Thomas Fuchs Universität Heidelberg Leiblichkeit und Intersubjektivität. Phänomenologie und Psychopathologie Sommersemester 2016.

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 Präsentation transkript:

Thomas Fuchs Universität Heidelberg Leiblichkeit und Intersubjektivität. Phänomenologie und Psychopathologie Sommersemester 2016

Der interpersonale Raum "Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen." Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen

Ausgangspunkt: Zentralität des Leibes Begriff der Perspektivität Leib als „Nullpunkt“ (Husserl) Dingwahrnehmung und „Appräsentation“

Ausgangspunkt: Zentralität des Leibes -Absoluter Ort, „Selbst-Mittelpunkt“, „Nullpunkt“ (Husserl) -Koppelung von Organismus und Umwelt (J. von Uexküll), „Natürliche Weltanschauung“ (Scheler) -Spezifische leibliche Dispositionen des „Zur-Welt-Seins“ -Abschattung, Verborgenheit des Leibes selbst

Exzentrizität als Aufhebung der Zentralität Helmuth Plessner: „Exzentrische Position“ („Die Stufen des Organischen und der Mensch“, 1928)  „Zentrische Position“ des Tieres Objektivität und Intersubjektivität der Wahrnehmung

Plessner (1928): Nur die besondere Sozialität des Menschen, seine „exzentrische Position“, verschafft ihm die von der Realität, „... die sich offenbaren soll, geforderte Distanz, den Spielraum, in welchem al­lein Wirklichkeit zur Erscheinung kommen kann.“ Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

Scheler (1928): Tiere haben nur eine „Umwelt“, aber keine „Welt“. „Das Tier hat keine ‚Gegenstände‘: es lebt in seine Umwelt ekstatisch hinein, die es gleichsam wie eine Schnecke ihr Haus als Struktur überall hinträgt, wohin es geht – es vermag diese Umwelt nicht zum Gegenstand zu machen.“ Plessner (1928): Nur die besondere Sozialität des Menschen, seine „exzentrische Position“, verschafft ihm die von der Realität, „... die sich offenbaren soll, geforderte Distanz, den Spielraum, in welchem al­lein Wirklichkeit zur Erscheinung kommen kann.“ Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

Gerade die Perspektivität der Wahrnehmung enthält den Verweis auf andere Perspektiven. Der Tisch, den ich dort sehe, ist der Ge­genstand, den gleichzeitig an­dere von anderen Seiten sehen könnten. Husserl: „Hori­zont möglicher eigener und fremder Erfahrung“ oder „offene Intersubjektivität“ Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

Alles was wir wahrnehmen und somit wir handelnd umgehen, ist immer auch das potenziell von anderen Wahrnehmbare oder Handhabbare und damit Teil der gemeinsamen Welt.

Die menschliche Wahrnehmung ist intersubjektiv konstituiert. Die von mir wahrgenommenen Dinge sind zugleich immer auch für andere grundsätz­lich wahrnehmbar und für eine gemeinsame Praxis verfügbar. Durch die implizite Teilnehmerperspektive („wir“-Per- spektive) erhält meine subjek­tive Wahrnehmung ihre prinzipielle Objektivität. Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

“Ob ich diesen Tisch oder diesen Baum oder dieses Stück Mauer allein oder in Gesellschaft betrachte, immer ist der Andere da als eine Schicht konstituierter Bedeutungen, die dem von mir betrach- teten Gegenstand selbst angehören; kurz, als der wirkliche Bürge seiner Gegenständlichkeit. (….) So erscheint jeder Gegenstand – weit davon entfernt, wie bei Kant durch ein einfaches Verhältnis zum Subjekt konstituiert zu werden – in meiner konkreten Erfah- rung als vielwertig, er ist ursprünglich gegeben als Träger der Sys- teme von Verweisungen auf eine unendliche Vielheit von Bewusst- seinsindividuen; bei dem Tische und bei der Mauer entdeckt sich mir der Andere als das, worauf sich der betrachtete Gegenstand fortwährend beruft, und zwar genauso, wie wenn Peter und Paul konkret in Erscheinung treten.“ (Sartre, Das Sein und das Nichts, 314) Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

Interpersonalität und ihre Genese

Genese der Exzentrizität und des interpersonalen Raums in der frühen Kindheit Perspektivenübernahme Selbstbewusstsein Interpersonalität

a) Primäre Intersubjektivität (1. Lebensjahr) Angeborene Fähigkeit zur Ausdrucks- Imitation (Meltzoff & Moore 1989)

a) Primäre Intersubjektivität Proto-Konversationen (Trevarthen 1986) Typische Verhaltensformen: melodische „Ammensprache“, expressive Mimik, Augenkontakt, Begrüßungsreaktion, Affektabstimmung, Interaffektivität

a) Primäre Intersubjektivität Musikalische Qualitäten („crescendo“, „decrescendo“, fließend, weich, explosiv etc.) "Beide Partner kennen die Schritte und die Musik in- und auswendig und können sich daher im Einklang miteinander bewegen (Stern 1979).

Gemeinsame Aufmerksamkeit („joint attention“) Zeigegesten als Ausdruck gemeinsamer Beziehung auf Objekte b) Sekundäre Intersubjektivität (1. – 3. Lebensjahr) S1S1 S2S2 S1S1 S2S2 O Dyadische Interaktion Triadische Interaktion

Echnaton, Nofretete und ihre Kinder (1345 v. Chr.)

Joint Attention Objekt-Triangulierung ermöglicht eine geteilte oder „Wir-Intentionalität“, die sich auch der Wahrnehmung mitteilt.

Zeigen stammt aus unvollständiger Greifbewegung, die von den Erwachsenen als „Bedeutung“ aufgefasst wird Zeigen  Zeichen (indogerm. >deik<, griech. deiknymi, daktylos, lat. dicere, digitus, „digital“) Weitere Gesten (z.B. „nein“, „ja“, ikonisch-darstellende Gesten) als Vorstufen von Sprachgebärden „9-Monats-Revolution“

Entwicklung der Sprache Soziale Praxis als Bezugspunkt und Rahmen Verknüpfung von Zeigen und Benennen Stimme als Ablösung des Zeichens von der Bewegung Spracherwerb in interaktiven Situationen, abhängig von der geteilten Bedeutsamkeit

Verneinung und Perspektivenübernahme Zunehmende „Selbst-ständigkeit“ im 2. LJ. Verbot und Verneinung Identifikation mit der Verneinung „Negation“ der primären leiblichen Zentralität Das Kind "inkorporiert" die Negativität der Perspektive des Anderen und nimmt damit eine exzentrische Position zu sich selbst ein. Darstellung im Spiel

Der Blick des Anderen “Fremdenangst” (8. Monat) Gesehen-werden von anderen – sich mit den Augen der anderen sehen Mirror-rouge Test ( LM)

Der Blick des Anderen Wahrnehmen des Blicks des Anderen → “Ich sehe Dich mich sehen.” Sartre: Umkehrung der leiblichen Zentralität, Dezentralisierung Ursprüngliche Selbstverborgenheit des Leibes → “Entblößung” Entfremdung

Selbstverborgenheit des gesehenen Körpers Luigi Pirandello: „Einer, keiner, hunderttausend“ (1926)

Luigi Pirandello: „Einer, keiner, hunderttausend“ (1926) „Während ich in meinen Betrachtungen fortfuhr, überfiel mich eine weitere bedrückende Erkenntnis: ich war, während ich lebte, außerstande, mich in meinen Lebensäußerungen mir selber vorzustellen; mich so zu sehen, wie die anderen mich sahen (…). Wenn ich mich vor einen Spiegel stellte, kam es gleichsam zu einem Stillstand in mir; alle Spontaneität war zu Ende, jede meiner Gesten schien mir künstlich oder gefälscht. Ich konnte mich selber nicht leben sehen.“

Luigi Pirandello: „Einer, keiner, hunderttausend“ (1926) „Da ich mich nicht leben sehen konnte, blieb ich mir selber fremd, das heißt, ich war einer, den die anderen sehen und kennen konnten; jeder auf seine Art, aber ich nicht.“ „Ich bin dieser fremde Mensch, den ich nicht leben sehen kann, … den nur die anderen sehen und kennen, nur ich nicht.“

Die Scham Situationen der Exposition und Zurückweisung Peinlichkeit Lächerlichkeit Verfremdung der primären, unbefangenen Leiblichkeit „Wir lachen jedesmal, wenn uns eine andere Person als Sache erscheint“ (Bergson 1921).

Die Scham Richtungsumkehr Leibliche Empfindungen der Scham „Zentrum. - Jenes Gefühl: ‘Ich bin der Mittelpunkt der Welt!’ tritt sehr stark auf, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird; man steht dann da wie be¬täubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von einem großen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt.” (Nietzsche, Morgenröte IV, 352)

Die Scham im „Brennpunkt“ der fremden Blicke Scham als „inkorporierter Blick des Anderen“ „Wir lachen jedesmal, wenn uns eine andere Person als Sache erscheint“ (Bergson 1921). „Reflektiertwerden“ Verworfenheit (G. Seidler) Selbstentwertung

Die Scham lat. „conscientia“: Verbindung von Befangenheit, Scham, Gewissen und Selbstbewusstsein von griech. syneidesis („Mitwissen“, „Bei-sich-Wissen“) Bedeutung von Bewusstsein erstmals bei Descartes Scham bedeutet „… die Scheidung des Menschen von seinem natürlichen und sinnlichen Seyn“ (Hegel 1817).

Die Scham Dissozation von erlebendem und sich wahrnehmendem Subjekt Scham als grundlegender selbstreflexiver Affekt Genesiserzählung: Reflexion und Gewissen verknüpft mit der Scham: Erkenntnis als Selbstbewusstheit und als Wissen um Gut und Böse beginnt mit der Erfahrung der Nacktheit und der Scham.

Die Scham Genesiserzählung: Wissen um die eigene Sterblichkeit als Begrenzung der ursprünglichen Leiblichkeit durch den fremden Blick, vor dem der Leib nun auch seine zeitliche "Ewigkeit" verliert und zum vergänglichen Körper wird.

H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810) Ein junger Mann von außergewöhnlicher natürlicher Grazie, so berichtet der Erzähler, hätte durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor seinen Augen, seine Unschuld verloren: Nach einem mit dem Erzähler genommenen Bad erblickt sich der Jüngling im Spiegel bei einer Geste, die ihn an eine von ihnen beiden einmal gesehene Plastik erinnert. Er teilt dies dem Erzähler mit, aber der lacht und macht eine spöttische Bemerkung, worauf der junge Mann schamhaft errötet. Er wiederholt die Geste daraufhin noch mehrere Male, aber sie missglückt auf komische Weise.

H. v. Kleist: Über das Marionettentheater (1810) Von diesem Tag an ist der junge Mann nicht mehr, was er war: "Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken..." (Kleist 1810).

Tertiäre Intersubjektivität (4./5. Lebensjahr) Perspektivenübernahme Distanznahme zu sich und anderen: Selbstreflexion – „Theory of Mind“ → Erweiterte Empathie: „Sich-Hineinversetzen in den Anderen“

False-Belief-Test (Sally-Anne-Test)