Polyzentralität – ein Leitbild für die Stadtentwicklung? Michael Wegener Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund, 2. September 2015
Polyzentralität 2
Polyzentralität Das Ziel der ausgewogenen polyzentrischen Entwick- lung des europäischen Städtesystems wurde zuerst im Europäischen Raumentwicklungskonzept (EUREK) formuliert. Das Interesse an polyzentrischer Entwicklung beruhte auf der im EUREK geäußerten Hypothese, dass poly- zentrische Städtesysteme effizienter, gerechter und nachhaltiger sind als monozentrische Stadtsysteme oder disperse Siedlungen. Das Ziel der polyzentrischen Entwicklung ist auch in der Territorialen Agenda der EU (2007) beibehalten.
Polyzentralität Europäische Traube (Kunzmann, 1991)
Polyzentralität Bis heute ist das Prinzip der Polyzentralität jedoch ohne eine präzise operationale Definition geblieben. Insbesondere sind folgende Fragen unbeantwortet: - Was ist polyzentrische Entwicklung? - Gibt es zur Zeit polyzentrische Entwicklung? - Warum gibt es polyzentrische Entwicklung? - Ist polyzentrische Entwicklung gut oder schlecht? - Trägt polyzentrische Entwicklung zu den EU-Zielen Wachstum, Kohäsion und Nachhaltigkeit bei? - Was sollte getan werden? - Welche Maßnahmen stehen zur Verfügung? - Wie können sie umgesetzt werden?
Polyzentralität Polyzentralität kann auf europäischer, nationaler, regiona- ler und intraregionaler Ebene betrachtet werden. Die Vorteile des polyzentrischen Städtesystems auf europä- ischer und nationaler Ebene sind unbestritten. Der Nachweis der Vorteile der polyzentrischen Siedlungs- struktur innerhalb von Stadtregionen steht noch aus. Ist Polyzentralität ein Leitbild für die Stadtentwicklung?
Messung von Polyzentralität 7
Arten der Polyzentralität Bei der Messung von Polyzentralität gibt es grundsätzlich drei Ansätze: - Morphologische Polyzentralität berücksichtigt die Größe und Lage von Siedlungsschwerpunkten. - Funktionale Polyzentralität berücksichtigt die Vernetzung zwischen Siedlungsschwerpunkten. - Integrierte Polyzentralität berücksichtigt morphologische und funktionale Polyzentralität.
Morphologische Polyzentralität Rank-Size Rule (Zipf, 1949): Wenn Städte eines Landes nach Größe sortiert werden, sind ihre Größen umgekehrt proportional zu ihrem Rang. Die zweitgrößte Stadt ist halb so groß wie die größte Stadt, die drittgrößte Stadt ein Drittel so groß, die viertgrößte ein Viertel so groß usw. In einigen Ländern ist die Verteilung jedoch flacher oder steiler. Deshalb ist die Neigung der Ranggrößenvertei- lung ein Maß für die morphologische Polyzentralität. Weitere Maße für morphologische Polyzentralität sind: - Distanz zwischen Einwohnern oder Arbeitsplätzen - Räumliche Autokorrelation (u.a. Gini, Moran's I, ...) Seit einiger Zeit werden Fernerkundungsdaten zur Berech- nung dieser Maße verwendet.
Morphologische Polyzentralität Ranggrößen- verteilung der Einwohner der Städte in Frankreich 1831-1975 Quelle: Pumain (1982)
Morphologische Polyzentralität Ranggrößen- verteilung der Einwohner der Städte in Deutschland 1815-1970 Quelle: Blotevogel (1982)
Morphologische Polyzentralität Am Centre for Advanced Spatial Analysis (CASA) des University College London wurde eine Methode entwickelt, mit Hilfe des Abstands von Straßenkreuzungen Städte- Cluster zu identifizieren. In einem iterativen Verfahren wurden Straßenkreuzungen zu Städte-Clustern zusammengefasst, die weniger als d Meter voneinander entfernt sind. Die Wahl des Abstands d bestimmt die Zahl und Größe der Städte-Cluster.
Morphologische Polyzentralität Städte-Cluster definiert durch den Luftlinien- abstand der Kreuzungen
Funktionale Polyzentralität Am Globalization and World Cities Research Network (GaWC) der Universität Loughborough wurde das Inter- locking Network Model zur Messung funktionaler Poly- zentralität entwickelt. Die Methode schätzt die Vernetzungen zwischen Zweig- büros von Dienstleistungsfirmen mit Hilfe eines Interak- tionsmodells. Die Ausgewogenheit der Vernetzung der Zweigbüros in einer Stadtregion gilt als ein Maß für ihre Polyzentralität. Seit einiger Zeit werden Telekommunikationsdaten zur Schätzung der Interaktionen verwendet.
Integrierte Polyzentralität Im ESPON-Projekt 1.1.1 wurde ein Polyzentralitätsindex vorgeschlagen, der drei morphologische und funktionale Dimensionen der Polyzentralität erfasst: Größe (33%) - Einwohner: keine zu dominante Stadt - BIP: kein zu dominantes Wirtschaftszentrum Lage (33%) - Städte nicht in einem Teil des Landes konzentriert - Einzugsbereiche möglichst gleich groß Vernetzung (33%) - Funktionale Arbeitsteilung zwischen Zentren - Erreichbarkeit auch für mittlere und kleine Städte
Europäische Polyzentralität 16
Europäische Polyzentralität Rang- größen- verteilung Einwohner
Europäische Polyzentralität Einzugsbereiche MEGAs 18
Europäische Polyzentralität Erreichbarkeit v. Einwohner (MEGAs) Erreichbarkeit (Mio) Einwohner (1000)
Europäische Polyzentralität 1981-2031 00 Basisszenario A1 EU-Erweiterung B1/5 TEN Szenarien
Nationale Polyzentralität 21
Nationale Polyzentralität Ranggrößenverteilung Einwohner (FUAs) Deutschland Frankreich Einwohner (1000) Rang Rang
Nationale Polyzentralität Lettland Nationale Polyzentralität Einzugsbereiche FUAs Litauen Großbritannien Dänemark Schweden Niederlande Polen Deutschland Belgien Tschechien Slowakei Frankreich 23 Österreich Ungarn
Nationale Polyzentralität Erreichbarkeit v. Einwohner (FUAs) Frankreich Deutschland Erreichbarkeit (Mio) Einwohner (1000)
Nationale Polyzentralität 1981-2031 EU12 EU15 00 Basisszenario A1 EU-Erweiterung B1/5 TEN Szenarien
Regionale Polyzentralität: Ruhrgebiet 26
Polyzentrisches Ruhrgebiet Quelle: Buchholz, H.J. (1973): Das polyzentrische Ballungsgebiet Ruhr und seine kommunale Neugliederung Geographische Rundschau 25, 8, 297-318
Zentrale Orte im Landesentwicklungsplan Nord-Rhein-Westfalen 1977 Quelle: Nordrhein-Westfalen (1977): Landesentwicklungsplan I/II: Raum und Siedlungsstruktur
Sind polyzentrische Städte energieeffizienter Sind polyzentrische Städte energieeffizienter? Das Ziel der Untersuchung war es, die Auswirkungen der polyzentrischen Siedlungsstruktur im Ruhrgebiet auf die Energieeffizienz zu analysieren. Es gibt bereits mehrere Studien, in denen Städte nach ihrer Polyzentralität und Mobilität verglichen werden. Aber die leiden darunter dass Städte wegen ihrer unterschiedlichen Größe und Verkehrsnetze nicht völlig vergleichbar sind. Deshalb wurden mit dem Teilmodell Verkehr des Modells Ruhrgebiet fiktive Siedlungsstrukturen des Ruhrgebiets auf ihre Polyzentralität und auf die mit ihnen verbundene Mobilität verglichen.
Sind polyzentrische Städte energieeffizienter? In einer ersten Gruppe von Szenarien wurden die Vertei- lungen von Einwohner- und Arbeitsplatzdichte variiert: Stadt Kompakte Zersied- lung
Zoneneinteilung Interne Zonen 53 Gemeinden, 687 Zonen 10 20 km 31
Einwohnerdichte Basisszenario A00/B00 32
Einwohnerdichte zentralisiert A01/B01 33
Einwohnerdichte dezentralisiert A02/B02 34
Arbeitsplatzdichte Basisszenario A00/B00 35
Arbeitsplatzdichte zentralisiert A03/B03 36
Arbeitsplatzdichte dezentralisiert A04/B04 37
Pkw-km je Einwohner und Einwohnerdichteverteilung Zersied- lung Stadt Kompakte Zersied- lung Stadt Kompakte 38
und Anteil Pkw-Fahrten Pkw-km je Einwohner und Anteil Pkw-Fahrten Zersied- lung Stadt Kompakte Zersied- lung Stadt Kompakte 39
Sind polyzentrische Städte energieeffizienter? In einer zweiten Gruppe von Szenarien wurden Einwohner und Arbeitsplätze entsprechend vier verschiedenen Arten von Polyzentralität variiert: • Subzentren: Einwohner und Arbeitsplätze in 228 lokalen Siedlungsschwerpunkten erhöht (A11/B11). • TOD (Transit-Oriented Development): Einwohner an 114 Bahnhöfen wurden erhöht (A12/B12). • Oberzentren: Einwohner und Arbeitsplätze in Dortmund, Bochum, Essen und Duisburg wurden erhöht (A13/B13). • Monozentrisch: Alles Veränderungen von Einwohnern und Arbeitsplätzen finden in Essen statt (A14/B14).
Subzentren A11/B11 41
TOD A12/B12 42
Oberzentren A13/B13 43
Monozentrisch A14/B14 44
Pkw-km je Einwohner und Einwohnerdichteverteilung Stadt Kompakte Stadt Kompakte 45
und Anteil Pkw-Fahrten Pkw-km je Einwohner und Anteil Pkw-Fahrten Stadt Kompakte Stadt Kompakte 46
Schlussfolgerungen 47
Schlussfolgerungen Die Hypothese, dass polyzentrische Städte energieef- fizienter sind als monozentrische Städte, konnte mit der angewandten Methode nicht bestätigt werden: Unter allen Szenarien ist das Szenario mit dem höchsten Grad an Zentralisierung (Verdichtung) das energieeffi- zienteste. Unter allen Szenarien ist das Szenario mit dem höchsten Grad an Dezentralisierung (Zersiedlung) das am wenig- sten energieeffiziente. Die nichträumlichen Maßnahmen (z.B. die Verteuerung des Autoverkehrs) sind wirksamer als die Maßnahmen zur Veränderung der Siedlungsstruktur.