Prof.Dr.Joachim Renzikowski

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 Präsentation transkript:

Prof.Dr.Joachim Renzikowski Prof. Dr. Joachim Renzikowski Martin - Luther - Universität Halle-Wittenberg Der Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen – wegschauen, eingreifen, aufklären? Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

I. Einleitung Was bedeutet sexuelle Selbstbestimmung bei Kindern. → I. Einleitung Was bedeutet sexuelle Selbstbestimmung bei Kindern? → Freiheit davor, zum Objekt fremdbestimmter sexueller Übergriffe herabgewürdigt zu werden. Jede sexuelle Handlung bedarf also der Zustimmung des Sexualpartners. Wo – wie bei Kindern – eine wirksame Zustimmung fehlt, wird die sexuelle Selbstbestimmung verletzt.

II. Sexualkontakte mit Kindern -> absolutes Verbot bis zu einer Schutzaltersgrenze von 14 Jahren !

1. Systematik der Sexualdelikte gegen Kinder Körperliche Sexualkontakte mit dem Täter oder mit Dritten § 176 Abs. 1 und 2 StGB * „wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt“ * „wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt oder von einem Dritten an sich vornehmen lässt“

b) Aufgedrängte sexuelle Vorgänge § 176 Abs. 4 Nr. 1, 2 und 4 StGB b) Aufgedrängte sexuelle Vorgänge § 176 Abs. 4 Nr. 1, 2 und 4 StGB * „wer sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt“ * „wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt“ * „wer auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt“

c) Vorfeldtatbestände § 176 Abs. 4 Nr. 3, Abs. 5 StGB c) Vorfeldtatbestände § 176 Abs. 4 Nr. 3, Abs. 5 StGB * „wer auf ein Kind durch Schriften einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen“ * „wer ein Kind für eine Tat nach den Absätzen 1 bis 4 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet“

d) Qualifizierte Formen des sexuellen Missbrauchs an Kindern § 176 a StGB * „wenn der Täter innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer solchen Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist“ * „wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind“ * „wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird“ * „wenn der Täter das Kind durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung bringt“ * „wer als Täter oder anderer Beteiligter in der Absicht handelt, die Tat zum Gegenstand einer pornographischen Schrift zu machen“ * „wer das Kind bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt“

e) Sexueller Missbrauch eines Kindes mit Todesfolge § 176 b StGB

2. Strafgrund und Sinn von Schutzaltersgrenzen „Children in relationships with adults are both uninformed and unable freely to say no.“ (Finkelhor) Probleme: - „Doktorspiele“ zwischen Kleinkindern - altersgemäße „Knutschereien“ zwischen Kindern (und Jugendlichen) - starre Altersgrenzen und individuell unterschiedliche Entwicklung

Beispiel (BVerfG v. 2. 7. 2013 – 2 BvR 2392/12): Der im Tatzeitpunkt 14 Jahre alte A hatte seine noch 13-jährige Klassenkameradin mit ihrem Einverständnis am Hals geküsst, so dass ein „Knutschfleck“ sichtbar war. Außerdem hatte er mehrfach ihr bedecktes Geschlechtsteil berührt. A wurde vom AG Arnstadt am 1.11.2011 wegen sexuellen Kindesmissbrauchs nach § 176 Abs. 1 StGB verwarnt und mit 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit belegt. Aufgrund dieser Verurteilung ordnete das AG Erfurt gemäß § 81g StPO eine DNA-Analyse an. Die Beschwerde wurde vom LG Erfurt als unbegründet verworfen. Erst das BVerfG hat diesem Wahnwitz ein Ende bereitet.

III. Zum Begriff der sexuellen Handlung § 184 g StGB „Im Sinne dieses Gesetzes sind 1. sexuelle Handlungen nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind, 2. sexuelle Handlungen vor einem anderen nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt.“

1. Der Sexualbezug Eine sexuelle Handlung liegt dann vor, wenn sie nach ihrem äußeren Erscheinungsbild einen Bezug zur Sexualität aufweist. Probleme: ambivalente Handlungen – ärztliche Untersuchungen 2. Die Erheblichkeit Bagatellgrenze – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 3. Sexuelle Handlungen an einem anderen oder vor einem anderen

4. Kasuistik (+). Zungenküsse 4. Kasuistik (+) Zungenküsse nicht nur flüchtige Berührung von primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen auch über der Kleidung obszöne Stellungen durch ein nacktes Kind Entblößung des Geschlechtsteils oder des Oberkörpers bei einem entwickelten Mädchen Selbstbefriedigung (-) Kuss auf die Wange Nacktbaden Handstand, bei dem der Schlüpfer sichtbar wird Hochheben des Rockes Spreizen der Beine in Unterwäsche „Doktorspiele“?

IV. Zur Deliktswirklichkeit Nach der PKS für 2013. insgesamt 46 IV. Zur Deliktswirklichkeit Nach der PKS für 2013 insgesamt 46.793 Sexualstraftaten davon 22.433 gegenüber Kindern 5.600 Fälle nach § 176 I und II StGB 1.889 Fälle von exhibitionistischen Handlungen 1.083 Fälle des schweren Missbrauchs nach § 176a II Nr. 1 (Beischlaf u.ä.) → vorwiegend Aggressions- bzw. Unterwerfungsdelikt innerhalb der Familie oder dem näheren sozialen Umfeld

V. Die Verantwortlichkeit von MitarbeiterInnen in Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche 1. Strafbare Beteiligung an sexuellen Handlungen 2. Kontakt mit Sexualdelinquenz – „selbsternannte Aufklärer“ ?

1. Strafbare Beteiligung an sexuellen Handlungen - § 171 StGB: gröbliche Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht - Teilnahme durch Unterlassen Problem: Verletzung einer Garantenpflicht - § 180 Abs. 1 StGB: Vorschubleisten

2. Kontakt mit Sexualdelinquenz – „selbsternannte Aufklärer“ 2. Kontakt mit Sexualdelinquenz – „selbsternannte Aufklärer“ ? keine Kompetenz für die Aufklärung und Strafverfolgung von Sexualdelikten! Problem: Kognitive Verzerrungen durch wiederholte Befragungen und Suggestiveffekte machen die Aussagen von kindlichen und jugendlichen Zeugen wertlos.

Ein warnendes Beispiel: Die „Wormser Prozesse“ Im Jahr 1993 ordnete das Jugendamt aufgrund gravierender ärztlicher Befunde sowie Vorwürfen aus dem Umfeld der betroffenen Kinder regelmäßige ärztliche Kontrollen an und empfahl die Kontaktaufnahme zur Beratungsstelle Wildwasser. Eine Mitarbeiterin ging u.a. aufgrund von Spielen mit anatomischen Puppen, die diagnostisch bei Verdachtsfällen zu sexuellem Missbrauch als Kommunikationsmittel dienen, oder später als verhörähnlich bewerteten Befragungen der Kinder davon aus, Hinweise auf den sexuellen Missbrauch von 25 Erwachsenen an 16 Kindern gefunden zu haben. Im Zusammenspiel mit unseriös bewertenden Kinderärzten, unprofessionell gewürdigten psychologischen Gutachten und einer unkritisch agierenden Justiz wurden 25 Personen unter dem Tatverdacht des sexuellen Missbrauchs von 16 Kindern festgenommen. Diese Verfahren endeten im Jahr 1997 mit dem Freispruch aller Angeklagten endeten. Trotzdem waren die Angeklagten anschließend sozial und finanziell ruiniert. Die meisten der betroffenen – und schwer traumatisierten – Kinder kehrten niemehr in ihre Familien zurück.

Was tun. Ambivalenz zwischen Schutzauftrag Was tun? Ambivalenz zwischen Schutzauftrag → Kindeswohl gebietet Schutz vor weiterem Missbrauch und Gefahr unberechtigter Verdächtigungen bei fehlender Kompetenz Aufgabe der Einrichtung ist Schutz, nicht Strafverfolgung! Klare Rollentrennung ist wichtig!

Grundsätze: 1. Jede Beobachtung und Maßnahme muss dokumentiert werden Grundsätze: 1. Jede Beobachtung und Maßnahme muss dokumentiert werden! 2. Es gibt kein eindeutiges Missbrauchssyndrom. 3. Hysterie schadet – Ruhe bewahren! 4. Beobachtungen und Informationen mit KollegInnen teilen – absprechen. 5. Wenn Sie meinen, mit dem Kind stimmt etwas nicht, dann holen Sie sich externe Beratung. 6. Netzwerke bilden. 7. Autonomie der Kinder fördern.