Einführung in die romanische Sprachwissenschaft VI a Vom Strukturalismus zur Generativistik 16.11.2010
Vom Strukturalismus zur Generativistk Die synchrone Linguistik
Der Strukturalismus Es gibt keinen einheitlichen Strukturalismus, sondern nur strukturalistische Grundannahmen, die vom Systemcharakter der Struktur ausgehen. Die Struktur bedingt die Funktionalität der Teile im Verbund einer Ganzheit.
Der Strukturalismus Folgende Grundannahmen de Saussures gelten als konstitutiv für strukturalistische Sprachanalysen: Sprache kann zunächst unter drei verschiedenen Aspekten betrachtet werden, als Langue (= im Gehirn aller Sprecher einer bestimmten Sprache gespeichertes System), als Parole (= aktuelle Sprechtätigkeit in konkreten Situationen) sowie als faculté de langage (= generelle Fähigkeit zum Erwerb und Gebrauch von Sprache), wobei langue und parole sich gegenseitig bedingen.
Die Dichotomie LANGUE - PAROLE Der Strukturalismus
LANGUE (nach Ferdinand de Saussure) = im Gehirn gespeichertes Sprachsystem Italienisch Spanisch Französisch Portugiesisch
PAROLE = (= aktuelle Sprechtätigkeit in konkreten Situationen) Tenho fome. Tengo hambre. J‘ai faim. Ho fame. Aktualisierung der langue (z.B. Sp., Frz., It., Pg.) = parole.
Die Dichotomie DIACHRONISCH vs. SYNCHRONISCH Der Strukturalismus
Der Strukturalismus Unterschiedliche Betrachtungsweisen der Sprache DIACHRON (z.B. nach Art der Junggrammatiker): Betrachten wir folgenden sp. Satz:Tengo hambre Herkunft von sp. tener ? < lat. TENERE Herkunft von sp. hambre ? < lat. FAMES (Akk. FAMEM)
Der Strukturalismus DIACHRONE SPRACHBETRACHTUNG Wie erklärt sich der Wandel von lat. FAMEM zu sp. hambre ? Klat. FAMES, FAMIS, Akk. FAMEM (> it. fame) bietet keine Erklärung Man müsste für das Sp. eine vulgärlat. Form *FAMEN, Gen. *FAMINIS (Akk. *FAMINEM) annehmen (z.B. in Analogie zu LUMEN, Akk. LUMINEM). vlat. *FAM(I)NE(M) > *FHAMNE [f] > [h] > [] Einfluss des baskischen Substrats asp. famne, famre (> fambre) > hambre Vgl. HOMINEM > *omne > *omre > ombre > nsp. hombre latinisierende Schreibung
Beispiele für SYNCHRONE Sprachbetrachtung Strukturalismus
Die Dichotomie SYNTAGMATISCH - PARADIGMATISCH Der Strukturalismus
Der Strukturalismus J‘AI FAIM. HO FAME. PARADIGMATISCHE ACHSE TENGO HAMBRE. TENHO FOME. PARADIGMATISCHE ACHSE SYNTAGMATISCHE ACHSE
Der Strukturalismus Zwischen „Durst“ und „Hunger“ besteht hier eine paradigmatische Beziehung J‘AI SOIF FAIM HO SETE FAME TENGO SED HAMBRE TENHO SED FOME PARADIGMATISCHE ACHSE SYNTAGMATISCHE ACHSE
Der Strukturalismus Zwischen „Durst“ und „Hunger“ besteht hier eine syntagmatische Beziehung JE N‘AI PAS FAIM, J‘AI SOIF. NON HO FAME, HO SETE. NO TENGO HAMBRE, TENGO SED. NAÕ TENHO FOME, TENHO SED. PARADIGMATISCHE ACHSE SYNTAGMATISCHE ACHSE
Der Strukturalismus Sprache im Sinn von Langue wird als ein System von Zeichen aufgefasst. Jedes Zeichen besteht aus der Zuordnung von zwei (sich gegenseitig bedingenden) Aspekten, dem konkret materiellen Zeichenkörper (z.B. seine akustische Lautgestalt) sowie einem begrifflichen Konzept. Die Zuordnung dieser beiden Aspekte zueinander ist willkürlich (frz. arbitraire), d.h. sie ist sprachspezifisch verschieden und beruht auf Konvention. Vorstellung von Hunger [ambre] Akustische Lautgestalt im Spanischen Konvention im Spanischen
Der Strukturalismus Der Strukturalismus war besonders produktiv in folgenden linguistischen Teildisziplinen PHONOLOGIE SEMANTIK SYNTAX
Glossematik (Kopenhagener Schule) Forschungsrichtungen des Strukturalismus
Strukturalismus - Glossematik Glossematik (gr. glossa, Sprache) Eine Sprachtheorie, die von Louis Hjelmslev in der Kopenhagener Schule begründet wurde. Die Glossematik entwickelt die strukturelle Linguistik von Ferdinand de Saussure weiter. Sie beruht auf der immanenten Beschreibung der Sprache als Form sowie als System von inneren Unterschieden und Abhängigkeitsverhältnissen.
Strukturalismus - Glossematik Die Glossematik basiert auf der Hypothese, dass Sprache ein autonomes System von internen Relationen darstellt, dessen Struktur ausschließlich durch innersprachliche Kriterien beschreibbar ist.
Strukturalismus - Glossematik Grundlegend für das methodische Konzept der Glossematik ist die Abgrenzung verschiedener „Untersuchungsebenen“ („Strata“): (a) Ausdruck vs. Inhalt: diese in Anlehnung an de Saussure postulierte Unterscheidung zwischen dem materiellen Aspekt sprachlicher Zeichen und ihrem Bedeutungsgehalt wird durch die Dichotomie von (b) Form vs. Substanz noch einmal aufgegliedert, so dass sich vier Kombinationen ergeben, denen zugleich vier Teildisziplinen der Sprachwissenschaft entsprechen:
Strukturalismus - Glossematik Die vier sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen (aa) Phonetik = Substanz des Ausdrucks (ab) Semantik = Substanz des Inhalts (= außerlinguistische Realität) (ac) Phonologie = Form des Ausdrucks (ad) Grammatik = Form des Inhalts
Strukturalismus - Glossematik In der langue-orientierten, d. h. systembezogenen Betrachtungsweise der Glossematik wird die Untersuchung von Phonologie und Grammatik als ausschließliche Aufgabe der Linguistik aufgefasst, während Phonetik und Semantik als außerlinguistische Aspekte ausgeklammert werden. Ziel der linguistischen Analyse ist nicht primär die Klassifizierung der sprachlichen Objekte, sondern die Beschreibung der zwischen ihnen bestehenden strukturellen Beziehungen.
Strukturalismus - Glossematik Dichotomien der Glossematik SYSTEM – VERLAUF (= Satz, Text ) AUSDRUCK – INHALT FORM - SUBSTANZ
Strukturalismus - Glossematik Teilbereiche der Glossematik Plerematik Beschreibung der Grundstrukturen der kleinsten semantischen Spracheinheiten (= Plereme). < gr. pléres „voll“ Kenematik Untersuchung kleinsten phonologischen Merkmale der Sprache (= Keneme) < gr. kenós „leer“
Strukturalismus - Glossematik
Strukturalismus - Glossematik Anwendung der Glossematik in der Romanistik kaum produktiv Ausnahme: Emilio Alarcos Llorach, Gramática estructural (1951)
Der Strukturalismus Generelle Kritik am Strukturalismus Der Strukturalismus sieht nicht die historische Entwicklung von Strukturen. Der Strukturalismus vernachlässigt die sinnlich feststellbaren Tatbestände zu Gunsten von zum Teil sinnlosen Abstraktionen.
Literaturhinweise zur selbständigen Nachbereitung Jörn Albrecht: Europäischer Strukturalismus. 2. Aufl. Tübingen / Basel 2000.
Die Generativistik Ein Paradigmenwechsel in der Linguistik
Generativistik - Grundüberlegungen Wie lernen Kinder sprechen? – Grund- überlegungen der generativistischen Theorie Nach der Auffassung des BEHAVIORISMUS (dominante Methode in den USA von den 20er bis in die 60er Jahre) Kinder hören Erwachsene sprechen und ahmen diese nach. Zunächst fehlerhafte Imitation der Erwachsenensprache. Danach zunehmende Annäherung an die Sprache der Erwachsenen.
Generativistik - Grundüberlegungen Wie lernen Kinder sprechen? – Grund- überlegungen der generativistischen Theorie Was spricht gegen die behavioristische Auffassung? Kinder produzieren Äußerungen, die sie noch nie zuvor gehört haben (d.h. keine Imitation). Kinder imitieren gerade jene Wörter, die sie bereits verstehen, aber noch unsicher gebrauchen. Der Spracherwerb vollzieht sich bei jedem sprachunauffälligen Kind in gleicher oder ähnlicher Weise mit einer festen Abfolge der verschiedenen Lernstadien (und zwar unabhängig von der Intelligenz und der jeweiligen Sprache). Bestimmte Fehler, die logisch möglich sind, werden von Kindern nicht gemacht. Der Erwerb der Muttersprache erfolgt relativ schnell.
Generativistik - Grundüberlegungen Wie lernen Kinder sprechen? – Grund- überlegungen der generativistischen Theorie Kinder entnehmen der Sprache, die sie hören (= INPUT) nicht nur die Wörter, sondern auch die grammatischen Regelhaftigkeiten. Diese werden zunächst auf alle gleichartigen Fälle ausgedehnt, was zunächst zu fehlerhaften Äußerungen führt (nicht aus der Sicht des Kindes).
Generativistik - Grundüberlegungen Wie lernen Kinder sprechen? – Grund- überlegungen der generativistischen Theorie Die grammatischen Regeln basieren auf UNBEWUSSTEM WISSEN, das sich auf allen sprachlichen Ebenen manifestiert, d.h. Unbewusstes phonologisches Wissen Unbewusstes morphologisches Wisse Noam Chomsky stellte die Annahme eines angeborenen Vorwissens ins Zentrum seiner Sprachtheorie (GENERATIVE GRAMMATIK).
Generativistik - Grundbegriffe KOMPETENZ und PERFORMANZ KOMPETENZ (engl. competence) = das unbewusste Wissen eines Sprechers über seine Sprache PERFORMANZ (engl. performance) = die Sprachverwendung im Rahmen einer konkreten Sprechsituation
Generativistik – das Prinzip der Strukturabhängigkeit Eine fundamentale Eigenschaft von Grammatiken natürlicher Sprachen ist die STRUKTURABHÄNGIGKEIT ihrer Regularitäten. Eine strukturabhängige Regel nimmt Bezug auf die Wortkette und nicht auf die lineare Abfolge der Wörter.
Generativistik – das Prinzip der Strukturabhängigkeit Beispiel: Maria compra un gelato. (Aussagesatz) Compra un gelato Maria? (Fragesatz) Die REGEL zur Bildung eines Fragesatzes könnte wie folgt lauten: „Stelle das erste Wort an die letzte Position“ ABER… Il bambino compra un gelato. *Bambino compra un gelato il?
Generativistik – das Prinzip der Strukturabhängigkeit Diese Regel würde allerdings einen ungrammatischen Satz als grammatisch kennzeichnen. Dies bedeutet, … …dass sich die syntaktischen Gesetzmäßigkeiten in natürlichen Sprachen offenbar nicht über lineare Abfolgen von Wörtern formulieren lassen. Es muss vielmehr die Struktur von Wortketten als syntaktische Einheiten berücksichtigt werden. Diese syntaktischen Einheiten werden in der Generativen Grammatik als Phrasen bezeichnet. Die Wortkette il bambino darf z.B. nicht getrennt werden. Es handelt sich um eine NOMINALPHRASE (bestehend aus einem DETERMINATOR [= Artikel] und einem NOMEN).
Generativistik – das Prinzip der Strukturabhängigkeit Die REGEL zur Bildung des Fragesatzes lautet daher wie folgt: „Stelle die erste PHRASE an die letzte Position“ Il bambino compra un gelato. Compra un gelato il bambino?
Generativistik – das Prinzip der Strukturabhängigkeit S = Satz NP = Nominalphrase VP = Verbalphrase Det = Artikel N = Nomen V = Verb Die Darstellung mit Hilfe von Strukturbäumen S NP VP NP Det N V Det N Il bambino compra un gelato El niño compra un helado A criança compra un gelado L‘ enfant achète une glace
Literaturhinweise zur selbständigen Nachbereitung Natascha Müller / Beate Riemer: Generative Syntax der romanischen Sprachen. Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch. Tübingen 1998, S. 1-24. Hans-Martin Gauger / Wulf Oesterreicher / Rudolf Windisch: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft. Darmstadt 1981, S. 185-205.