Europa im Zeitalter der Revolutionen: einzelstaatliche Besonderheiten und transnationale Zusammenhänge Vorlesung im Sommersemester 2007 von Norbert.

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Europa im Zeitalter der Revolutionen: einzelstaatliche Besonderheiten und transnationale Zusammenhänge Vorlesung im Sommersemester 2007 von Norbert Franz Universität Luxemburg Geschichte der frühen Neuzeit Raum BC 208

Anschluss an die zweite Vorlesungsstunde Wir haben in der letzten Vorlesungsstunde gesehen, dass im Laufe der drei Jahrhunderte vor der Großen Französischen Revolution überaus wirkungsmächtige religiöse Reformbewegungen ganz entscheidend zur Einschränkung der religiösen und politischen Macht der Papstkirche beitrugen. Dabei entwickelten sich bereits früh naturrechtliche und rationalistische Argumentationsmuster. Die Durchdringung maßgeblicher Teile der europäischen Gesellschaften mit aufklärerischem Gedankengut - bis hin zur in Teilen überaus radikalen Reformpolitik des „aufgeklärten“ Absolutismus - führte schließlich zu einer tiefen Erschütterung religiöser Herrschaftsbegründung. Dies bereitete den Boden für die beschleunigte Dynamik politischer und kultureller Entwicklungen zu Beginn des Zeitalters der Revolutionen, die in tief greifende gesamtgesellschaftliche Umwälzungen eingebunden waren.

Wiederholung: Aufklärung und Politik - der „aufgeklärte“ Absolutismus Allgemeines Wirtschaftsförderung Unterstützung und Förderung eines möglichst starken, selbstbewussten Bürgertums und eines starken Bauerntums Gewandelte Herrscherauffassung Monarch als „erster Diener“ des Staates: am Staatswohl orientiertes Herrschaftsverständnis Ambivalenz des aufgeklärten Absolutismus Zustimmung von Teilen der Untertanen (u. a. aufgeklärter Adel) zu den aufklärerischen Reformen einerseits Möglichkeit der Kritik und Frage nach dem Sinn der Erbmonarchie andererseits Gegenströmungen „Kräfte des status quo“ Adel, Geistlichkeit, Zünfte, Opposition gegen Judentoleranz Aufgeklärter Absolutismus als „Torso“ Strukturelle Reformhindernisse und geringe Zeit für Reformen Keine hinreichende Förderung der bürgerlichen Kräfte gegenüber den Vorrechten von Adel und Geistlichkeit

Preußen Friedrich II., König 1740-1786 Politische Instrumentalisierung Friedrichs „des Großen“ Borussische, antiborussische und nationalsozialistische Propaganda NS-Propagandafilm „Der große König“ Bis heute gültige Forschungslinie Meinecke/Schieder Friedrich II. zwischen Staatsraison und Aufklärung Friedrich Meinecke, Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, 1924 Unauflösliches Spannungsverhältnis zwischen Aufklärung und Machtstaatsdenken Im Anschluss an Meinecke: Theodor Schieder Friedrich der Große, ein Königtum der Widersprüche, 1986: Der König als Philosoph Teilnahme an den Debatten der Aufklärer Der König als Reformer Justizreformen „Coccejische Reformen“: vor allem Rechtsvereinheitlichung Bildungsreformen Generallandschulreglement (1763) Ansätze zu Reformen der Armenfürsorge Problem der „unversorgten Kinder

Russland Katharina II., Kaiserin 1762-1796 Intensiver geistiger Austausch Katharinas mit Voltaire, Diderot und d´Alembert Kenntnis der britischen Verfassung und der Werke der deutschen Kameralisten Erste Reformschritte „Große Instruktion“ als gemäßigtes Reformkonzept Erarbeitung eines neuen Gesetzbuches Justiz- und Verwaltungsreformen Mehr Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit Effizientere Staatsverwaltung Wirtschaftsreformen Aufhebung der Monopole Handelsfreiheit Freiheit der städtischen Gewerbe „Verstaatlichung“ der russisch-orthodoxen Kirche Säkularisierung der Kirchengüter De facto Beamtenstatus der orthodoxen Geistlichkeit Bildungsreformen Einführung der allgemeinen Schulbildung Förderung und Neugründung von Akademien

Spanien Karl III., König 1759-1789) Reformen Als erstes Land Europas Ausweisung der Jesuiten Engere Bindung der Kirche an die Krone: königliche Genehmigung päpstlicher Bullen Agrarreformversuche: Anlage von Stauseen und Bewässerungskanälen, Peuplierungen Kodifizierung des Rechts (erst 1805 vollendet) Vermessung des Landes Grundschulpflicht in Navarra Universitätsreformen Verstärkung der Staatsaufsicht Einführung praxisorientierter Fächer (spanisches Recht, Medizin, Biologie) Insgesamt: reduziertes aufklärerisches Reformprogramm und unvollkommene Reformansätze Keine Verankerung des Toleranzgedankens Keine Instrumentalisierung des Adels für das Staatswohl Keine konsequente Agrarreform Lediglich Großgrundbesitz Nutznießer der Verkäufe von Gemeindeland Beharren der Kirche als größtem Grundbesitzer auf Unveräußerlichkeit ihres Eigentums

Der österreichische aufgeklärte Absolutismus Joseph II., Kaiser 1765-1790; Leopold II., Kaiser 1790-1792 Der Josephinismus: aufklärerisches Reformkonzept mit dem Ziel einer radikalen Umgestaltung der Habsburger Monarchie sowie einer Homogenisierung und Nivellierung der habsburgischen Länder Staats- und Verwaltungsreformen Entmachtung der Stände Beseitigung der städtischen Selbstverwaltungen Klarer staatlicher Befehlsstrang von der Regierung bis zu den lokalen Verwaltungen Abschaffung der Privilegien des Adels und des Klerus Vereinheitlichung der Zölle Rechtsreformen Gleichheit aller vor dem Gesetz: Gerichtsordnung von 1781 Beseitigung der Benachteiligung religiöser Minderheiten: Toleranzpatent von 1781 Neues Strafgesetzbuch (1787): Abschaffung der Folter und Einschränkung der Todesstrafe Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frauen (Erbrecht, Scheidungsrecht) Wirtschafts- und Sozialreformen Bekämpfung des Zunftzwangs Sozialgesetzgebung zum Schutz fabrikarbeitender Kinder Bauernbefreiung: Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Bauern, Möglichkeit der Klage gegen den Grundherren, Abschaffung der bäuerlichen Dienstpflichten Finanzreformen auf der Grundlage einer Katasteraufnahme Kirchenreformen: Saatliche Priesterseminare, Aufhebung zahlreicher „nutzloser“ Klöster zugunsten des staatlichen Bildungswesens, Einschränkung des Wallfahrten Einführung des Deutschen als Verwaltungs- und Gerichtssprache

b) Die vorrevolutionäre Aufklärung in den britischen Kolonien Nordamerikas Wichtige Strömungen vor der Aufklärung Gegen den intoleranten neuenglischen Puritanismus in Massachusetts: Neugründung der Kolonien Connecticut (unter Thomas Hooker) und Rhode Island (unter Roger Wiliams): Toleranzprinzip, Trennung von Kirche und Staat Folge der puritanischen Opposition gegen die Stuart-Dynastie Großbritanniens: antimonarchische Strömungen Große Bedeutung der englischen Tradition des common law Altes Rechtsprinzip: no taxation without representation Die Kolonien unterstehen laut ihren „charters“ dem König, nicht dem Parlament Aufklärerische und naturrechtliche Strömungen Breit von den gebildeten Schichten rezipiert: Grotius, Pufendorf, Hobbes, Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Smith Besonders einflussreich: John Locke Prominentester Vertreter der amerikanischen Aufklärungsbewegung: Benjamin Franklin (1706-1790) Aufgeklärter Utilitarist (Mäßigkeit, Sparsamkeit, Ordnung ...) Politisch-ökonomische Nähe zu Adam Smith Für allgemeines, gleiches Männerwahlrecht Gleichzeitig Befürworter von Sklavenhaltung und -handel

3. Sitzung Agrarverfassung und Landwirtschaft zwischen Reform und Revolution: Die Steigerung der europäischen Agrarproduktion als Voraussetzung der Industriellen Revolution 16. März 2007

Relevanz Noch immer ist es in der Forschung sehr umstritten, welche Ursachen die tiefgreifendste, alle Dimensionen der Gesellschaft erfassende Umwälzung der Menschheitsgeschichte hatte: die Industrielle Revolution. Bevor wir in der nächsten Stunde diese Frage sowohl von ihrer theoretischen als auch von ihrer ereignishistorischen Seite beleuchten, werden wir eine überaus prominente Einzelmeinung prüfen, eine These des berühmten Historikers Paul Bairoch: „Die industrielle Revolution war [...] vor allem eine „Agrarrevolution“, die [...] die beispiellose Entwicklung von Industrie und Bergbau erst möglich gemacht und gefördert hat.“

Forschungsstand Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion insgesamt zuwenig beachtet. Zurückhaltung der Forschung – so meine Annahme - wegen der historisch-materialistischen Interpretation dieser Zusammenhänge in der Nachfolge von Karl Marx und Friedrich Engels „Agrarrevolution“ als Ausdruck des „Klassenkampfes“ Qualifizierung des Fachterminus „Agrarrevolution“ als „euphemistisch“ Toni Pierenkämper, Umstrittene Revolutionen, Frankfurt am Main 1998, S. 15 Wichtiger Befürworter der Verwendung dieses Terminus, bei klarer Distanzierung seiner historisch-materialistischen Engführung: Der Genfer Historiker Paul Bairoch Argument: Hier handelt es sich - wie bei der Industriellen Revolution - um einen langfristigen Prozess tief greifender wirtschaftlicher Veränderungen, der auch in den kulturellen und politischen Dimensionen gesellschaftlichen Wandels gravierende Spuren hinterließ.

Fragestellung Welche Rolle spielten Veränderungen in Agrarverfassung und Agrarwirtschaft bei der Industriellen Revolution in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent? Welche weiteren Einflüsse aus der Landwirtschaft lassen sich bei der Industrialisierung erkennen? Wie veränderte die Industrialisierung wiederum die Landwirtschaft? Welche Bedeutung hat die Landwirtschaft für die Erforschung der Ursachen der Industriellen Revolution? Welche Folgen hatte die Agrarrevolution für die ländliche Gesellschaft?

Übersicht I. Wege der Agrarrevolution 1. Die Bedeutung des Hungers 2. Beginn der Agrarrevolution 3. Technische Innovationen 4. Die Reform der Agrarverfassung II. Der Einfluss der Landwirtschaft auf die Industrialisierung 1. Chronologie 2. Industrielles Wachstum und Entwicklung der Landwirtschaft a) Demographische Revolution b) Folgen der agrarisch-demographischen Revolution c) Unternehmer und Finanziers der Industrialisierung mit Agrar-Hintergrund III. Soziale Folgen der Agrarmodernisierung in der ländlichen Gesellschaft IV. Fazit

I. Wege der Agrarrevolution 1 I. Wege der Agrarrevolution 1. Die Bedeutung des Hungers a) Weizenpreise in Luxemburg und Ostfrankreich (1805-1890) Jahresdurchschnittspreise in Franken pro Hektoliter

b) Weizenpreise in Luxemburg und „Deutschland“ (1792-1890) Index: Die Jahresdurchschnittspreise des Jahre 1890 entsprechen Index 100

c) Der Zusammenhang zwischen Lebensmittelteuerungen und Auswanderung: Dinkelpreise und Auswanderung in Württemberg 1815-1870

2. Die Anfänge der Agrarrevolution Ausbreitung der Agrarrevolution über den europäischen Subkontinent: von West- nach Ost- und Südeuropa: Großbritannien: 1690-1700 Frankreich: 1760-1770 Deutschland: 1790-1800 Italien: 1820-1830 Russland: 1860-1870

3. Wege der agrartechnischen Innovationen Flandern und Brabant im 16. Jahrhundert: dicht besiedelt und „Mekka aller Agrarexperten“ Innovationstransfer nach England durch niederländische Glaubensflüchtlinge (16. Jahrhundert) Steigerung der Hektarerträge und der Produktivität pro Beschäftigtem in England Von Großbritannien aus Verbreitung der neuen Agrartechniken in Europa und Nordamerika Mechanismus: Erst die Kombination von Innovation und größeren Betrieben führte zu einer erheblichen Steigerung der Gesamtproduktion

4. Art der agrartechnischen Innovationen Eliminierung des Brachlandes zu Gunsten des kontinuierlichen Fruchtwechsels Auflösung der Mehr(Drei-)felderwirtschaft Einführung oder vermehrter Anbau neuer Feldfruchtarten Rüben, Klee, Raps, Hopfen, Buchweizen, Mais, gelbe Rüben, Kohl, Kartoffeln Verbesserung der traditionellen landwirtschaftlichen Geräte Erhöhung der Eisenanteile (z. B. bei den Pflügen) Sorgfältige Auswahl des Saatguts und der Zuchttiere schnelle Erfolge vor allem bei der Viehzucht Neugewinnung und Verbesserung von Ackerland Entwässerung von Sumpfgebieten Drainage von Feuchtwiesen

Art der agrartechnischen Innovationen (2) Vermehrter Einsatz von Pferden und besseren Pflügen Steigerung der Produktivität um 50 % bis 1800 (England) Bis ca. 1850: Nutzung der Dampfkraft (England) Bis ca. 1900: Einführung von Mäh- und Dreschmaschinen sowie chemischen Düngemitteln Besonders wichtig: Düngergewinnung durch verstärkte Stallhaltung des Viehs

4. Die Reform der Agrarverfassung Die traditionelle Agrarverfassung - ein Innovationshindernis Ablösung grundherrlicher Abgaben Erstarrung der Nutzungsformen durch Abgabenpflicht, unterschiedlichste, zum Teil sehr hohe grund- und gerichtsherrschaftliche Lasten Umwandlung traditioneller Eigentums- und Nutzungsrechte in Privateigentum Abschaffung kollektiver und gemischter Eigentums- und Nutzungsformen Abschaffung des Flurzwangs Freie Wahl der Feldfrüchte und der Bodennutzung durch den einzelnen Bauern Nutznießer: größere und mittlere Betriebe Verlierer: Kleinbauern und unterbäuerlichen Schichten

Agrarreformen und frühe Industrialisierung in England

Zwischenfazit Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war überschattet von mehreren schweren Hungerkrisen „alten Typs“, die unter anderem zu bedeutenden Auswanderungsbewegungen führten. Die in Flandern und Brabant gelungenen Innovationen wurden im 17. Jahrhundert in England im großen Stil eingeführt. Von England aus breitete sich die Agrarrevolution in der Zeit von 1690 bis 1870 nach Osten und Süden aus. Die Innovationen betrafen die Organisation und die Formen des Anbaus sowie die Verbesserung der Bodenqualität durch vermehrte Düngung, die Viehzucht, die Verbesserung der landwirtschaftlichen Geräte und die Einführung von Maschinen. Voraussetzung der technischen Verbesserung der Landwirtschaft war die grundlegende Veränderung der Agrarverfassung, mit der Ablösung der grundherrlichen Rechte und dem Erwerb des vollen Eigentums- und Nutzungsrechts durch die Landwirte. Diese Veränderungen gingen in der Regel zu Lasten der kleinbäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten.

II. Der Einfluss der Landwirtschaft auf die Industrialisierung 1 II. Der Einfluss der Landwirtschaft auf die Industrialisierung 1. Chronologie Die zeitliche Nähe von Agrarrevolution (A) und Industrieller Revolution (I): England: 1700 (A) und 1760 (I) Frankreich: 1750/60 (A) und 1770/80 (I) Deutschland: 1800 (A) und 1850 (I) Interpretation: Alle wichtigen Länder, die von der Industrialisierung betroffen waren, durchliefen drei bis fünf Jahrzehnte zuvor eine Agrarrevolution Schlussfolgerung (Hypothese): Hier könnte ein Kausalzusammenhang bestehen, das heißt, die Agrarrevolution könnte eine der wesentlichen Ursachen der Industriellen Revolution gewesen sein

2. Industrielles Wachstum und Entwicklung der Landwirtschaft a) Demographische Revolution In großer zeitlicher Nähe zur Agrarrevolution: Beginn eines verstärkten Bevölkerungswachstums in England ab 1740 in Frankreich ab 1770 in Deutschland um 1800 in Italien und Schweden um 1820 Ursachen: sekundär - verbesserte Hygiene und medizinische Versorgung primär - gesteigertes Angebot von Lebensmitteln

Die demographische Revolution in Europa Quelle: Jean-Pierre Bardet, Jacques Dupâquier, Histoire des Populations de l´Europe, Bd. 2, Paris 1998, S. 15

b) Folgen der agrarisch-demographischen Revolution Steigende Nachfrage einer wachsenden Bevölkerung nach Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. Folge: Anreize zur Steigerung der Agrarproduktion und der gewerblich-industriellen Produktion Verstärkte Nachfrage nach Textilien, vor allem aus Wolle, später Baumwolle Folge: starker Industrialisierungsimpuls für die Textilindustrie Verstärkte Nachfrage nach Metallwaren, vor allem nach landwirtschaftlichen Geräten: Folge: Industrialisierungsimpuls für die Schwerindustrie Aufgrund der wirtschaftlichen Belebung größeres Angebot an landwirtschaftlichen und gewerblich-industriellen Arbeitsplätzen. Folge: Bevölkerungsvermehrung wegen verbesserter Existenzmöglichkeiten

c) Unternehmer und Finanziers der Industrialisierung mit Agrarhintergrund Kontinuitätsbruchthese (Pierennes): Jede neue Phase der wirtschaftlichen Entwicklung schafft sich ihre eigenen Unternehmer und Finanziers Dominierend unter den neuen Unternehmern (insbesondere der Textilindustrie): Unternehmer aus ländlichem Milieu In der ersten Phase der Industrialisierung weithin Finanzierung neuer Unternehmungen mit Kapital aus der Agrarwirtschaft Erklärungsversuche für die Dominanz des agrarischen Milieus in der frühen Phase der Industrialisierung: Soziale „Masseträgheit“ der alten Unternehmerschichten Geringerer Kapitaleinsatz pro Arbeitskraft in der Industrie im Vergleich zur Landwirtschaft (1:8)

III. Soziale Folgen der Agrarmodernisierung in der ländlichen Gesellschaft Prosperität der landwirtschaftlichen Betriebe Insbesondere Groß- und Mittelbetriebe Weniger die wenig marktorientierten Kleinbauern Krisen der „Proto-Industrie“ Bei Innovationsschüben Lohndruck auf veraltete Heimindustrien Zähes Festhalten der proto-industriellen Kleinstbesitzer an ihrem Kleinbesitz Langfristiger Grunderwerb mit dem Ziel einer bäuerlichen Existenz Breite Arbeitsplatzvernichtung im ländlichen Heimgewerbe als letzte Konsequenz industrieller Innovationen Folge der Heimindustrie-Krise: Ausweichen unterbäuerlicher Schichten in die neuen urbanen Industriezentren Die neue Industriearbeiterschaft ist in hohem Maße ländlich geprägt. Weitere Kontakte mit der Herkunftsregion

IV. Fazit der dritten Vorlesungsstunde Von der Agrarrevolution gingen entscheidende Impulse für die Industrialisierung aus. Über die Versorgung einer wachsenden Bevölkerung mit Nahrungsmitteln trug sie zu einem reichen Angebot von Arbeitskräften bei. Der hohe Wert agrarisch gebundenen Kapitals förderte die Investitionsbereitschaft in die zunächst weniger kapitalintensiven neuen Industrien. Dadurch wurden neue Unternehmergruppen aus dem agrarischen Milieu zu Aktivitäten in der Textilindustrie angeregt. In der ländlichen Gesellschaft profitierten von der Agrarrevolution – neben adeligen und bürgerlichen Gutsbesitzern – insbesondere die groß- und mittelbäuerlichen Schichten. Die unterbäuerlichen Teile der ländlichen Gesellschaft waren dagegen die Verlierer dieser Entwicklungen. Indem sie neue Existenzmöglichkeiten in den neuen städtisch-industriellen Zentren sichten, wurden sie zu den Hauptprotagonisten der Landflucht und stellen den zahlenmäßigen Kern der Industriearbeiterschaft.

Literaturhinweise Paul Bairoch, Die Landwirtschaft und die Industrielle Revolution 1700-1914, in: Carlo M. Cipolla, Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 3: Die Industrielle Revolution, Stuttgart, New York 1976, S. 297-332. Jean-Pierre Bardet, Jacques Dupâquier, Histoire des Populations de l´Europe, Bd. 2, Paris 1998. Norbert Franz, Durchstaatlichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter französischer und luxemburgischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805-1890) (Trierer Historische Forschungen, Bd. 60, zugleich Habilitationsschrift Universität Trier, Oktober 2005), Trier 2006. Aldo de Maddalena, Das ländliche Europa, 1500-1750, in: Carlo M. Cippola, Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2: Sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, Stuttgart, New York 1979, S. 171-221. Toni Pierenkämper, Umstrittene Revolutionen, Frankfurt am Main 1998

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!