Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein…

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Initiative SCHAU HIN! Was Deine Kinder machen.
Advertisements

... für alle, die mal Ihren IQ testen wollen!
Einführung in das Konzept der Kollegialen Fallberatung
Empowerment – was bedeutet das konkret:
A U S S T R A H L U N G Gedanken, Impulse.
Pro-Skills-Hintergrundphilosophie
Joachim Bauer Gehirnforscher, Psychologe
Verantwortung übernehmen heißt Antworten geben-
Dialogische Hörgeschädigtenpädagogik
Ab heute ist morgen!.
Akzeptierende Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen
Umgang mit schwierigen Schülern – Eine Einführung
Kommunikation in Zeiten der Veränderung
Ist entscheidend, was hinten rauskommt?
Jugendhilfe im Strafverfahren
Psychologische Hintergründe von Machtmissbrauch
Mögliche Themen für die Sozialarbeit im Fall Herr und Frau Huber
Gruppenstruktur nach E. Berne
11 Verantwortung
Lebensraum Gruppe Was ist eine Gruppe bzw., aus wievielen
damit es gute Hilfs-Angebote für behinderte Frauen und Mädchen gibt?
Arbeitsgruppe 6: Tagesbetreuung für Kinder C. Katharina Spieß DIW Berlin und FU Berlin Professur für Familien- und Bildungsökonomie 22. Februar 2013.
Lied von Jonny Hill.
Umgang mit Konflikten Mag. Weber Adrian.
Probleme lösen „hilf mir!“: ich helfe dir beim Suchen deiner Lösung!
Netzwerke Netzwerk (Ohr-Team) Psychologe
Ausgangssituation: Erkrankt ein Mitglied eines Familiensystems schwer, führt die Diagnosestellung immer zu einer vorübergehenden oder langanhaltenden.
Du wurdest als Teil von Gottes ________ erschaffen!
„Der Blick des Jugendamtes auf Kindeswohlgefährdung bei häuslicher Gewalt und die Schnittstelle zwischen richterlichem Beschluss und jugendrechtlicher.
Kompetenzentwicklung in schwierigen Zeiten: Wie man Jugendlichen dabei helfen kann, die eigene Biografie zu gestalten Perspektive Berufsabschluss, Offenbach.
Individualpädagogik: Beziehung statt Erziehung?
Möglichkeiten des Umgangs mit emotionalem Stress
Genderorientierte Berufsorientierung – ohne Eltern geht das nicht!
Teil I: Warum ein Pastoraler Entwicklungsplan? Der PEP ist mehr als die Verwaltung eines Personalmangels oder Strukturfragen. Die tieferliegenden.
Präsentiert….
Befragung Verantwortlicher in der KLJB Bayern zu Glaube und Kirche 2004.
„In jedem Anfang liegt ein Zauber...“ (nach Herrmann Hesse)‏
Evangelia-Margareta Samara Schulrätin für Deutsch als Fremdsprache
Stationenarbeit und Projektmethode im DaF
Tony Hofmann, Universität Würzburg
Management, Führung & Kommunikation
ALTERNATIVEN ZUR GU GU UND KEIN ENDE? EXPERTINNENGESPRÄCH AM , MAINZ DR. FRIEDHELM HÖFENER.
Auslösung von Gewalt und Angstzustand
Eine Fotoreportage über Straßenkinder
Bolivien: Hoffnung für Straßenkinder
Kinder, die Systeme sprengen – Kindliche Sinnhypothesen und hilfreiche Strategien für diese Kinder und Jugendlichen Priv. Doz. Dr. Menno Baumann.
Konflikte bewegen – Konflikte konstruktiv angehen
Thema „Hilfe mein Kind ist in der Trotzphase“
Schule ohne Homophobie – Schule der Vielfalt Ein wichtiges Projekt an unserer Schule eine gefördert vom: Initiative von:
Dr. Menno Baumann Pädagogik bei Verhaltensstörungen/ Erziehungshilfe Wenn es keine Zukunft gibt… Perspektiven entwickeln für Menschen mit veränderten Gedächtnis-
Qualifizierung von GruppenleiterInnen
Richard Stockhammer, BMUKK Wien, Leiter der HS-Abteilung; innovative Projekte - in Partnerschaft mit W. Schley, IOS net-I 4 Seiten der Innovation Richard.
Meine Familie Für die Klasse 10.
Konflikte zwischen Generationen
Eine Fotoreportage über junge Flüchtlinge in Deutschland
Modul für Mitarbeitende in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (Ehren-und Hauptamtlich) Ev. Bildungswerk, CHH 2012 Grundlagenwissen Sexualisierte Gewalt.
Bevölkerung in der 3. Welt
Wer ist schwer erreichbar – Institutionen oder Eltern? Prof. Dr. Tilman Lutz, Diakon.
Trialogische Arbeit mit Borderline - hilfreicher Ansatz für alle oder individuelle Hilfe im Einzelfall? ANJA LINK Dipl.-Sozialpädagogin (FH) Borderline-Trialog.
Übertragung H. Löffler-Stastka. Die Gesamtsituation Übertragung stellt eine emotionale Beziehung zum Analytiker dar, in der eine unbewusste Phantasie.
Die Qualität des „Sensing“ BerlinFrankfurtWien Januar 2015.
Biopsychosoziale Entwicklung Vorlesung „Psychische Störungen“ Prof. Dr. Ralph Viehhauser.
Kulturschock Was bedeutet der Auslandsaufenthalt für
Landeshauptstadt München Sozialreferat Amt für Soziale Sicherung Hilfen im Alter, bei Pflege und Betreuung Dipl. Soz.Gerontologe David Stoll Seite.
Eltern und Fachpersonen «eine interdisziplinäres Team Drehtage 2016 Mehr als eine Klientin Eltern- Kind- Institution Einladung zur Kooperation Definition.
Organisiert vom unterstützt von der Verein. Interventionen Soforthilfe in Notsituationen Mein Sohn kommt nicht nach Hause, meine Tochter verschanzt sich.
We are Family! Geschwister von Kindern mit Behinderung.
Erstelle deinen Avatar von Doktor-Conversion. Inhalt Was ist ein Avatar?...…………………………………………………………….. Was ist ein B-Vatar? ……………………………………… ………
Prototyping Berlin · Seite 2 Prototyping: Was und wozu Die Zukunft ausprobieren und erfahren durch „Machen“. Einen Mikrokosmos kreieren.
Kinder, die Systeme sprengen?
 Präsentation transkript:

Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein… Fallverstehen: Von der Kompetenz, ein „Systemsprenger“ zu sein… Priv. Doz. Dr. Menno Baumann

Kinder, die Systeme sprengen - „Systemsprenger“? Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestatet. (Baumann i.Vorb.)

Im wesentlichen trifft dies folgende Phänomene: Drogenkonsum und/ oder –handel auch in der Einrichtung Anhaltende Gewaltbereitschaft auch gegenüber Erwachsenen oder gegenüber jüngeren/ schwächeren Kindern Ständige Entweichungen, besonders in Kombination mit Prostitution

Bei aller Beschreibung bleibt die Frage: Warum Fallverstehen?

Fallverstehen kommt im Rahmen der Arbeit mit vermeintlichen „Systemsprengern“ eine dreifache Bedeutung zu: Verstehen macht belastbarer, weil es den jungen Menschen weniger unberechenbar erscheinen lässt! Verstehen hilft, ein Angebot zu planen, gegen das der junge Mensch nicht kämpfen muss. Verstehen ermöglicht, Rückzugsräume und Entlastungsmöglichkeiten zu sehen und zu nutzen.

Dabei bewegt sich Fallverstehen auf unterschiedlichen Ebenen: Ebene der institutionellen Eskalationslogik Ebene der Partizipation Ebene der verstehenden Diagnostik Ebene der Planung des nächsten Schrittes

1. Ebene der institutionellen Eskalationslogik Entlassung/ Rauswurf/ Beendigung der Maßnahme Rückkehr nach Hause mit erneuter niedrigschwelliger Hilfe Unterbringung in einer anderen Einrichtung Kinder- und Jugendpsychiatrie Straße Jugendvollzugsanstalt Suche nach intensiveren Maßnahmen (Pädagogischer Auslandsaufenthalt, geschlossene Unterbringung etc.)

Problem: Prozess beschleunigt sich!!! Phasen des gesellschaftlichen Versuches, Jugendlichen in Strukturen zu zwingen Phasen des Rückzuges aus gesellschaftlichen Bezügen: Problem: Prozess beschleunigt sich!!! Straße (Obdachlosigkeit) Jgdl. Jugendhilfe KJP „offizieller“ Wohnort bei schwacher Anbindung und gleichzeitig deutlichem Bezug zu Milieu (Drogenszene, Jugendbanden, Rotlichtmilieu etc.) Justiz

Die Hoffnung, eine solche Karriere durch immer rigidere bis zu freiheitsentziehende Maßnahmen reichende „Lösungen“ unterbrechen zu können, stellt sich in den allermeisten Fällen als utopisch dar! Kernproblem: Es fehlt die Frage nach der Indikation! Eine „Verschärfung“ der Maßnahmen lediglich als „Ultima Ratio“ zu sehen, weil nichts anderes mehr geht, ist in der Regel keine gute Grundlage für eine Hilfeplanung „Mehr desselben“ ist nicht immer gleich „Besser“

Ein zweites schwerwiegendes Problem Die zunehmende Differenzierung von Unterstützung führt also in vermeintlich schwierigen Fallverläufen gerade NICHT zu einer besseren Versorgung, sondern zu Prozessen der Parallelität des Nacheinanders des Gegeneinanders von Hilfen und Professionen

Hypothese: Um zu der Frage, welches Hilfesetting den Jugendlichen (noch) erreichen könnte, eine Antwort zu geben, müssen die Helfer verstehen, welchem inneren Sinn das Verhalten, welches den jungen Menschen zum „Systemsprenger“ macht, folgt!

2. Ebene der Partizipation oder: sich am Jugendlichen orientieren Wichtig ist die „Gleichberechtigung“ dreier Faktoren in der Beschreibung und Bewertung des Verhaltens des jungen Menschen und seiner persönlichen Ziele: Fallverstehen!!! Aussagen des jungen Menschen: Was sagt er zu seinem Verhalten, seiner Situation, seinen Zielen? Verhalten des jungen Menschen: Was tut er, und in welchem Verhältnis steht das zum Verbalisierten? Äußere Rahmenbedingungen (Es gibt nur eine Autorität auf der Welt, und das ist die Realität, (Ruth Cohn))

3. Ebene der verstehenden Diagnostik Ein zentrales Ergebnis der Studie (vgl. Baumann 2010, 88 ff): Analysiert man die Ausgangslage der Kinder und Jugendlichen innerhalb ihres Bezugsmilieus, kommt man zu dem Punkt, dass alle „Systemsprenger“ über eine gewaltige innere Stärke gute Resilienzfaktoren und Lösungskompetenzen verfügen. Mit Blick auf die institutionelle Eskalationsdynamik und den Hilfeverlauf lässt sich zeigen, dass es DIESE RESILIENZFAKTOREN SIND, die den jungen Menschen immer wieder mit dem pädagogischen System in Konflikt bringen.

Das pädagogische System kämpft also gegen die innere Überlebenslogik des jungen Menschen Da die innere Not des gekränkten Kindes immer stärker ist als beruflich verordnete Konsequenz, ziehen wir in diesem Machtkampf zwangsläufig den Kürzeren! Eskalationslogik!

Aus den Fallanalysen konnte ein Motiv herausgearbeitet werden, das in unterschiedlichen Nuancen ein Rolle bei dieser Eskalationslogik spielt (vgl. Baumann 2010, Kap. 6): Kontrolle Kontrolle situativer Unsicherheiten Kontrolle über die Tragfähigkeit des umgebenen Netzes Kontrolle im Rahmen der eigenen Biographie über/ gegen das Hilfesystem

Eskalation als Kontrolle akuter situativer Unsicherheit Kategorie „A“ Eskalation als Kontrolle akuter situativer Unsicherheit Ordnungsstrukturen der Umwelt/ Verhalten anderer Menschen nicht/ schwer durchschaubar; scheiternde Antizipation des Zukünftigen; -> Angst, Überforderung; Eskalation = Kausalität = Sicherheit Typische Merkmale: Erschaffung von Alternativen Lebensräumen/ Eigenwelten Erschaffung eigener Regel- und Gesetzmäßigkeiten Nicht bewältigte Lebensbedingungen Schwierige Kontaktaufnahmestrategien häufig: Suchthaushalte oder schwere, unberechenbare Gewalterfahrungen (gilt auch für andere Kategorien)

Kategorie „B“: Eskalation als Kampf um Autonomie gegen das Hilfesystem Kernmotiv: Hilfe wird als Übergriff gesehen; „Die wollen was von mir!“; Annehmen von Strukturen (anpassen) steht eigenen Zielen (ausbreiten) entgegen

Facetten der Kategorie „B“: - teilweise bewusste Ziele d. Jugendlichen - Enttäuschung über gescheitertes Familiensystem mischt sich mit Ablehnung des Hilfesystems teilweise feste, das System erhaltende Rolle in der Familie; Machtkämpfe mit Eltern, die in die Einrichtung hineingetragen werden B2) - Jugdl. übernehmen Versorgungsauftrag für Mitglieder oder Strukturen in der Familie - Jugendhilfe steht dem selbst auferlegten Versorgungsauftrag entgegen - bei Aufgabe der Rolle Haltverlust - Versuchen, alte Ordnung zu verteidigen/ wiederherzustellen B3) unbewusste Ziele: Kontrolle über Erziehungshilfe-system nach erlebtem Kontrollverlust Eskalation als Re –Inszenierung des Verlustes/ Abbruchs - selektive Wahrnehmung der angebotenen Hilfe

Eskalation als Frage an Helfer: „(Er-) Tragt Ihr mich?“ Kategorie „C“: Eskalation als Frage an Helfer: „(Er-) Tragt Ihr mich?“ Kernmerkmale der Kategorie: Völlige Entwurzelung; Kein ‚gefühltes Zuhause’ identifizierbar/ benennbar; ‚Wo gehöre ich hin?’ Kernfamilie als Identitätsgrundlage unbrauchbar Verhaltensweisen, die Reaktion erzwingen: internalisierende Verhaltensweisen (Nahrungsverweigerung, Selbstverletzung) externalisierend: ausagierendes Verhalten, das Kontrolle und Kümmern verlangt, persönlich verletzendes Verhalten/ Respektlosigkeit hoher depressiver Anteil

4. Ebene der Planung des nächsten Schrittes Auf der Grundlage des Fallverstehens muss im Rahmen der weiteren Erziehungs-, Maßnahme- und Settingplanung eine Gleichberechtigung zweier Fragen erörtert werden: Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit der junge Mensch nicht dagegen kämpfen muss? Wie muss ein Setting aufgestellt sein, damit die Mitarbeiter(innen) und die Rahmung insgesamt den jungen Menschen aushalten kann?

Was brauche ich für die Arbeit mit „Systemsprengern“? situativ: Möglichkeiten der Deeskalation, des Aushaltens, des immer wieder neu Startens Haltung, Professionsverständnis, Kompetenzerwerb perspektivisch/ planerisch: Möglichkeiten der Diagnostik, des gemeinsam getragenen Fallverständnisses und der Ziel- und Perspektivplanung als unerlässlicher Rückhalt: Möglichkeiten des Luftholens, des Zeitgewinns und des Verteilens auf viele Schultern – Trotz Kontinuität

Fort- und Weiter-bildungen zum Thema: Literaturtipps: Baumann, M. (2012): Kinder, die Systeme sprengen – Band 1: Wenn Jugendlich und Erziehungshilfe aneinander scheitern. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) Baumann, M. (i.Vorb.): Kinder, die Systeme sprengen – Band 2: Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) Fort- und Weiter-bildungen zum Thema: Infos bei: PD Dr. Menno Baumann info@leinerstift-akademie.de menno.baumann@uni-oldenburg.de