Von der Finanzkrise zur globalen Wirtschaftskrise – was tun? Stephan Schulmeister Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum 17. Februar 2009
„Gängige“ Erklärung der Krise „Made in USA“ Fahrlässige Kreditvergabe an Mittellose Gefördert durch Immobilienpreise und Niedrigstzinsen „Fäulnis“ beginnt durch Rückgang der Immobilienpreise und Zinsanstieg Globale Ausbreitung durch „Ramschpapiere“ Therapie: Tumoren entfernen Rasche Bluttransfusionen = Liquidität Nachhaltige Rehabilitation = Zufuhr von Eigenkapital
Alternativansatz „Krisenpotential“ langfristig „aufgebaut/gestaut“ Durch „business as usual“ nach dem Motto: „Lassen Sie ihr Geld arbeiten“ > Ausbreitung „im Gleichschritt“ mit Neoliberalismus Aufbau, Ausbruch, Ausbreitung: Prozesscharakter Krise = Ende der Sackgasse des Finanzkapitalismus
Komponenten des „Krisenaufbaus“ I 1) Immobilienboom in USA als „Absturzpotential“ & niedrige Zinsen & Leverage der Banken 2) Globaler Vertrieb der „Ramschpapiere“ 3) Aktienboom als weiteres „Absturzpotential“ 4) US-Zinsanstieg seit 2004 & Rückgang der Immobilienpreise seit 2007 > Subprime crisis > globale Ausbreitung
Komponenten des „Krisenaufbaus“ II 5) Banken & Hedge Funds setzte auf Rohstoffderivate > Rohstoffpreisboom > drohende Stagflation 6) Asymmetrische Geldpolitik > Euroboom 7) Konjunkturverschlechterung > Preisverfall bei Rohstoffen, Immobilien, Aktien > Bankenkrisen 8) Beschleunigung des Verfalls von Aktienkursen und Rohstoffpreisen durch Derivatspekulation > radikale Vermögensentwertung
Wahr genommen: Komponenten 1, 4 und 8 = Wahrnehmung der Krise Wahr genommen: Komponenten 1, 4 und 8 = Immobilien US-Zinspolitik Subprimes Bankenkrise Politik als „Sündenbock“: Greenspan, Staat hätte regulieren müssen…… Dem entspricht die Therapie: Liquidität für Interbankmarkt Eigenkapitalzufuhr
Ausblendete Krisenursachen Handelsdynamik und Preisbildung auf den „freiesten“ Märkten Akkumulationsverhalten der Unternehmen Grundproblematik der kapitalgedeckten Altersvorsorge Finanzsektor als „Spekulationskünstler“
Aktienkurse in Deutschland, Großbritannien und den USA
Aktienkurse in Österreich und Deutschland
Rohstoffpreise
Spekulationssystem: Erdölfutures
Spekulationssysteme: Dollar/Euro-Kurs Daily data 1999- 2005 5-minutes data, June 6-13, 2003 Quelle: Wifo-Datenbank.
Dollarkurs und Ölpreis Wifo-Datenbank.
Handelsvolumen auf den globalen Finanzmärkten Quelle: Wifo-Datenbank.
Akkumulation der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften Quelle: Wifo-Datenbank.
Vermögen der privaten Haushalte in den USA Quelle: Q: Federal Reserve Board, OEF. 1) Aktien, Investmentfonds, Pensionsfonds.
Langfristige Entwicklung in (West)Europa Quelle: Wifo-Datenbank.
Gedankenexperiment Wenn man als Krisenursachen berücksichtigte: Preisbildung auf den „freiesten“ Märkten „Lassen wir unser Geld arbeiten“ > Von Unternehmen bis zur Altersvorsorge und „Tilgungsträger“ Zinserhöhung zur Inflationsbekämpfung Finanzsektor als Alchimist
(Hypothetische) Folgen Kognitive Dissonanzen der Eliten Irrtümer eingestehen: Freie Finanz(derivat)märkte Regelbindung der Politik Zinspolitik Kapitalgedeckte Altersvorsorge Verlust der Orientierung in Wissenschaft, Medien und Politik Eliten (ver)lernen langsam Krise wird (auch deshalb) lang dauern
Arbeit, Realkapital und Finanzkapital kein Sozialstaat keine Gewerkschaften schwacher Sozialstaat schwache Gewerk-schaften Starker Sozialstaat starke Gewerkschaften Politische Hauptinteressen Mächtige Notenbank Restriktive Geldpolitik Privatisierung der Sozialversicherung Konjunkturstabilisierung und Wachstumspolitik: Vollbeschäftigungspolitik soziale Sicherheit Bildung Daseinsvorsorge Ökonomisches Interesse am Staat Realkapital Arbeit oder Finanzkapital Potentielle Partner für Interessenbündnis Zinssteigerung Reale Aufwertung Lohnsteigerung Beispiele für Interessenkonflikte Hohe Rendite auf Finanzveranlagung und –spekulation: - hohe Zinsen und Wechselkurse - Instabile Finanzmärkte Hohe Rendite auf Realveranlagung: - niedrige Zinsen und Wechselkurse - Stabile Finanzmärkte Vollbeschäftigung Reallohnsteigerungen Ökonomische Interessen Finanzkapital Arbeit
Realkapitalismus und Finanzkapitalismus Implizites Bündnis Arbeit & Realkapital Realkapital & Finanzkapital Unternehmer/Gewerkschaften Korporatismus Konflikt Verhältnis Staat/Markt Komplementär Antagonistisch Wirtschaftspolitische Ziele Viele: von Vollbeschäftigung bis zur Einkommensverteilung Wenige: Geldwertstabilität, „solide“ Staatsfinanzen, sinkende Staatsquote Wirtschaftspolitisches „Machtzentrum“ Regierungen Notenbanken Wirtschaftswissenschaftliches Modell Keynesianismus Monetarismus/Neoliberalismus Diagnose/Therapie Systemisch Symptomorientiert Finanzielle Rahmenbedingungen Zinssatz<Wachstumsrate, „ruhige“ Finanzmärkte Zinssatz>Wachstumsrate, „boom“ und „bust“ auf Finanzmärkten Gewinnstreben fokussiert auf Realwirtschaft (Positivsummenspiel) Finanzwirtschaft (Nullsummenspiel) Wirtschaftsmodell Soziale und regulierte Marktwirtschaft („Reine“) Marktwirtschaft Gesellschaftspolitische Ziele Chancengleichheit, individuelle Entfaltung, sozialer Zusammenhalt Rahmenbedingungen schaffen für: „Jeder ist seines Glückes Schmied“
Ausblick aus der Talsohle Finanzschmelze = Ende einer Illusion Geld arbeitet nicht Fehlsignale der „freiesten“ Märkte > Neoliberalismus verliert an Attraktivität Politisch hat er seine Schuldigkeit getan > Sozialstaat und Gewerkschaften geschwächt Schritte zu einem neuen Interessebündnis Arbeit/Realkapital Langer Übergang wegen „Zauberlehrling“
Die nächste Etappe Konsum sinkt wegen Entwertung von Tilgungsträgern, Pensionen, Finanzvermögen Investitionen sinken wegen Finanzschmelze, Exporten, Wirtschaftserwartungen Welthandel sinkt wegen USA, Rohstoffexporteuren, Osteuropa > Alle privaten Sektoren versuchen mehr zu sparen > Globale Wirtschaftskrise > Staat muss ent-sparen und EZB muss Zinsen senken
Maßnahmen der Wirtschaftspolitik I EZB: Senkung der Eurozinsen auf 0% bis 1% > Umverteilung im Ausmaß von ca. 3,5% des BIP von Gläubigern zu Schuldnern Regierungen: Gezielte Defizitausweitung Kriterien: Schnell, nachfragewirksam, ökologisch und sozial nachhaltig Keine generelle (Lohn)Steuersenkung Unteres Drittel entlasten (SV-Beiträge, Negativsteuer)
Maßnahmen der Wirtschaftspolitik II Teilsubventionierte Kurzarbeit Nachhaltige und innovative Arbeitszeitverkürzung Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung Bedarfssorientierte Grundsicherung Partielle Entschädigung von „Häuslbauer“ und (künftigen) Pensionisten der 2. und 3. Säule „Rückbau“ des kapitalgedeckten Pensionssystems Ausweitung der Vorschulerziehung Beschäftigung arbeitsloser Lehrer
Maßnahmen der Wirtschaftspolitik III Investitionen in die Infrastruktur vorziehen, bes. auf Ebene der Länder und Gemeinden > Finanzierung Umweltinvestitionen als die Chance auch zur Bewältigung der Folgen der Finanzkrise Thermische Gebäudesanierung nach „Generalstabsplan“ Sonstige Umweltinvestitionen (Heizungen, Kollektoren, Photovoltaik, Verkehr) Umstieg auf „Öko-Autos“ durch Steueranreize und Regulierung Teilverstaatlichung von Banken als Chance Investitionen in alle Bildungseinrichtungen
Langfristige globale Strategien Koordinierte Geldpolitik: Zins < Wachstumsrate Stabilitätsbänder“ für Wechselkurse zwischen Dollar, Euro, Yen, Renminbi „Rückführung“ der Finanzderivate bis zum Verbot (der „Massenvernichtungswaffen“) Notierung von Rohstoffen in „Währungsbündel“ Koordinierter Klimaschutz Weltweite „Minimumsicherung“ > „Global Marshall-Plan“
Langfristige europäische Strategien EZB: Leitzins um 3% unter Wachstumsrate Generelle Finanztransaktionssteuer Langfristige Rohstoffpreisabkommen Insbesondere für Rohöl (im Hinblick auf Erschöpfbarkeit, Klimawandel, Dollardominanz) Europaweites Umweltschutzprogramm Transeuropäische Netze Abbau atypischer Beschäftigungsformen Sozialstaatlichkeit > Europäisches Modell
Langfristige österreichische Strategien Weitere Spezialisierung auf Umwelttechnologien Ökologische „Vorzeigeprojekte“: Großstadtgrätzel mit Gärten, „Ent-Automobilisierung“…. Innovativer öffentlicher Nah- und Fernverkehr Integration und Ausbau sozialer Dienste Ausbau der Vorschulerziehung Integration als Chance Massive Investitionen in Bildungseinrichtungen