Peter WEICHHART Institut für Geographie und Regionalforschung

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 Präsentation transkript:

Integrative Projekte Die „dritte Säule“ und das Verhältnis von Physiogeographie und Humangeographie Peter WEICHHART Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien Forschungsseminar IGR, Universität Wien, 28. 11. 2005 P230PH3SWien01

Persönliche Motivation Ein persönliches „Meta-Projekt“ Dissertation (1973): Entwurf einer „Ökogeographie“; (gescheiterter) Versuch, einen „integrativen Kernbe- reich“ der Geographie ohne Rückgriff auf Konzepte der „klassischen Einheitsgeographie“ zu begründen Empirische Arbeiten zum Zusammenhang von Sied- lungsstrukturen und naturräumlichen Gegebenheiten Humanökologie Methodologische und konzeptionelle Arbeiten zur Ent- wicklung einer „Theorie der Mensch/Gesellschaft-Umwelt- Beziehungen“ P230PH3SWien02

Von der klassischen „Einheitsgeographie“ zur „Zwei-Fächer-Disziplin“ Spätestens mit der „Kieler Wende“ (1969) entwickelt sich die Geographie zu einer „Zwei-Fächer-Disziplin“ und einem „Zwei-Fach-Studium“. „Vorboten“ der Trennung: „Der Zerfall der geographischen Gesamtwissenschaft ist nicht mehr aufzuhalten, überall kracht es in ihrem Gebäude und keine Stützen werden das Zusammenbrechen hindern können.“ A. RÜHL, 1933, S. 32 Bereits in den 1960er Jahren war wegen der zunehmenden Spezialisierung de facto eine Trennung der beiden Teil- fächer zu erkennen. P230PH3SWien03

Die Konstitutionsbedingungen der Einheitsgeographie In der „klassischen“ Phase der Geographie war die Ein- heit des Faches durch ein hoch elaboriertes Theoriege- bäude begründet, aus dem die Möglichkeit und Notwendig- keit integrativer Projekte geradezu zwingend abzuleiten war: das „länderkundliche Schema“ (war mehr als bloßes „Kochrezept“ oder „Gliederungsschema“, sondern eine inhaltliche Theorie) das „Landschaftskonzept“ (H. BOBEK, J. SCHMIDTHÜSEN, H. UHLIG, E. NEEF u. a.) P230PH3SWien04

Exkurs: „Theorien“ Theorien sind verallgemeinernde Behauptungen, die Kausalzusammenhänge oder Verursachungs- zusammenhänge zwischen Phänomenen der Rea- lität postulieren. „starke Form“: „Für alle A gilt: sie werden von B verursacht“. Deterministische Kausalität „schwache Form“: „In x% der Fälle trifft zu, dass A durch B verursacht wird.“ Probabilistische Kausalität P230PH3SWien05

Der „Verlust der Einheit“… … war die Folge des Obsolet-Werdens der klassischen Basistheorien im Gefolge des Paradigmenwandels Ende der 1960er Jahre und des Umbaus des Faches zu einer „Raumwissenschaft“ („Kieler Wende“): endgültige Demontage des länderkundlichen Schemas radikale Dekonstruktion des Landschaftskonzepts (G. HARD) Die vorher theoretisch bestens begründete Einheit ist spätestens seit Kiel nur mehr in Form einer „Einheitsrhetorik“ haltbar. „Raum“ und „Region“ werden als Ersatzbegriffe für „Landschaft“ verwendet, es fehlt aber eine vom Mainstream akzeptierte theoretische Hintergrundposition, mit deren Hilfe die „Integration“ begründet werden kann. P230PH3SWien06

Der „Verlust der Einheit“… … war im weiteren Verlauf der Entwicklung bis Ende der 1990er Jahre kein wirklich dominantes Thema der Fach- diskurse. Die Spezialisierung der beiden Geographien schritt weiter voran. Die Humangeographie näherte sich immer mehr den Sozialwissenschaften an, die Physiogeographie der Physik. In Festschriften, Sonntagsreden oder offiziellen Statements von Berufs- und Interessenverbänden wurde zwar immer noch die Einheit des Faches betont, konkrete Zusammen- arbeit und gemeinsame Forschung „am Problem“ war aber eher die Ausnahme. P230PH3SWien07

Der „neue“ fachpolitische Diskurs Ab der Jahrtausendwende wird (nicht nur im deutschen Sprachraum) die Frage der Einheit der Geographie neu thematisiert. Es entwickelt sich ein intensiver Diskurs, der zunächst primär fachpolitisch ausgerichtet ist. Er steht in Zusammenhang mit den Universitätsreformen und deren negativen Auswirkungen auf den Status und die Entwicklungsmöglichkeiten der Geographischen Institute (Stellenabbau, „Standortbereinigung“, Institutsschließun- gen). Ein wichtiger Impuls war dabei das „Jahr der Geo- wissenschaften“ (2002). P230PH3SWien08

Der „neue“ fachpolitische Diskurs Die wichtigsten Argumentationslinien: „Gemeinsam sind wir stärker.“ Geographie als „Brücken- und Integrationsfach“, „ganzheitliche Sichtweise“, „gelebte Interdisziplinarität“, „Schnittstellenfach“ Einbindung der Geographie in die „Gesellschaft- Umwelt-Forschung“: Bearbeitung eines Themas von höchster gesellschaftlicher Relevanz Betonung der Notwendigkeit einer verstärkten Öffent- lichkeitsarbeit Geographie habe „Problemlösungskompetenz“ P230PH3SWien09

„Reintegration“ als Programm Das gesamte Fach Geographie solle sich als Geowissen- schaft positionieren; Begründung: global wirksamer und dominanter Einfluss des Menschen auf das Ökosystem Erde („Anthropozän“); Besinnung auf die „gemeinsame Mitte“, die „Schnittstelle Mensch – Natur“, sei dringend geboten. Die fachliche Einheit sei ein Wesensmerkmal der Geo- graphie und dürfe nicht aufgegeben werden. Umsetzung: „Feindliche Übernahme“ des TU-Institutes in München durch das Geographische Institut der LMU. W. D. BLÜMEL, 2003, S. 7/8 P230PH3SWien10

Der „neue“ fachtheoretische Diskurs Erst im Gefolge der fachpolitischen Aussagen und Program- me begann sich ein konzeptionell-theoretischer Diskurs zu entwickeln. „Meilensteine“ des neuen fachtheoretischen Diskurses: „Münchener Tagung“ 2003 DFG-Rundgespräch, Bonn 2004 Tagung „Gesprächskreis Integrative Projekte“, Wien 2005 „Sonderveranstaltung“ am Geographentag in Trier 2005 Geplant: DFG-Rundgespräch „Gesellschaft-Umwelt-Forschung“, Leipzig 2006 Tagung „Gesprächskreis Integrative Projekte“, Mainz 2006 Geographentag Bayreuth, 2007 Jahrestagung DAL 2007, Wien P230PH3SWien12

Der aktuelle Status integrativer Projekte in der Geographie J. A. MATTHEWS und D. T. HERBERT (2004, S. 369): „Geography … is commonly perceived as lacking unity. The widening gap between the physical and human subdisciplines … has been referred to many times elsewhere in this book. … human and physical geography are ,splitting apart‘ … “. P230PH3SWien18

Diagnose von H. LESER (2003): Ein Vakuum, das sich immer weiter ausdehnt Quelle: H. LESER, 2003, Abb. 3, S. 44 P230PH3SWien19

Diagnose von H. LESER (2003): „Die Forschung von Physio- und Humangeographie richtet sich kaum noch an gemeinsamen „zentralen Fragestellungen“ aus. Die Hauptaktivitäten beider Bereiche positionieren sich heute in ziemlich spe- zialisiert agierenden Arbeitskreisen, die fast immer eine starke Affinität zu Nachbarwissenschaften zei- gen. Diese an sich positive Entwicklung vernach- lässigt jedoch das (schräg schraffierte) zentrale Zwischenfeld – ein thematisches, methodisches, theoretisches und begriffliches Vakuum, das sich sukzessive vergrößert“ (S. 44, Hervorhebung P.W.). P230PH3SWien20

Die „dritte Säule“ Der weit überwiegende Teil der aktuellen For- schungsfragen der Humangeographie und der Physiogeographie (etwas weniger ausgeprägt) orientiert sich an Erkenntnisobjekten, die mit dem klassischen Thema der Mensch-Umwelt- Interaktion nicht das Geringste zu tun haben. Dieser forschungspragmatisch fassbare Wandel der Erkenntnisobjekte und das Fehlen einer Hintergrund- theorie müssen aus heutiger Sicht als die entschei- denden Hindernisse für eine Reintegration ange- sehen werden. P230PH3SWien21

Modelle der Konstituierung einer „geographischen Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ Das „Reintegrations-Modell“ Physio- geographie Human- + = Gesellschaft- Umwelt- Forschung Ein „Drei-Säulen-Modell“ Gesellschaft- Umwelt- Forschung Human- geographie Physio- P230PH3SWien22

Zentrale Probleme einer „Gesellschaft-Um-welt-Forschung“ I: „Natur“ versus „Kultur“ Dichotomes ontologisches Modell der Realität; die Elemente einer Dichotomie stehen zueinan- der im Verhältnis der Disjunktion. Das Problem: Wie geht man mit hybriden Ele- menten der Realität um? Die Gegenstandsbereiche, deren Wechselwirkun- gen in einer „Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ analysiert werden sollen, lassen sich nicht trenn- scharf voneinander unterscheiden. P230PH3SWien23

Das traditionelle Verständnis von Wissenschaft Wissenschaftliche Disziplinen sind ein Abbild oder Spiegelbild der ontologischen Struktur der Wirklichkeit. Dementsprechend sind auch die Wissen- schaftshauptgruppen (Naturwissenschaften versus Sozial/Kulturwissenschaften) als Re- flexion der Realitätsstruktur anzusehen. P230PH3SWien24

Ein modifizierte Verständnis: das „Perspektivenkonzept“ Die Gegenstände einer Wissenschaft sind nicht durch die Struktur der Reali- tät vorgegeben, sondern werden durch die Betrachtungsperspektive der be- treffenden Disziplin(en) konstituiert. P230PH3SWien25

Vorzüge des Perspektivenkonzepts Problemlos Behandlung hybrider Phänomene, keine Vorannahmen über die ontologische Struk- tur der Realität erforderlich; Widersprüche der traditionellen Wissenschafts- systematik werden aufgelöst; Konkurrenzsituationen zwischen Nachbardiszipli- nen werden entschärft. P230PH3SWien26

Naturwissenschaften Zu den Naturwissenschaften zählen all jene Disziplinen, die beliebige Gegenstände der Realität unter der Fragestellung betrachten, welche physisch-materielle Strukturen sie aufweisen und durch welche physisch-mate- rielle Prozesse sie entstehen oder verändert werden. P230PH3SWien27

Sozialwissenschaften Zu den Sozialwissenschaften zählen all jene Disziplinen, die beliebige Gegenstände der Realität unter der Fragestellung betrachten, ob und auf welche Weise sie Elemente der sozialen Wirklichkeit darstellen. „Soziale Wirklichkeit meint ... jenen Teil der erfahrbaren Wirklichkeit, der sich im Zusammenleben der Menschen ausdrückt oder durch dieses Zusammenleben und Zu- sammenhandeln hervorgebracht wird“ (H. L. GUKENBIEHL, 2002 a, S. 12). P230PH3SWien28

Zentrale Probleme einer „Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ II: Axiomatische Festlegungen der Sozialwissenschaften In der gegenwärtigen Mainstream-Soziologie wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sach- und Sozialstrukturen nicht thematisiert. Die disziplinäre Identität der Soziologie gründet auf dem DURKHEIM-WEBERschen Axiom: „Soziales darf/kann nur durch Soziales erklärt werden.“ Damit wurde die materielle Welt systematisch aus dem Interessenspektrum der Soziologie eliminiert. P230PH3SWien29

Die Folgen „Sachblindheit“ (und „Raumblindheit“) der Sozio- logie; Schwierigkeiten, ökologische Probleme und die materielle Welt zu thematisieren; Gesellschaft wird als System rekursiver symbo- lischer Kommunikation gedeutet; ihre materielle Umwelt wird bestenfalls als externer Störfaktor wahrgenommen; die Körperlichkeit des Menschen wird weitge- hend ignoriert. P230PH3SWien30

Das „doppelte Grundproblem“ aller „integrati- ven“ Forschungsansätze in der Geographie Die physiogeographischen Ansätze und Konzepte tendie- ren dazu, „Gesellschaft“ in extrem reduktionistischer Weise als einen bloßen Störfaktor darzustellen („Anthropozän“). Humangeographische Ansätze tendieren dazu, durch die Übernahme des Mainstream-Konzepts von „Gesellschaft“ aus den Sozialwissenschaften die „soziale Welt“ in eben- falls reduktionistischer Weise als System rekursiver symbo- lischer Kommunikation ohne Materialität zu sehen. Gesucht ist aber ein Gesellschaftsmodell, das es er- laubt, den „Zusammenhang zwischen Sinn und Ma- terie“ (W. ZIERHOFER, 1999) zu analysieren. P230PH3SWien31

… oder: Eine Metapher „Wir können … (eine Illustration) … einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten“ (L. WITTGENSTEIN, 1984, Philosophische Unter- suchungen. Werkausgabe Bd. 1, S. 519). Der „H-E-Kopf“ … oder: (Quelle: Joseph JASTROW, 1900, Fact and Fable in Psychology. – Boston. P230PH3SWien32

Der „Aspektbezug“ der Kognition Wir können die Graphik entweder als Hasen- oder als Entenkopf se- hen, niemals aber gleichzeitig als beides! Der H-E-Kopf lässt sich als Metapher für ein Grund- problem „integrativer Projekte“ ansehen: P230PH3SWien33

Das Verhältnis von Sinn und Materie Wissenschaftliche Zugänge zur Darstellung und Erklärung der Realität weisen ebenfalls einen derartigen Aspektbezug- auf. Wir sehen die Welt entweder als rekursive kommuni- kative (Sinn-)Struktur, oder als physisch-materielle Struktur. Naturalistisch-materialistische versus kulturalistisch-konstruktivistische Deutung der (sozialen) Welt P230PH3SWien34

Das eigentliche Problem: In Wahrheit besteht die (soziale) Welt aber gleich- zeitig immer aus beidem: Materie und Sinn(zu- schreibung) – so, wie der H-E-Kopf in Wahrheit gleichzeitig und gleichermaßen immer beides ist: die graphische Abstraktion eines Hasen- und eines Entenkopfes. Das Problem liegt in der Struktur un- seres Erkenntnisapparates, nicht in der „Realität“. Die Problemlösung: Eine „Kopenhagener Deutung“? P230PH3SWien35

Komplementarität Ein Erfolg versprechender Kandidat Gesucht wäre ein konzeptioneller Ansatz, welcher der Komplementarität von Sinn und Materie in der sozialen Welt gerecht wird und geeignet erscheint, Theorien der Mensch/Gesellschaft-Umwelt-Inter- aktion zu entwickeln. Ein Erfolg versprechender Kandidat für ein derartiges „Framing“ dürfte das handlungstheoretische Paradigma sein P230PH3SWien36

Eine zentrale Leistung der Handlungstheorie: Der Begriff des „Handelns“ erbringt genau jene Leistung, die in der klassischen Geographie im Landschaftsbegriff und im Raumbegriff aufgeho- ben war: die Verknüpfung von physisch-materiellen Gegebenheiten, Bewusstseinszuständen und der sozialen Welt. Die Handlungstheorie bietet die Möglichkeit, naturalistisch- materialistische (intendierte und nicht-intendierte Handlungs- folgen) und kulturalistisch-konstruktivistische (Genese und diskursive Begründung von Intentionalität) Deutungen der Welt im Kontext eines Denkmodells zu verbinden. P230PH3SWien37

Das Beispiel der „sozialökologischen Interaktionsmodelle“ Nicht-dichotomes Verständnis von Natur und Kultur! „Natur“, Öko-systeme „Kultur“, Sinn- konstitution, rekursive symbolische Kommuni- kation GESELLSCHAFT Kolonisierung: Artefakte, Settings ? Metabo- lismus Aneignung, Arbeit „ökol. Regime“ Population ? Physisch-materielle Welt „ökologische Doktrin“ „Gesellschaft“ im Verständnis der Soziologie „Hybride Systeme“ Nach M. FISCHER-KOWALSKI u. H. WEISZ, 1999, verändert P230PH3SWien38

Entwicklungserfordernisse I Um die Handlungstheorie als Basiskonzeption einer geo- graphischen Mensch-Umwelt-Forschung aber tatsächlich nutzbar machen zu können, wäre noch Einiges an Entwicklungsarbeit erforderlich: Agency von sozialen Aggregaten und Organisationen (nichtdeterministische) Rückwirkungen (agency?) physisch-materieller Strukturen auf Subjekte und soziale Gegebenheiten („Aktanten“ und „Agenten“) handlungstheoretische Interpretation von Diskursen („ökologische Doktrin“ als Teilelement „ökologischer Regimes“ (W. ZIERHOFER)) handlungstheoretische Interpretation von Konzepten wie Vulnerabilität, Risiko oder Resiliance P230PH3SWien39

Entwicklungserfordernisse II Auch für die Physiogeographie würden sich sehr erhebliche Entwicklungserfordernisse ergeben: Hinwendung zu Stoff- und Energieströmen Aufgreifen des Metabolismus-Konzepts Aktualismus, weg vom Denken in Geo-Archiven Aufgabe des „naiven Empirismus“ und Akzeptanz des konstruktivistischen Charakters der sozialen Welt Thematisierung von „Kolonisierungsprodukten“ Thematisierung der Risikoforschung P230PH3SWien40

Entwicklungsstrategien, die nicht ziel-führend erscheinen/nicht ausreichen werden „Null-Lösung“ (N. THRIFT, 2004) Rekurs auf eine „moralische Verpflichtung“ (K. RICHARDS, 2004) Rekurs auf „Kernkonzepte“ (J. A. MATHEWS und D. T. HERBERT, Hrsg., 2004) Rückgriff auf das Landschaftskonzept und die synthetische Länderkunde (BLÜMEL, 2003) oder die Theorie des geographischen Komplexes und der geographischen Dimensionen (LESER, 2003) P230PH3SWien41

Erfolg versprechende Entwicklungsstrategien weg von der Halbherzigkeit (Institutionalisierung, gut dotierte Förderprogramme, SFB, Dissertan- tenkollegs, langfristige Projekte, Arbeitsgruppen) „slow science“ statt „Exzellenz-Stalinismus“ Ein Blick über den Tellerrand (Umweltpsychologie, Umweltsoziologie, Techniksoziologie, Science Studies) Theorie- und Konzeptentwicklung (Metabolismus, Kultivation, Risiko, Vulnerabilität, Action Settings) P230PH3SWien42

Es ist viel zu tun – packen wir es an. Aber ordentlich, und mit Kraft! P230PH3SWien43