Einführung in die Europäische Ethnologie

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Einführung in die Europäische Ethnologie
 Präsentation transkript:

Einführung in die Europäische Ethnologie WS 2011/12 Prof. Dr. Johannes Moser

Einführung in die Europäische Ethnologie 2 Organisatorisches: Prüfungen (Klausur): BA-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. EWS-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. Magisterstudierende (Zwischenprüfung und Hauptseminaraufnahmeprüfung): voraussichtlich 13.2.2012, Zeit und Ort rechtzeitig auf der Institutshomepage (http://www.volkskunde.uni-muenchen. de/index.html) oder im Sekretariat erfragen. Seminarkarte! Erläuterungen zu Folien

Einführung in die Europäische Ethnologie 3 Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen in Europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart beschäftigt. In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit mehr auf die eigene nationale Gesellschaft fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle Phänomene in ganz Europa erweitert.

Einführung in die Europäische Ethnologie 4 Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwis-senschaften richtet die Volkskunde/Europäische Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hoch-kultur oder Lebenswelten der höheren Schich-ten, sondern auf das Denken, Handeln und Füh-len von Gruppen aus der breiten Bevölkerung. Vor allem die symbolischen Ordnungen des All-tagslebens in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interes-ses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 5 Forschungsbeispiel Blatten – ein Dorf an der slowenisch-steirischen Grenze Kultur Mit Kultur versuchen wir zu erklären, erstens wie Menschen Bedeutungen schaffen und ihrerseits wieder von diesen Bedeutungen beeinflusst wer-den und zweitens wie sie diese Bedeutungen in ihrem täglichen Lebensvollzug – also in der Pra-xis – bestätigen oder transformieren. Es handelt sich also um ein Orientierungs- und Handlungs-system, dass nicht in Modi von Einheit und Ab-geschlossenheit gedacht werden kann.

Einführung in die Europäische Ethnologie 6 Generell spielen in diesem Beispiel wir für unser Fach insgesamt die Kategorien Zeit, Raum und Soziales eine wichtige Rolle. Distinktionen, soziale Unterschiede Wir leben in einer stratifizierten Gesellschaft, wo – je nach Zugang – zwischen Klassen, Schichten und/oder Milieus unterschieden wird. Bei den damit einhergehenden Zuschreibungen und den Abgrenzungsversuchen (Distinktionen) handelt es sich um zutiefst kulturelle Phänomene, die in verschiedenen Forschungen in der Volkskunde/ Europäischen Ethnologie eine Rolle spielen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 7 Identität Wie den meisten oder allen kultur- und sozialwis-senschaftlichen Begriffen wohnt auch dem der Identität eine gewisse Unschärfe inne, trotzdem gibt es zumindest ein konstitutives Merkmal, das eine inhaltliche Bestimmung ermöglicht. Dabei handelt es sich um die soziale Dimension von Identität, die Anselm Strauss in folgendem Satz so wunderbar gefasst hat: Identität ist immer ver-bunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner selbst – durch sich selbst und durch ande-re.“

Einführung in die Europäische Ethnologie 8 Ethnizität Ethnizität bezeichnet ein kollektives Identitäts-konzept, das mit der Fachgeschichte beider Eth-nologien – also der Volks- wie der Völkerkunde –verbunden ist. Die Vorstellung von ethnischer Identität setzt ein Bewusstsein kultureller Zuge-hörigkeit voraus, „das sich“, so Wolfgang Ka-schuba, „aus der Wahrnehmung der ‚Andersar-tigkeit’ aller anderen speist“. So konkret die sozi-alen Praktiken sind, die sich mit ethnischer Iden-tität verbinden, so gefährlich sind jene Ideologien und Vorstellungswelten, die damit verknüpft sind.

Einführung in die Europäische Ethnologie 9 Community Studies Bei den Community Studies handelt es sich um ein tradi-tionsreiches Vorgehen in den ethnologischen Disziplinen. Am Beispiel von Gemeinden können im Rahmen von Mi-krostudien verschiedene kulturelle Phänomene unter-sucht werden, manchmal auch ganze Gemeinden an sich. In so einem begrenzten Ausschnitt lassen sich hi-storische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr genau beobachten und analysieren. In einer Gemeinde spiegelt sich nicht eine ganze Nation im kleinen wider und es handelt sich um keine abgeschlossene Entität, die keinen oder wenigen externen Einflüssen ausgesetzt ist.

Einführung in die Europäische Ethnologie 10 Kontinuität und Wandel Diese Begriffe verweisen auf ein zentrales Fak-tum von Kultur und Gesellschaften, dass sie nämlich einem Wechselspiel von dauerhaften und veränderlichen Elementen unterliegen. Sie treten bei jedem Phänomen eher gleichzeitig auf, freilich in sehr unterschiedlicher Gewichtung. Sie sind auch nur als relationales Begriffspaar zu verwenden, weil es dabei immer nur um ein Langsamer oder Schneller im Vergleich gehen kann; absoluter Stillstand oder permanente Bewegung findet sich selten. (vgl. W. Kaschuba)

Einführung in die Europäische Ethnologie 11 Grenze Die Grenze ist, obwohl man zunächst an ein räumliches Phänomen denkt, ein zutiefst kulturelles Phänomen. Es geht bei Grenzen stets um mehr als feste Markierungen oder Trennlinien. Grenzen können Quelle von Ängsten und Konflikten sein, aber ebenso von Möglichkeiten. Weil sie nie strikte Trennlinien von irgendetwas sind, stellen sie im räumlichen wie im sozialen Sinn Grenzzonen dar, in denen sich spezifische Dynamiken entwickeln. An Grenzen sind Gesellschaften wie Gruppen besonders verwundbar, an ihnen werden Identitäten ent- oder verworfen, an ihnen verschieben und verändern sich kulturelle Kategorien und Bedeutungen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 12 Methoden (Beispiele) Beispiel Film „Kitchen Stories“ Feldforschung Teilnehmende Beobachtung Interviews Expertengespräche Historisch-archivalische Methoden Medienanalyse Kartierungen Film und Fotografie Verschiedene Analyseverfahren

Einführung in die Europäische Ethnologie 13 Geschichte der Volkskunde Für die Anfänge der Volkskunde gilt es – darauf hat Andreas Hartmann hingewiesen – auf jene historischen Diskussionsfelder zu schauen, die so etwas wie eine volkskundliche Fragestellung hervorgebracht haben. Der Begriff Volkskunde taucht Ende des 18. Jahrhunderts (frühe Belege von 1782 und 1788) auf, wird aber noch nicht im Sinne einer Disziplin verwendet. Eine wichtige Rolle spielte die Aufklärung, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht.

Einführung in die Europäische Ethnologie 14 Besonders die Statistik interessiert sich seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für Land und Leu-te, um dem Staat nützliches Wissen zur Verfü-gung zu stellen. Wichtige Vertreter sind hier etwa Gottfried Achenwall (1719-1772) und sein Schü-ler August Ludwig von Schlözer (1735-1809). Vorläufer sind auch in der Geographie und Ge-schichte zu finden, etwa bei Johann Christoph Gatterer (1727-1799), der historische, geogra-phische und kulturanthropologische Zugänge miteinander verband und sich unter anderem für eine „Geographie der Kultur“ interessierte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 15 Das Raster, mit dem Land und Leute zur damali-gen Zeit betrachtet wurden, war historisch, kul-turell, sozial und ökonomisch bedingt. Als einflussreich dürfen auch jene Forschungs-anliegen und Forschungsreisen gelten, welche Menschen und Gesellschaften außerhalb Euro-pas ins Zentrum des Interesses rückten und sich bei deren Untersuchung bereits einer umfangrei-chen Methodologie bedienten. In Europa gewann um die Wende vom 18. um 19. Jahrhundert die Betrachtung der Unterschie-de in den Nationalcharakteren Bedeutung.

Einführung in die Europäische Ethnologie 16 Von großer Bedeutung war Johann Gottfried Herder (1744-1803) mit seinen „Ideen zur Philo-sophie der Geschichte der Menschheit“. Auch Herder interessiert sich für Volkscharak-tere, deren Unterschiede er an materielle Bedin-gungen und Lebensweisen rückbindet. So schuf er einen Entwurf – schreibt W. Kaschuba –, „der die ‚Kulturen der Völker‘ systematisch und klas-sifizierend zu erfassen sucht“, wobei er kritisch reflektiert, wie dies geschehen könne. Herder sah „im Volk eine überindividuelle Per-sönlichkeit mit schöpferischer Begabung“.

Einführung in die Europäische Ethnologie 17 Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Einführung in die Europäische Ethnologie 18 Er interessierte sich besonders für jene „unsicht-baren Kräfte“ (Herder), die eine „Volksseele“ be-stimmen und die er in der Volksdichtung und Lie-dern zu finden glaubt. Im 19. Jh. bestimmten die genannten Strömun-gen der Aufklärung und der Romantik die Ent-wicklung der wissenschaftlichen Volkskunde. Die Aufklärung setzte u.a. auf das Vernunftden-ken und betonte die Gleichheit der Menschen. Die Romantik wiederum „richtete den Blick auf eine scheinbar ‚heile‘ Vergangenheit und schwor allem Nützlichkeitsdenken ab“ (Kai D. Sievers).

Einführung in die Europäische Ethnologie 19 Beide Richtungen interessierten sich allerdings für das Volk. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt eine Vielzahl von kameralistischen Beschreibungen über Land und Leute, über Lebensverhältnisse und Lebensweisen der Menschen. Oftmals ging dabei die kameralistische Beschreibung auch in eine nationalromantische Richtung über – etwa in der Begeisterung für Volkslieder, die als Aus-druck „ursprünglicher volkstümlicher Unverdor-benheit“ galten.

Einführung in die Europäische Ethnologie 20 Ein für das Fach bedeutsamer Vertreter im 19. Jahrhundert war Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897). Riehl war eigentlich Theologe, seit 1854 in Mün-chen aber Professor für Staatswirtschaftslehre und Statistik und seit 1859 für Kulturgeschichte. Zunächst verstand er die Volkskunde als eine Art Hilfswissenschaft für eine Staatswissenschaft. Mit dieser Form einer „Naturgeschichte des Vol-kes“ sollten Verwaltungs- und Verfassungsbe-amte in Landes- und Volkskunde ausgebildet werden.

Einführung in die Europäische Ethnologie 21 1858 hielt er in München einen programmati-schen Vortrag mit dem Titel „Die Volkskunde als Wissenschaft“, wegen dem er häufig als Gründer einer wissenschaftlichen Volkskunde bezeichnet wird, obwohl der Vortrag kaum rezipiert wurde. Auch wenn eine echte wissenschaftliche Ausein-andersetzung mit dem Gegenstand fehlte, so hat er Wesen und Aufgabe der Volkskunde zu be-nennen gesucht. Er plädierte dafür, nicht bloß Material zu sam-meln, wie eine der berühmtesten und immer wie-der zitierten Passagen belegt:

Einführung in die Europäische Ethnologie 22 „Diese Studien über oft höchst kindische und wi-dersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der That für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poe-tische Weihe durch ihre Beziehung auf den wun-derbaren Organismus einer ganzen Volksper-sönlichkeit, und von diesem Begriff der Nation gilt dann allerdings im vollsten Umfang der Satz, daß unter allen Dingen dieser Welt der Mensch des Menschen würdigstes Studium sey.“

Einführung in die Europäische Ethnologie 23 Das Material müsse nach Riehl bestimmten Ka-tegorien zugeordnet werden, nämlich den vier großen „S“: Stamm, Sitte, Sprache, Siedlung. Außerdem forderte er eine teilnehmende Beob-achtung durch den Forscher, die sich bis dahin hauptsächlich als „Schreibtischwissenschaftler“ bei „abgeleiteten Quellen“ bedient hatten – also aus Büchern, Statistiken, Archivmaterial etc. Riehls Forschung hatte die Idee der Nation im Fokus, die er als einen „naturhaften Zustand“ sah, „dessen Gesetzmäßigkeit“ er ergründen wollte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 24 Riehl war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Sozialpolitiker, weshalb er seine vier Werke Die bürgerliche Gesellschaft, Land und Leute, Die Familie und das Wanderbuch in einer Aus-gabe „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik“ (1869) nannte. Ins Zentrum rückte er dabei die Familie, die für ihn die wichtigste Rolle im nationalen und sozia-len Leben spielte. Sie ist für ihn eine konstante und unantastbare Größe, wozu die Vorstellung „von gottgewollter Unverrückbarkeit der Ge-schlechterrollen“ (Sievers) gehört.

Einführung in die Europäische Ethnologie 25 Riehl erkannte die Veränderungen, die im 19. Jh. abliefen, aber war gegen diese Veränderungen. In seinem Gesellschaftsbild unterteilte er „Mäch-te des Beharrens“ (Bauern und Adel) und „Mäch-te der Bewegung“ (Bürgertum und Vierter Stand – also in etwa Lohnarbeiter). Dabei wurde das Bauerntum als beharrendes Element von ihm besonders geschätzt. So hatte sein Gesellschaftsbild auch keine Zukunftspers-pektive, sondern richte den Blick auf eine Ver-gangenheit, die es in der von ihm propagierten Form auch nie gegeben hatte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 26 Von bleibt Riehl ein widersprüchlicher Eindruck: Erstens seine staatswissenschaftliche Perspek-tive, die der Volkskunde einen Platz als Lie-ferantin von Informationen über Land und Leute einräumte. Dann aber eine rückwärtsgewandte, romantische und ideologiebehaftete Gesellschaftslehre, die den Wirklichkeiten seiner Zeit nicht entsprach. Schließlich war er auch für die Verhältnisse sei-ner Epoche kein exakter Wissenschaftler. Weder sammelte er sein Material sorgfältig, noch ent-wickelte er ernstzunehmende Theorieansätze.

Einführung in die Europäische Ethnologie 27 Wilhelm Heinrich Riehl

Einführung in die Europäische Ethnologie 28 Trotz dieser Schwächen gelangte er zu wichti-gen Erkenntnissen und die wissenschaftliche Volkskunde verdankt ihm eine Fülle von Anre-gungen. In der Folge von Herder entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein starkes romantisches Interesse, das sich für die Äußerungen des „Volksgeistes“ in Lied, Märchen, Sage, Glaube und Brauch begeisterte. Die Geschichte des eigenen Volkes wurde bedeutsam und Zeugnisse tradierter Volkskultur wurden gesammelt.

Einführung in die Europäische Ethnologie 29 Das Vergangene wurde als das Vollkommene gesehen und auch als Nahrung für die Zukunft, wie es Jacob Grimm formuliert hat. Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm wurden zwei bedeutende Vertreter dieser Richtung, die auch die Altertumskunde grün-deten. 1812 und 1815 veröffentlichten sie die beiden Bände der „Kinder- und Hausmärchen“, danach folgten die „Deutschen Sagen“ (1816-18).

Einführung in die Europäische Ethnologie 30 Die Brüder Grimm sahen in der Volkspoesie „ei-ne autonome Schöpfung“, „deren Ursprung in ei-ne unbestimmte ältere Zeit reiche, über der der ‚Schleier des Geheimnisses gedeckt‘ liege, ‚an den man glauben soll‘.“ (Sievers). Schon vor den Brüdern Grimm hatten Ludwig Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) die erste umfassende Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806-1808) veröffentlicht, der eine Vielzahl weiterer Sammlungen folgte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 31 Kritisiert wurde allerdings – etwa von den Brü-dern Grimm –, dass Arnim und Brentano zu „echten Volksliedern“ im „Volksliedton“ umge-dichtet haben. Die Begriffe „Volksgeist“ und „Volkspoesie“ spiel-ten in der Romantik also eine wichtige Rolle, wo-zu noch der Begriff des „Volkstums“ kam, der von Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), dem Gründer der deutschen Turnbewegung, stammt. Jahn wollte in seinem Buch „Deutsches Volksthum“ (1810) die Gemeinsamkeit der deutschen Kulturüberlieferungen belegen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 32 Diese sollten für die Erziehung zur nationalen Einheit politisch nutzbar gemacht werden. Die Romantik war für die Entwicklung der Volks-kunde als Wissenschaft von zentraler Bedeu-tung. Neben einer historischen Perspektive, die hinter der Untersuchung „geistiger“ Überlieferun-gen steckte, verfolgte man aber auch mythische Vorstellungen von germanischem Altertum, die historisch nicht belegbar waren und für das Fach bis nach 1945 eine schwere Hypothek dar-stellten.

Einführung in die Europäische Ethnologie 33 Ein bedeutender Vertreter des Faches im 19. Jh. war der Mythologe Wilhelm Mannhardt (1831-1880), der die Mythologie als eine exakte Wis-senschaft zu begründen suchte. Sein bekanntes-tes Werk war „Wald- und Feldkulte“, das auf ei-ner breiten Fragebogenaktion aufbaute.  Auch die Völkerpsychologen interessierten sich für überlieferte Glaubensvorstellungen, um in Sprache, Mythologie, Religion, Sitte und Recht den „Elementen und Gesetzen des geistigen Völkerlebens“ auf die Spur zu kommen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 34 Dafür musste ein wissenschaftliches Bezugssys-tem geschaffen werden, „innerhalb dessen die Geisteseigenschaften der Völker zu bestimmen seien, ihr Ethnos“ (Weber-Kellermann/Bimmer). Daran anschließend suchte der Arzt und Ethno-psychologe Adolf Bastian (1826-1905) nach den „Elementargedanken der Menschheit“, „die un-geachtet räumlicher Entfernung, sozialen Kon-textes sowie wirtschaftlicher, politischer und hi-storischer Bedingtheiten in gleicher Weise in den unterschiedlichsten menschlichen Kulturen vorhanden seien“ (Sievers).

Einführung in die Europäische Ethnologie 35 Diese würden sich – in evolutionärem Sinn – in einer Stufenfolge weiterentwickeln. Seit den 1830er Jahren entwickelten sich die Geschichts- und Altertumsvereine, die auch ein Forum für die Volkskunde darstellten und die 1852 die Dachorganisation „Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine“ bildeten. 1852 wurde zudem das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg gegründet, in dem die Kulturgeschichte des deutschen Volkes gesammelt werden sollte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 36 Damit sollten auch Zeugnisse der Volkskultur in einer sich rapide verändernden Welt vor dem Untergang gerettet werden. Eine eigenständige Wissenschaft wurde die Volkskunde allerdings erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts. Der Germanist Karl Weinhold (1832-1901) gründete 1890 den „Berliner Verein für Volkskunde“, dem bald weitere Vereinsgrün-dungen folgten, in deren Rahmen auch volks-kundliche Zeitschriften herausgegeben wurden.

Einführung in die Europäische Ethnologie 37 1891 wurde die Zeitschrift des Vereins für Volks-kunde zum zentralen Publikationsorgan und exi-stiert noch heute als „Zeitschrift für Volkskunde“. Kai Detlev Sievers konstatierte, dass Weinhold ein anspruchsvolles Programm entwickelt hat. „Neben dem äußeren physischen Erscheinungs-bild sollten auch dessen Lebensverhältnisse – Nahrung, Kleidung, Wohnung – und die Ver-mittlung normativer Werte in Religion, Recht, Sprache, Poesie, Musik, Tanz und Ästhetik untersucht werden.“

Einführung in die Europäische Ethnologie 38 Auch die historische Schule der Volkswirtschaft spielte für die Volkskunde eine wichtige Rolle, weil sich ihre Vertreter neben ökonomischen Ge-setzmäßigkeiten auch für Faktoren wie Sitte, Gewohnheit, Rechtstraditionen etc. interessierte. Ein bedeutender Vertreter war Gustav Schmoller (1838-1917), der den Zusammenhang von Raum, Zeit und Nationalität thematisierte und ei-nen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Handwerksgeschichte lieferte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 39 Andere Vertreter – wie Karl Bücher (1847-1930) – rückten das Thema Arbeit in den Mittelpunkt, schauten auf Formen der Arbeitsteilung oder auf den Zusammenhang von Arbeit und Arbeitstakt. Man beschäftigte sich mit der sozialen Frage und mit der Situation der ländlichen Bevölkerung sowie mit der Lage der Industriearbeiterschaft.  Ein bedeutender Sozialpolitiker war der Arzt Ru-dolf Virchow (1821-1902), der eine umfassende Sozialhygiene anstrebte. Daneben interessierte er sich für das Volksleben und war an Vereins- und Museumsgründungen beteiligt.

Einführung in die Europäische Ethnologie 40 Ohne es hier ausführen zu können, spielten auch der Historische Materialismus von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) sowie die kulturhistorische Methode des Historikers Karl Lamprecht eine wichtige Rolle. Für die Volkskunde wurde aber das Buch „Ge-meinschaft und Gesellschaft“ des Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) bedeutsam, mit dem er den Übergang von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Formen des Zusammenle-bens beschreiben wollte (dazu an anderer Stelle dieser Vorlesung mehr).

Einführung in die Europäische Ethnologie 41 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts können – mit Utz Jeggle – drei grobe Richtungen unterschieden werden. Da ist der nationalistische Zugang, der aller-dings zu Beginn des Jh. noch gar nicht so stark ausgeprägt war. Karl Weinhold hatte zunächst überhaupt eine „Unbefangenheit in allen natio-nalen Fragen“ geäußert. Zwar beförderte der erste Weltkrieg das nationalistische Denken, aber nicht so sehr in der wissenschaftlichen Volkskunde. Der Feind wurde hier eher in der Sozialdemokratie gesehen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 42 Gerade die Industrialisierung stellte ein Problem für das junge Fach Volkskunde dar. Die Auswir-kungen der Industrialisierung auf die Kultur und das Alltagsleben wurden nicht direkt in den Blick genommen. Allenfalls sah man „die Gefahr der Zerstörung des volkskulturellen Kerns“, der nicht in der Industriebevölkerung vermutet wurde. 2. Eine andere Denkachse stellt psychologische und historische Zugänge einander gegenüber. Etwa wurde nicht wirklich historisch gedacht, sondern eher nach einem historischen Ursprung als nach einer Entwicklung gesucht.

Einführung in die Europäische Ethnologie 43 Auf dem seelischen Terrain wiederum herrschte eine Vorstellung von Ganzheit, die eine Volks-seele suchte, die „als kollektive Gesamtheit ge-dacht wird“, die von der Volkskunde „zu rekon-struieren und zu rekonstituieren“ sei (Jeggle). Von Albrecht Dieterich (1866-1908) wurde dies „Mutterboden der Kulturnation“ genannt. Konterkariert wurden diese Annahmen durch Stu dien, die das materielle Volksleben anhand von Sachzeugnissen und der Berufsarbeit von Bau-ern und Handwerkern erhoben (Rudolf Meringer 1859-1931 und Richard Wossidlo 1859-1939).

Einführung in die Europäische Ethnologie 44 Die Volksseele selbst wurde eher metaphorisch umkreist, denn definitorisch abgegrenzt. Bei Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936) ist sie ei-ne Art „ruhender Pol“, in dem die Anschauungen des Volkes zum Ausdruck gelangen. Er nennt dies „vulgus in populo“ und sah dies im „niede-ren, primitiv denkenden, von wenig Individuali-täten durchdrungene Volk“. Hoffmann-Krayer erkannte durchaus die Einflüs-se einer Moderne, die die Individualisierung der Menschen vorantreibt, die Volkskunde allerdings solle das „Generellstagnierende“ erforschen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 45 Adolf Spamer (1883-1953) erkannte dann die ideologischen Verkürzungen, die mit dem Begriff Volksseele einhergingen. Er sieht den Kern der Volksseele nicht etwa in der bäuerlichen Kultur, sondern in der Triebgebundenheit des Men-schen, dessen Motoren Hunger und Liebe seien. 3. Ein drittes Diskursfeld behandelte die Fragen der Individualität und des Schöpferischen. 1922 veröffentlichte Hans Naumann (1886-1951) sein schmales Buch „Grundzüge der deutschen Volkskunde, worin er seine These vom gesunke-nen Kulturgut präsentierte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 46 Seine viel kritisierte These lautete: „Volkskultur wird von der Oberschicht gemacht“. Zwar schrieb er sehr wohl, dass auch die Eliten-kultur an den „Wurzelstock der primitiven Ge-meinschaft“ rückgebunden sei, aber das minder-te die Kritik keineswegs, obwohl auch schon Hoffmann-Krayer Gleiches formuliert hatte: „Das Volk produziert nicht, es reproduziert“. Differenziert und psychoanalytisch fundiert, stell-te Adolf Spamer fest, dass es auch in den Eliten „Bewußtseinsebenen gibt“, die „archaischen Re-likten verpflichtet sind“

Einführung in die Europäische Ethnologie 47 Volkskunde im Nationalsozialismus Die Volkskunde spielte im Nationalsozialismus – wie viele Wissenschaften – eine unrühmliche Rolle. Einige Vertreter trugen zum abstrusen Ge-dankengebäude der Nationalsozialisten bei, viele waren mehr oder weniger engagierte Mitläufer, die vom Machtsystem zu profitieren versuchten. Die Volksideologie der NS-Zeit entstand aber nicht aus sich selbst, sondern hatte Vorläufer, die benannt werden können, auch wenn nicht alles, was vorgedacht worden ist, ist für die Katastrophe der NS-Zeit verantwortlich.

Einführung in die Europäische Ethnologie 48 Der bedeutendste Volkskundler des 20. Jahrhun-derts Hermann Bausinger hat einige Elemente der Volksideologie zusammengefasst: den na-tionalen Aspekt; die rassistischen Ideen; die Gleichsetzung von nordisch und germanisch; die Überhöhung des Bauernstandes, den Hitler als das „Fundament der gesamten Nation“ bezeich-nete; die „organische Konstruktion einer ge-schlossenen Volkspersönlichkeit“; der quasi-reli-giöse Charakter volkstümlicher Überlieferung und damit der Vorrang der Volkstumspraxis, die nur auf politischen Nutzen abzielte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 49 Utz Jeggle hat zu Recht moniert, dass daraus „Ideenbreie“ entstanden sind, die sich durch folgende Aspekte auszeichneten: Verzicht auf wissenschaftliche Methodik, Quellenkritik, Transparenz des Forschungsprozesses ‚Zerstörung der Vernunft‘ Ausblenden des Intellekts Abbau wissenschaftlicher Erkenntnissicherung Ablehnung des kritischen Diskurses Translozierung wissenschaftlicher Vorstellungen in ein Bekenntnissystem, das nicht einmal mehr den An-strich der Wissenschaftlichkeit braucht“

Einführung in die Europäische Ethnologie 50 Deutlich wird dies in einem Zitat von Wilhelm Peßler aus einem Grundsatzartikel zum Fach: „Möge es solcher Gestalt der Volkskunde ge-lingen, allen Volksgenossen das Wesen der Deutschheit zu erschließen und das Herz zu öff-nen für ihre Brüder, daß sie, einig im Kampf um Deutschlands Auferstehen, mit uns sprechen: ‚Ich bekenne mich zur deutschen Volksgemein-schaft und ich glaube an Deutschlands Unsterb-lichkeit‘.“ Vertreter wie Otto Höfler oder Eugen Fehrle hatten in eine ähnliche Richtung artikuliert.

Einführung in die Europäische Ethnologie 51 Der Volkstumsideologie hatte einige zentrale As-pekte, unter denen der Mythos des Ursprungs und die Rassevorstellungen einen besonderen Rang einnahmen. Die Suche nach dem Ursprung beginnt, wie bereits dargelegt, in den romantischen Ideen, eine Volksseele oder einen Volksgeist in alten Überlieferungen ausmachen zu können. Dazu gehört ebenso, dass die Gemeinschaft über das Individuum gestellt wird, ja das Individuum überhaupt als undeutsch zu klassifizieren.

Einführung in die Europäische Ethnologie 52 Die Unterscheidung von Rassen war zunächst keine Erfindung des Nationalsozialismus, son-dern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun-derts ein international anerkanntes Forschungs-feld, wie etwa der Soziologe Zygmunt Bauman gezeigt hat. Im Nationalsozialismus wird die Rasse allerdings zu einer „blutsmäßigen, biologischen“ Kategorie, die keine historischen Entwicklungen kannte, sondern Zugehörigkeit als natürlich gegeben annahm, was zu Ausgrenzung und Vernichtung führte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 53 Im Nationalsozialismus mutierte die Volkskunde zu einer Hilfswissenschaft, die das Regime bei der Verfolgung seiner Ziele ideologisch unter-stützte. Den führenden Vertretern ging es nicht um volkskundliche Forschung – sogar über die Ursprungssuche machten sich führende Vertre-ter (wie Hitler oder Goebbels) lustig – sondern sie wollten durch folkloristische Versatzstücke die Massenbindungskraft erhöhen. Die moralische Bewertung vieler Wissenschaftler in der NS-Zeit ist schwierig, weil das Regime keine wirklich neutrale Haltung zuließ.

Einführung in die Europäische Ethnologie 54 Dennoch gab es einige Wissenschaftler, die sich dem Regime nicht beugten. Der konservative Volksmusikforscher Kurt Huber wurde als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ hingerichtet. Will-Erich Peuckert und Adolf Reichwein wider-setzten sich dem nationalsozialistischen Denken. Die konfessionellen Volkskundler Rudolf Kriss und der Prälat Georg Schreiber nahmen eben-falls eine vorbildliche Haltung ein. 54

Einführung in die Europäische Ethnologie 55 Kultur ist ein zentraler oder wahrscheinlich der zentrale Begriff des Faches. Für die Begriffsgeschichte von Kultur kann zu-nächst auf das lateinische Wort cultura verwie-sen werden, mit dem die menschliche Aneig-nung der Natur beschrieben wird: die Kultivie-rung des Bodens, die Pflege der Landwirtschaft und in weiterer Folge überhaupt Fragen der Pflege, der Veredelung und der Ausbildung von Menschen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 56 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Kultur dann der Natur gegenüber gestellt. Kultur ist da-bei das von Menschen Erschaffene, Natur das Ursprüngliche. Natur umfasst die menschliche Leiblichkeit, Kultur die humane Geistigkeit. Herder spricht etwa von einer „Kultur des Vol-kes“ und versteht darunter noch Ursprüngliches und Unverbildetes. Goethe wiederum schreibt von „Bildungskultur“ und meint menschliche Herzens- und intellek-tuelle Geistesbildung.

Einführung in die Europäische Ethnologie 57 Diese unterschiedlichen Semantiken, so Wolf-gang Kaschuba, fließen auch in die Volkskunde des 19. Jahrhunderts ein, bleiben vielfach unge-ordnet nebeneinander bestehen und werden kaum begriffs- und ideologiegeschichtlich hin-terfragt. Herders „Kultur des Volkes“ sucht nach ästheti-schen Zeugnissen, nach einer natürlichen Poe-tik, die in Märchen und Liedtexten vermutet wird. Eine „Kulturkunde“ der frühen Landes- und Rei-sebeschreibungen wiederum sammelt ländliche Bräuche, populäre Sitten, Kenntnisse über den Stand der Landespflege.

Einführung in die Europäische Ethnologie 58 Bereits hier wird klar, dass die Vorstellung einer Bildungskultur neben einer Kultur von Land und Leuten – vor allem verbunden mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehl – existierte. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kommt dazu auch noch die politische Karriere von Kultur, die als „Deutsche Kultur“ zum Synonym für einen Nationalismus wurde, dem zunächst noch sie staatlich-politische Gestalt fehlte. Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897), Begründer der wissenschaftlichen Volkskunde; Professor für Kulturgeschichte und Statistik an der Univer-sität München

Einführung in die Europäische Ethnologie 59 Hauptwerk: vierbändige »Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deut-schen Socialpolitik« (Bd. 1: »Land und Leute« [1853], Bd. 2: »Die bürgerliche Gesellschaft« [1851], Bd. 3: »Die Familie« [1854], Bd. 4: »Das Wanderbuch« [1869]), Wurde zu einem vielgelesenen Werk im Bil-dungsbürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Riehl sah Volkskultur, Brauchtum und Traditio-nen als eigenständigen historisch-gesellschafts-wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand

Einführung in die Europäische Ethnologie 60 Neben der Vorstellung von materieller und geisti-ger Kultur wirkte auch jene von niederer und ho-her Kultur lange weiter. Riehl unterschied Bildungsgut vom primitiven Gemeinschaftsgut, Hans Naumann sprach von gesunkenem Kulturgut und sah die schöpferi-sche Kompetenz bei den oberen Schichten. Erst die Reformdebatten seit den 1960er Jahren führten zu einem reflektierten Kulturbegriff, was auch Auswirkungen auf Fragestellungen und Betrachtungsweisen hatte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 61 Die Volkskunde hatte sich seit ihrer Etablierung für Veränderungsprozesse interessiert, zunächst aber noch mit einem sentimentalen und bewah-renden Blick, dann interessierte sie sich dafür, wie die Veränderungen von Menschen wahrge-nommen werden, welche Bedeutungen die Men-schen diesen Veränderungen beimessen und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben. Die Diskussion um den Kulturbegriff wie das Fach insgesamt wurde durch verschiedene theoretische Konzepte beeinflusst.

Einführung in die Europäische Ethnologie 62 Eines dieser Konzepte ist das der Zivilisation von Norbert Elias. Norbert Elias (1897-1990), als Sohn jüdischer El-tern in Breslau geboren, 1915 Abitur, bis 1917 Kriegsdienst. Er studierte in Breslau, Heidelberg (u.a. bei Karl Jaspers), Freiburg im Breisgau (u. a. bei Edmund Husserl). Er promoviert 1922 mit der Arbeit „Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“. 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und saß im Oberseminar bei Alfred Weber.

Einführung in die Europäische Ethnologie 63 Norbert Elias

Einführung in die Europäische Ethnologie 64 1924 ging er wieder nach Heidelberg, arbeitete für Karl Mannheim und hörte bei Alfred Weber. Er folgte dann Karl Mannheim nach Frankfurt am Main, wo er 1932/33 seine Habilitations-schrift „Der höfische Mensch“ einreichte. Für die Lehrbefugnis fehlte die Antrittsvorlesung, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Er floh nach Frankreich und 1935 weiter nach England. Dort schrieb er – im Lesesaal des British Museum – sein zweibändiges Werk „Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psy-chogenetische Untersuchungen“ (1936; publiziert 1939).

Einführung in die Europäische Ethnologie 65 Elias schlug sich mit Unterricht an Volkshoch-schulen durch. Erst 1954 erhielt er eine Dozentenstelle am De-partment of Sociology der Universität Leicester, wo er bis 1962 unterrichtete. Bei ihm studierten etwa Anthony Giddens und Martin Albrow. Von 1962 bis 1964 hatte er eine Professur an der University of Ghana in Accra inne. 1965 kam er als Gastprofessor an der Universi-tät Münster erstmals seit seiner Flucht nach Deutschland zurück.

Einführung in die Europäische Ethnologie 66 Seit 1975 hatte er seinen Hauptwohnsitz in den Niederlanden und erst in den 1970er Jahren wurde aus seinem „Prozeß der Zivilisation“ ein wissenschaftlicher Bestseller. 1977 erhält Elias den ersten Adorno-Preis und von 1978 bis 1984 arbeitet er am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und an der Ruhr-Universität Bochum. Bis zu seinem Tod im Jahr 1990 in Amsterdam arbeitete er unermüdlich an seinem Werk weiter. Sein Hauptwerk ist der „Prozeß der Zivilisation“, das nachhaltigen Einfluß auf die Sozial- und Geisteswissenschaften ausübte.

Einführung in die Europäische Ethnologie 67 Die Veränderungen menschlichen Verhaltens, der Empfindungen und Affekte werden als ein Zivilisationsprozess verstanden. Zivilisation ist für Elias dabei die langfristige Um-wandlung von Außenzwängen in Innenzwänge. Er beschreibt Zivilisierung als langfristigen Wan-del der Persönlichkeitsstrukturen, den er auf ei-nen Wandel der Sozialstrukturen zurückführt. Faktoren des sozialen Wandels sind der konti-nuierliche technische Fortschritt und die Diffe-renzierung der Gesellschaften sowie der stän-dige Konkurrenz- und Ausscheidungskampf.

Einführung in die Europäische Ethnologie 68 Dies führt zu einer Zentralisierung der Gesell-schaften (Einrichtung staatlicher Gewalt- und Steuermonopole) sowie zur Geldwirtschaft. Das Bindeglied zwischen diesen sozialstruktu-rellen Veränderungen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur sind die wachsenden gegenseitigen Abhängigkeiten, die "Interaktions-ketten", in die Menschen eingebunden sind. Eine zunehmende Affektkontrolle erzwingt zwi-schen spontanem emotionalen Impuls und tat-sächlicher Handlung ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der Wirkungen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 69 Das hat verschiedene Folgen: das Sinken der Gewaltbereitschaft; das Vorrücken der "Schamschwellen"; das Vorrücken der "Peinlichkeitsschwellen"; eine "Psychologisierung", d.h. die Steigerung der Fähigkeit, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen; eine "Rationalisierung", d.h. eine Steigerung der "Langsicht", also der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten vorauszu"berechnen".

Einführung in die Europäische Ethnologie 70 Elias zeigt "wie etwa von den verschiedenen Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden. Für Elias bestimmt eine fundamentale dynami-sche Verflechtungsordnung ("Figuration") den Gang des geschichtlichen Wandels; "sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt."

Einführung in die Europäische Ethnologie 71 Diese Verflechtungsordnung ist recht einfach: "Pläne und Handlungen, emotionale und ratio-nale Regungen der einzelnen Menschen greifen beständig freundlich oder feindlich ineinander.„ Aber er weist auch darauf hin, "dass sich aus al-lem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat“. In der Entwicklung der abendländischen Gesell-schaft "differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenz-druck mehr und mehr."

Einführung in die Europäische Ethnologie 72 Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funk-tionen bestimmt die Richtung der "Veränderung des Verhaltens im Sinne einer immer differen-zierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur." Diese differenziertere und stabilere Regelung wird dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr, als ein Automatismus ange-züchtet und funktioniert dann als Selbstzwang.

Einführung in die Europäische Ethnologie 73 "Die fortschreitende Differenzierung der gesell-schaftlichen Funktionen ist nur die erste, die all-gemeinste der gesellschaftlichen Transformatio-nen. ... Mit ihr, ... geht eine totale Umorganisie-rung des gesellschaftlichen Gewebes Hand in Hand." "Die eigentümliche Stabilität der psychischen Selbstzwang-Apparatur, ..., steht mit der Ausbil-dung von Monopolinstitution der körperlichen Gewalt und mit der wachsenden Stabilität der gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.“

Einführung in die Europäische Ethnologie 74 In früheren Gesellschaften lebte der Einzelne ungeschützter. Auf der einen Seite war er freier, sich der Lust hinzugeben, auf der anderen Seite war er gefährdeter durch Feinde oder Naturphä-nomene. Es war ein Leben zwischen Extremen. Elias behauptet nicht, dass es früher keine For-men von Selbstzwängen gegeben hätte, aber es "ist ein anderer Typus von Selbstbeherrschung oder Selbstzwang." Der neue Typus ist nicht mehr so ausgelassen, nicht mehr so extrem in den Schwankungen - zwischen Lust und Unlust, Freude und Leid -, sondern bewegt sich auf einer mittleren Linie.

Einführung in die Europäische Ethnologie 75 Elias beschrieb also eine Entwicklung hin zur In-dividualisierung, die die Ausbildung individueller Fähigkeiten ebenso befördert wie die Anpas-sung von Verhaltensstandards. • Die Geschichte der Zivilisierung sieht er als ei-nen „sozio- und psychogenetischen Vorgang“, als einen Prozess der gesellschaftlichen Verhal-tenskonditionierung, der sich in moralischen Strategien der Bedürfnis- und Triebkontrolle niederschlägt.

Einführung in die Europäische Ethnologie 76 Der „Prozeß der Zivilisation rief viele Kritiker auf den Plan. Der Ethnologe Hans Peter Duerr be-zeichnete den Zivilisationsprozess als Mythos. Dieser Mythos besage, dass die derzeitige Do-mestikation unserer tierischen Natur das Ergeb-nis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den „primitiven Völkern“ erst in jüngster Zeit begonnen habe. Duerr wehrt sich nicht zu Unrecht gegen ein Zerrbild fremder Kulturen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 77 Elias hat offenbar keine rezenten ethnologischen Bücher gelesen und kommt daher zu einer Fehleinschätzung der von ihm so genannten „Primitiven“. Durch Quellenarbeit widerlegt Duerr Elias, er bringt für die unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften Bele-ge, die den Thesen Elias’ weitgehend widersprechen. Während Elias unter der Rubrik „natürliche Bedürfnisse“ nachzuzeichnen versucht, wie sich gewisse Scham- und Peinlichkeitsgrenzen erst nach und nach herausbilden, kann Duerr zeigen, dass Urinieren, Defäkieren und Furzen in praktisch allen Kulturen dieser Welt mit Ekel- und Schamgefühlen sowie Peinlichkeitsschwellen besetzt ist.

Einführung in die Europäische Ethnologie 78 Andere Kritiker meinen, sein Geschichtsmodell sei zu nahe an längst überholten Evolutions-theorien. Zudem wird der Verdacht geäußert, Elias habe seine Belege zu sehr an die bereits bestehende Theorie angepasst. Ein anderer Kritikpunkt bezieht sich darauf, wie Elias seine an der Oberschicht gefundenen Be-funde auf andere Schichten und Milieus sowie auf andere Völker und Kulturen überträgt.

Einführung in die Europäische Ethnologie 79 Durch seine übervereinfachende Modellkon-struktion, so ein letzter hier zu erwähnender Kri-tikpunkt, geraten aber auch einzelne Befunde von Elias in ein schiefes Licht, weil damit Ent-wicklungen nicht gedeutet werden können, die seiner Konstruktion zuwiderlaufen – z.B. im Bereich der wieder liberaler gewordenen Vor-stellungen und Praktiken in Bezug auf Nacktheit oder Sexualität. Die Zivilisationstheorie sollte aber dennoch nicht zu gering geschätzt werden, weil sie gewisse Perspektiven eröffnet

Einführung in die Europäische Ethnologie 80 Ein Erbe von Elias Theorie liegt in einer nach-drücklichen Orientierung an gesellschaftlichen Prozessen – Prozesse, die niemals zu Ende sind und laufend beobachtet aber ebenso gestaltet werden können. Ein anderer zentraler Punkt ist sicherlich die Be-obachtung, dass eine Verlagerung der Kontrolle durch andere von einer Selbstkontrolle – der so genannten Selbstzwangapparatur – abgelöst wird. Damit ist auch jene Entwicklung zur Indivi-dualisierung angedeutet, die spätestens seit Ul-rich Becks „Risikogesellschaft“ auf der Agenda der Sozialwissenschaften steht.

Einführung in die Europäische Ethnologie 81 Schließlich war Norbert Elias ein großer Intellek-tueller, der mit seinem Spätwerk noch zu über-zeugen wusste und neben der Zivilisationstheo-rie eben noch andere wichtige Bücher verfasste: seine wissenssoziologischen Studien „Engage-ment und Distanzierung“ und „Über die Zeit“; „Die Gesellschaft der Individuen“; Studien über die Deutschen“ und zusammen mit John Scot-son das Buch „Etablierte und Außenseiter“, um nur einige zu nennen.

Einführung in die Europäische Ethnologie 82 Literatur Bausinger, Hermann u.a.: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 41996. Bausinger, Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Tübingen 1979. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1987 (11979). Brednich, Rolf W. (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 32001.  Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 41995. Gerndt, Helge (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde“ in der Diskussion. Darmstadt 1988. Gerndt, Helge: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. Münster u.a. 31997.  

Einführung in die Europäische Ethnologie 83 Göttsch, Silke, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin 22006. Hofmann, Martin Ludwig, Tobias F. Korta und Sibylle Niekisch (Hg.): Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Band I+II. Frankfurt am Main 2004 und 2006. Kaschuba, Wolfgang: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 22003. Lindner, Rolf: Die Stunde der Cultural Studies. Wien 2000. Moser, Johannes: Volkskundliche Perspektiven. In: Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008) II, S. 225-243. Warneken, Bernd Jürgen: Die Ethnographie popularer Kulturen. Eine Einführung. Wien, Köln, Weimar 2006. Weber-Kellermann, Andreas C. Bimmer, Siegfried Becker: Einführung in die Volks-kunde/Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte . Stuttgart, Weimar 32003.