Musikgeschichte der europäischen Neuzeit

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Musikgeschichte der europäischen Neuzeit Repertorium zur Vorlesung

Weltliche Formen Beispiele für Chanson und Madrigal

Überblick A. Chanson 1420-1520 Dufay (1397-1470) Ockeghem (um 1420-1497) Josquin (um 1450-1521) B. Madrigal [1530]-1610 Marenzio (um 1533-1599) Monteverdi (1567-1643) Gesualdo (1566-1613)

A. Chanson 1420-1520 Definition Mit dem Frz. Begriff „Chanson“ (wörtl. „Lied“) ist in unserem Zusammenhang der mehrstimmige Liedsatz des 15. u. 16. Jh. mit volkssprachlichem, weltlichen Inhalt gemeint. Ein festes Formschema wird mit dem Begriff nicht verbunden.

A. Chanson 1420-1520 Die Chanson des 15. Jh. setzt den sog. „Kantilenensatz“ des 14. Jahrhunderts fort Dieser ist greifbar etwa in den Balladen, Rondeaus und Virelais von Guillaume de Machaut bzw. Adam de la Hales Wie der Terminus „Kantilenensatz“ bereits verrät, besitzt dieser Satztyp eine sehr sangliche, liedhaft Oberstimme

A. Chanson 1420-1520 Zum liedhaften Discantus treten ein Tenor und vielfach ein Contratenor als Füllstimme, ggf. auch noch weitere Stimmen Dieser zweistimmige Gerüstsatz aus Discant und Tenor mit Contratenor als Füllstimme wird in der Generation Dufay-Binchois zum herrschenden Satztyp Selbstverständlich kann ein weiterer Contratenor addiert werden

Beispiel Chansonsatz Guillaume Dufay Se la face ay pale A. Chanson 1420-1520 Beispiel Chansonsatz Guillaume Dufay Se la face ay pale

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Dufays Chanson ist im bereits beschriebenen dreistimmigen Satz aus Discant und Tenor mit zugefügtem Contratenor als Füllstimme komponiert, dem sog. „Chansonsatz“ Die Verwendung des Chansonsatzes wird jedoch nicht auf die weltliche Musik beschränkt, sie findet sich auch in geistlicher Musik, vgl. die Bicinien von Nuper rosarum flores

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Satztechnische besteht der Chansonsatz also aus einem zweistimmigen konsonanten Gerüstsatz, der in dieser Form auch weitgehend (Mens. 3!) für sich stehen könnte:

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Der Contratenor nimmt die „satztechnisch freien Plätze“ ein und besitzt daher eine sehr sprunghafte, unsangliche Stimmführung. Er wurde instrumental ausgeführt, wie in den meisten Fällen der Tenor wohl auch.

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Die drei Stimmen in Kombination:

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Der Text der Chanson besteht aus zehn Zeilen mit dem Reimmuster a b a b b c c d c d Die letzte Zeile „Sans elle ne puis“ bildet einen Refrain Der Text folgt damit der klassischen Balladenform: Stollen+Stollen | Abgesang + Refrain

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale A Se la face ay pale a Stollen La cause est amer, b A C‘est la principale, a Stollen Et tant m‘est amer b B Amer, qu‘en la mer b Abgesang Me voudroye voir; c Or, scet bien de voir; c La belle a qui suis d Que nul bien avoir c R Sans elle ne puis. d Refrain

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Die klassische Form der Balladenvertonung wäre eine musikalische AAB-Form Nach David Fallows hat sich Dufay in Se la face ay pale jedoch für eine „through-composed stanza“ entschieden (Dufay, rev. Edition, London 1987, S. 195) Selbst wenn man diesem Urteil im Großen und Ganzen zustimmen kann, finden sich bei Dufay doch Ansätze zu Wiederholungsformen

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale So bilden die ersten vier Verse zwar keine zwei Stollen aus, deuten sie jedoch an: 1 homophon, 2 Silben/Mens.Colorierung+(Kadenz) 2 Beschleunigung 4 Silben/Mens.+Haltepunkt 3 homophon, 2 Silben/Mens.Colorierung+Kadenz 4 Beschleunigung 4 Silben/Mens.+Haltepunkt Auffällig sind die Kadenzen nach V.1 (unvollst.) und V.3, übliche Kadenzorte wären V. 3 und V. 4 gewesen

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Die fehlenden Kadenzen nach den VV. 2 und 4 öffnen diese zu den Folgeversen hin. Dennoch wird V. 3 mit seinem Hochton sowie dem aus V. 1 bekannten Brevis-Semibrevis-Rhythmus als Neueinsatz und Rekurs auf V. 1 wahrgenommen; trotz fehlender Kadenz zuvor. Vereinheitlichend wirkt zudem der Hochton e‘‘ in der jeweils 2. Mensur (Mens. 2 und 8).

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Die Verse 5-7 hebt Dufay von den vorangehenden homophon vertonten Versen durch eine imitatorische Struktur ab. Die Imitation ist jedoch nicht konsequent durchgehalten. Konsequente Imitation findet sich nur bei „Amer“ (die ersten vier Töne) und bei „Me voudroye voir“, jeweils im Oktavabstand

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Diesen Mittelteil hebt Dufay durch eine g-Kadenz in Mens 17f mit Generalpause im Tenor und Discant von den Versen 8ff ab. Mit V. 8 beginnt deutlich ein neuer Formteil: - Der Discant beginnt auf dem Hochton e‘‘, der im Mittelteil vermieden wurde - Der Rhythmus Brevis-Semibrevis sowie die - homophone Gestaltung erinnert klar an den Anfangsvers bzw. V. 3

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale So dürfte es überzeugend sein, von einem dreiteiligen Aufbau A[A‘]Ba auszugehen, der sich an der AAB-Form der Balladen Anleihen nimmt: A a b A‘ a‘ b‘ B b c c a d c d + instr. Nachspiel

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Dufay weicht dieses relativ klare Formschema jedoch v.a. an zwei Stellen auf: Die vom Discant angedeutete h-Kadenz in Mens. 3f wird nicht vollzogen, sie wäre nur als phrygische Kadenz möglich. H ist zu dieser Zeit kein Kadenzton. Es liegt nahe, dass Dufay durch diese Anomalie das „Erbleichen“ („pale“) darstellen will, unter bewusster Schwächung der formalen Kohärenz.

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Hypothetische Version mit korrekter h-Kadenz: Original:

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale - V. 4 wird durch eine Generalpause von den vorangehenden Versen abgetrennt und direkt an V. 5 angeschlossen. Dies lässt sich einerseits durch das Enjambement in Str. I (anders II & III) begründen, zudem durch das Wortspiel von „amer“ als Adjektiv „bitter“ und Verb „lieben“. Auch dies geht zu Lasten der formalen Kohärenz.

A. Chanson 1420-1520 Dufay, Se la face ay pale Dufay spielt folglich in Se la face ay pale mit der musikalischen Formtradition der Ballade. Aus formal-musikalischen Gesichtspunkten entwickelt er eine neue Kombination zwischen „through-composed stanza“ (Fallows) und einer annähernd dreiteiligen Form. Dies unter besonderer Berücksichtigung des Textes der I. Strophe.

Beispiel Imitativer Satz Johannes Ockeghem S‘elle m‘amera – Petite camusete

A. Chanson 1420-1520 Ockeghem, S‘elle m‘amera Ockeghems Chanson folgt rein formal dem Rondeau -> Vorlesung In satztechnischer Hinsicht ist die konsequent durchgeführte Imitation von Bedeutung. So exponiert der Discant zu Beginn einen Soggetto e‘-e‘-a-e‘-f‘-e‘[-c‘]-d‘-c‘, der im Einklang, Unterquint und Unteroktav in allen Stimmen durchgeführt wird. Nur die unterschiedliche Deklamation wird angepasst.

A. Chanson 1420-1520 Ockeghem, S‘elle m‘amera Dies deshalb, weil der Discant einen eigenen Text in Rondeauform vorträgt, der von Contra, Tenor und Tenor II abweicht. Der folgende Soggetto „A la mort“ wird nur noch im Contra und in den Tenores weitgehend in gleicher Gestalt durchgeführt, dabei jedoch der Quint-Oktav-Abstand der Imitation eingehalten.

A. Chanson 1420-1520 Ockeghem, S‘elle m‘amera Der Bassus setzt jedoch – wie zu Anfang – verspätet in Mens. 11 ein, der Discant-Soggetto in Mens. 8ff wird so coloriert, dass er nur noch angedeutet ist. Beim folgenden Soggetto „Robin et Marion“ ab Mens. 14 wird nun das typische Quint-Oktav-Verhältnis in der Imitation aufgegeben.

A. Chanson 1420-1520 Ockeghem, S‘elle m‘amera Neben dem freien Umgang mit der Imitation ist die Verschleierung der Abschnittsbildung bzw. der Kadenzen auffällig: Die d-Kadenz in Mens. 9f zwischen Contra und Tenor II wird vom Discant und Tenor I übersungen Deutlicher ist die a-Kadenz in Mens. 13f Die Strophenenden von Str. II und III in Mens. 26ff müssen hingegen ganz auf Kadenzen verzichten, in Str. I, IV u. V gehen die Abschnitte hier fließend ineinander über.

Beispiel Verdichteter Kontrapunkt Josquin Plaine de dueil

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Plaine de dueil Der fünfzeilige Text der Chanson hat die Reimform a a b b a: 1 Plaine de dueil et de mélancolye a 2 Voyant mon mal qui tousiours multiplye,a 3 Et qu‘en la fin plus ne le puis porter b 4 Contraincte suis pour moy reconforter, b 5 Me rendre‘à toy, le surplus de ma vie. a

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Plaine de dueil Josquin geht auf den tristen Text ein, indem er den phrygischen Modus mit seinem Lamento-Charakter wählt. Sehr zurückgenommen ist auch der diastematische Duktus: Keine kantilenenartige Bögen oder Melismen Statt dessen herrschen kleine Motivpartikel vor Diese enthalten vielfach Tonrepetitionen und werden zudem selbst repetiert

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Plaine de dueil Die VV. 1 & 2 werden mit derselben Motivik aus einem einfachen 4 Semibreven-Motiv und einem „Zick-Zack“-Motiv vertont. Die VV. 3 & 4 kehren das Semibreven-Motiv um: Quartfall anstatt Terzsprung. Auch das zweite Motiv „plus ne...“ hat fallende Tendenz. Der Schlussvers beginnt mit ebenfalls fallenden Varianten des 4-Semibreven-Motivs (Sekund, Quart oder Quint), das zudem durch Punktierung rhythmisch geschärft ist. Der letzte Versteil „le surplus de ma vie“ nimmt das Zick-Zack-Motiv der VV. 1 & 2 wieder auf.

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Plaine de dueil So entsteht eine dichte sehr dichte kontrapunktische Textur, ein sehr gedecktes „Klangband“. Eine Kadenz tritt erstmals in Mens. 30f sinnfällig zum Text „Et qu‘en la fin plus ne le puis porter“ auf. So gehen in dieser Chanson Materialökonomie und Textausdeutung Hand in Hand.

Beispiel Homophone Chanson Josquin Mille regretz

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Mille regretz Um die Wende zum 16. Jh. verändert sich der Chanson-Stil. Zwar vertonen Willaert oder Gombert ebenfalls Chansons bzw. Madrigale im dichten kontrapunktischen Satz, zugleich entsteht jedoch auch eine Form mit: Vier oder mehr homophonen Stimmen, die den Text syllabisch deklamieren.

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Mille regretz Beispielhaft kann für diesen Stil Josquins Chanson Mille regretz stehen. Die vier Stimmen sind durchweg syllabisch, bisweilen sogar homophon gehalten. Der Superius ist liedhaft gestaltet. Wieder komponiert Josquin das Lamento in Deuterus, als in der phryigschen Tonart.

A. Chanson 1420-1520 Josquin, Mille regretz Als Element der Textausdeutung gehen die Kadenzen bei „d‘eslonger“ („entfliehen“) ins Leere. Der motivische Gestus ist abwärts gerichtet. Die buchstäbliche Schlussaussage wird in mehrfachen, suggestiven Repetitionen mit gleicher Motivik vorgetragen.

B. Madrigal [1530]-1610 Definition Der Terminus „Madrigal“ bezeichnet zunächst eine lyrische Form, nämlich eine einzelne mäßig lange Kanzonenstrophe, die aus frei alternierenden sieben- und elfsilbigen jambischen Verszeilen besteht. Aufbau und Reimschema sind frei. In der Regel handelt es sich um Liebesgedichte.

B. Madrigal [1530]-1610 Bedeutende Dichter waren: Francesco Petrarca (1304-1374) Ludovico Ariosto (1474-1533; z.B. Auszüge aus Orlando furioso) Torquato Tasso (1544-1595; Auszüge aus Gerusalemme liberata oder Aminta) Giovanni Battista Guarini (1538-1612; Il pastor fido)

B. Madrigal [1530]-1610 Bedeutende Komponisten bis 1580 waren u.a. Adrian Willaert (1490-1562) Philippe Verdelot (nach 1480-1562) Cipriano de Rore (1515/16-1565) Andrea Gabrieli (um 1510-1586) Orlando di Lasso (1532-1594)

Madrigal I Luca Marenzio Crudele, acerba, inessorabil morte IX Madrigal I Luca Marenzio Crudele, acerba, inessorabil morte IX. Madrigalbuch (1599)

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba In seinem IX. Madrigalbuch von 1599 vertont Marenzio ein fünfstimmiges Madrigal über einen Text aus Petrarcas Canzoniere. Petrarca Sechszeiler besteht aus den üblichen Elfsilbern (endecasillabo) und hat ein freies Reimschema, wobei sich die VV. 2 & 3 sowie 5 & 6 reimen.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Petrarcas Text enthält die üblichen Signalwörter: Crudel – grausam Acerbo – bitter Pianto – Weinen Gravi Sospir – schwere Seufzer Duro Martir – hartes Martyrium Etc.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Marenzio deutet den Text bzw. seine Klage-Topoi mit bewussten Verstößen gegen die Gesetze des Kontrapunktes aus (Madrigalismen): Mens. 1 „Crudele“: unabgesicherter Sextklang, so auch in Mens. 2 und 3f u.ö. Mens. 9: d-Kadenz: Der Bassus springt frei in die Dissonanz e gegen d, im Gegensatz zum Quintus. Zugleich verminderte Quint b-e im Bassus.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Mens. 14f: Das e‘ des Tenors bildet zwar mit dem d‘‘ des Cantus eine vorbereitete Dissonanz, aber auch mit dem fis des Bassus. Die Auflösung erfolgt unerwartet in den Quart-Sextklang fis-d-h. Umgehend dissonieren wieder Bassus und Tenor mit der verm. Quint gis-d.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Mens. 16: Zerstörung der Kadenz: im Altus wird der Kadenzton g nicht erreicht, dafür erklingt er im Cantus-Soggetto. Zudem macht der durchgehaltene Quartvorhalt des Tenors die Kadenz vollends zunichte. Typisch für die Vertonung des Wortes „pianto“ („Weinen“) in Mens. 19 sind die Quart-Sext-Akkorde.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Bemerkenswert sind auch die Mens. 21f: Auf den dritten Schlag bereiten der Cantus mit c‘‘ und der Bassus mit es eine d-mi-Kadenz vor (c‘‘ geht zum d‘‘, das es zum d; die Mittelstimmen zu a und f). Dann nimmt der Cantus das d‘‘ vorweg, es wird somit Dissonanz, die zum d hin aufgelöst werden müsste, allerdings als großer Sekundschritt nach unten. Diesen holt Marenzio mit dem Wechsel vom es zum e in Mens. 22 gegen die Regel nach.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Vergleichbares folgt in den Mens. 24f: Der Bassus springt mit cis in die Dissonanz zum h des Tenors. Das Bassus-cis wird Leitton zum d, die Tenorklausel bietet der Altus. Diese Kadenz wird jedoch nach g umgebogen, mit Superius-Klausel im Quintus und der Tenorklausel im Cantus. In beiden Fällen werden Kadenzen verunklart: Textausdeutung von „obscurie“.

B. Madrigal [1530]-1610 Luca Marenzio, Crudele, acerba Typisch textausdeutend sind auch die Terzen bei „sospir“ („Seufzer“) in Mens. 32. Marenzio verstößt zwar merklich und bisweilen radikal gegen die Regeln des Kontrapunktes, doch ereignet sich dies innerhalb des kontrapunktischen Verlaufs. Die folgende Generation wird plakativer verfahren.

Madrigal II Seconda prattica Claudio Monteverdi Anima mia perdona IV Madrigal II Seconda prattica Claudio Monteverdi Anima mia perdona IV. Madrigalbuch (1603)

B. Madrigal [1530]-1610 Claudio Monteverdi, Anima mia Monteverdi komponiert sein Madrigal im nunmehr üblichen fünfstimmigen Satz über einen Ausschnitt aus Guarinis Il pastor fido. Gegenüber dem noch stark kontrapunktisch komponierten Madrigal Marenzios nimmt Monteverdi eine sprachnähere, weithin syllabische Haltung ein. Kontrapunktik findet sich betont erst im Schlussteil der Secunda pars.

B. Madrigal [1530]-1610 Claudio Monteverdi, Anima mia Auch die Madrigalismen sind bei Monteverdi gegenüber Marenzio zunächst deutlich zurückgenommen. Lediglich in Mens. 5 findet sich eine übermäßige Quinte e-b zwischen Canto und Tenore bei „cruda“ („grausam“), die Analogstelle in Mens. 9 ist in Quart-Sext-Akkorden vertont.

B. Madrigal [1530]-1610 Claudio Monteverdi, Anima mia Plakativer werden die textaudeutenden Kontrapunktverstöße am Ende der Secunda pars. Hier (S. 32, letztes System) setzt, setzt der Altus mit seinem es‘ als uneingeführter, freier Dissonanz zum d‘ des Tenors ein („E quelle pen‘e quel dolor“ / „und der Schmerz und der Kummer …“).

B. Madrigal [1530]-1610 Claudio Monteverdi, Anima mia Das d‘‘ des Quintus (S. 33, 1. System) dissoniert mit dem es‘‘ des Cantus und dem c des Tenors („tormenti“ / „Qualen“) Im 2. System S. 33 setzt der Bassus mit a mitten in die bereits eingeleitete g-Kadenz ein (Altus!), der Cantus geht zum b‘ anstatt zur Finalis g‘ und bildet damit noch eine unaufgelöste Dissonanz zum Bassus, der Tenor setzt an selber Stelle mit b als unvorbereiteter Dissonanz ein. Etc.

B. Madrigal [1530]-1610 Claudio Monteverdi, Anima mia Monteverdis Regelverstöße sind keineswegs „spektakulärer“ als diejenigen Marenzios, eher das Gegenteil ist der Fall. Aber sie sind plakativer. Dies hat Monteverdi die scharfe Kritik des Musiktheoretikers Artusi eingebracht -> Vorlesung, Stichwort „Seconda prattica“.

Madrigal III Manierismus Carlo Gesualdo Se la mia morte brami VI Madrigal III Manierismus Carlo Gesualdo Se la mia morte brami VI. Madrigalbuch (1611)

B. Madrigal [1530]-1610 Carlo Gesualdo, Se la mia morte Auch Carlo Gesualdos Madrigale bleiben eher hinter Marenzio zurück, sind aber in ihrer Gestaltung plakativer, noch plakativer als diejenigen Monteverdis. Hart und verstörend wirkt in erster Linie die von Gesualdo permanent angewandte Chromatik. Obgleich der Anfangssoggetto an sich keine Regelverstöße enthält, wirkt er – zumal im Bicinium – ziellos und dem g-Modus unangemessen.

B. Madrigal [1530]-1610 Carlo Gesualdo, Se la mia morte Klassische Regelverstöße sind der Querstand von Mens. 4 auf 5 es‘‘ im Cantus gegen e im Bassus (wieder durch Chromatik erreicht), dazu das frei einsetzende dissonierende b‘ des Quintus (Textausdeutung: „crudel“ / „grausam“). In Mens. 6f wird die Kadenz abgebrochen, die Dissonanz d‘ gegen e‘ in Altus und Quintus durch das cis‘ im Altus aufgelöst, das sich aber seinerseits nach d‘ auflösen müsste, was nicht geschieht (Textausdeutung: „moro“ / „ich sterbe“).

B. Madrigal [1530]-1610 Carlo Gesualdo, Se la mia morte Im weiteren geht Gesualdo nicht über die dargestellten Madrigalismen hinaus. Neben seiner Vita waren es daher vor allem die Plakativität und Manieriertheit seiner Madrigalismen, auf denen Gesualdos bemerkenswerte Wirkung beruht.