrate 1650–1700 0,0 1700–1750 0,1–0,4 1750–1800 -0,0–0,1 1800–1850 0,5–0,7 1820–1850 0,3–0,5 1850–1880 0,4–0,8

Ein Malthusianisches Modell Die Beziehung zwischen Reallohn und Bevölkerung (feedback) wt = t + pt w: Natürlicher Logarithmus des Reallohns, p: Natürlicher Logarithmus der Bevölkerungsgröße, t: Zeit/Jahr, : Niveau der Arbeitsnachfrage, : Elastizität des Reallohns auf die Bevölkerungsgröße Angesichts fallender Grenzerträge des Faktors Arbeit wird erwartet, dass der Reallohn in einer negativen Beziehung zum Arbeitseinsatz / der Bevölkerungsgröße steht (<0) Veränderungen der Arbeitsnachfrage (technischer Fortschritt, Marktintegration, Klimaveränderungen) können den negativen Effekt der Bevölkerungsgröße auf den Reallohn kompensieren, sind aber exogen Anpassung an Reallohnschwankungen durch den preventive check bt = c1 + wt b: Geburtenrate,  Elastizität der Geburtenrate auf den Reallohn (>0) Anpassung an Reallohnschwankungen durch den positive check dt = c2 + wt d: Sterberate,  Elastizität der Sterberate auf den Reallohn (<0) Die Identität von Bevölkerungswachstum und Vitalraten (Schließung) pt = pt-1 + bt-1 - dt-1

Vitalraten und Reallohn, Deutschland 1690/1730–1850 Eruption des Tambora

Bevölkerung Deutschlands, 1690–1870 (in Tausend, natürlicher Logarithmus)

Preventive und positive check in Deutschland, 1730–1850 (rollende 30jährige Zeitfenster)

Schätzung der Arbeitsnachfrage t (Deutschland, 1695–1870)

Schlussfolgerungen aus einer malthusianischen Analyse Im frühen 19. Jahrhundert, wohl in den 1810er Jahren, verschwand der positive check Der preventive check dauerte mit verminderter Kraft fort Um 1820 nahm die Arbeitsnachfrage markant zu Danach stieg sie langfristig moderat an Ende der Malthusianischen Ära um 1820 Die Relevanz des Klimas und von kriegsbedingten negativen Schocks Das frühe 18. Jh. war eine klimatische Gunstphase (Ende der sog. „Kleinen Eiszeit“) Die zweite Hälfte des 18. Jh. war eine klimatisch ungünstige Zeit mit verbreiteter Erosion aufgrund häufiger starker Niederschläge Frühe 1820er Jahre: außerordentlich günstige klimatische Bedingungen 1740er Jahre, 1756–1763, 1800er Jahre: Kriege

Kann der Wendepunkt um 1820 endogen interpretiert werden Kann der Wendepunkt um 1820 endogen interpretiert werden? Der Ansatz der Unified Growth Theory Bevölkerungswachstum begünstigt technischen Fortschritt (Boserup 1965), denn hohe Bevölkerungsdichte … begünstigt die Hervorbringung und Diffusion von Innovationen durch Beobachtung unter Nachbarn erhöht durch die Senkung von Transportkosten zwischen Haushalten die Arbeitsteilung → Spezialisierung → Wachstum des aufgabenspezifischen Humankapitals → Begünstigung der Hervorbringung von Innovationen vergrößert den Markt, in dem eine Innovation angewandt wird, und damit die Profite von Innovatoren Technischer Fortschritt verschiebt die Präferenz der Eltern von der Quantität zur Qualität von Kindern Technischer Fortschritt erhöht die Rente auf Humankapital → Eltern haben einen Anreiz in das Humankapital ihrer Kinder zu investieren → die Kosten von Kindern steigen Langfristiger Rückgang der Fruchtbarkeit

ad (2): Technischer Fortschritt und Präferenzen von Eltern Zwar gibt es Hinweise auf die Existenz eines Zielkonflikts zwischen Quantität und Qualität von Kindern mindestens zurück bis in die erste Hälfte des 19. Jh. Gebiete mit hoher Fruchtbarkeit weisen eine geringere Alphabetisierungsrate auf Es ist aber bislang nicht nachgewiesen, dass Eltern in dieser Zeit nach Maßgabe der Rente auf Humankapital zwischen Qualität und Quantität von Kindern entschieden haben Der Fruchtbarkeitsübergang setzte denn auch erst im späten 19. Jh. ein und scheint durch andere Variablen bestimmt

ad (1): Bevölkerungswachstum und technischer Fortschritt Der positive Schock der Arbeitsnachfrage um 1820 erfolgte in einer Phase starken und sich beschleunigenden Bevölkerungswachstums Agrartechnische Innovationen in dieser Zeit waren arbeitsintensiv → Beitrag zur Absorption der wachsenden Bevölkerung Einführung des Hackfeldbaus: Kartoffeln, Futterrüben Ganzjährige Stallfütterung des Viehs: Futterproduktion, systematische Düngung Der Zeitpunkt des positiven Schocks um 1820 scheint aber nicht unmittelbar mit demographischen Vorgängen in Verbindung zu stehen Institutionelle Reformen, die Marktintegration förderten, scheinen wichtiger gewesen zu sein Hinweise auf Schub in der Integration von Getreidemärkten, was den Ausgleich regionaler Ernteschwankungen erleichterte Neu entstandene Flächenstaaten begünstigten durch Abschaffung innerer Zölle, Straßenbau, Übernahme modernen Handelsrechts regionale Arbeitsteilung

Schluss In Deutschland gelangen im frühen 19. Jh. … der Ausbruch aus einem malthusianischen System und … und der Übergang zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum … in einer Phase starken und sich beschleunigenden Bevölkerungswachstums Bevölkerungswachstum begünstigte Arbeitsteilung und die Verbreitung arbeitsintensiver agrartechnischer Innovationen … … war aber keine hinreichende Voraussetzung für den positiven Wachstumsschock um 1820 Wieweit Präferenzen von Eltern bezüglich Quantität vs. Qualität mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen hingen, ist derzeit offen Bezüglich der Einschätzung künftiger Bevölkerungsentwicklung und der Wünschbarkeit von Bevölkerungswachstum können Langzeitstudien wichtige Grundlageninformation liefern