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Ivan Illich „Im Weinberg des Textes“

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Präsentation zum Thema: "Ivan Illich „Im Weinberg des Textes“"—  Präsentation transkript:

1 Ivan Illich „Im Weinberg des Textes“
Hauptseminar Praktische Probleme rechnergestützter Editionsphilologien Christian Daum

2 Ivan Illich * 4. September 1926 in Wien, † 2. Dezember 2002 in Bremen
österreichischer Autor, Philosoph, Theologe und katholischer Priester wirkte als Seelsorger, Lehrer und Forscher in Mexiko und in den USA, wurde als scharfer Kritiker der kirchlichen Politik und US-amerikanischen Technokratie in Lateinamerika bekannt, griff die Mechanismen der traditionellen Kirche, der institutionalisierten Bildung an kritisierte die Inhumanität der technisierten Medizin stellte die Praxis des schulischen Lernens als verschult dar und forderte eine Entschulung (Deschooling) der Gesellschaf. Einer seiner Kernthesen war, dass die westliche Zivilisation nur angemessen als Korruption der christlichen Botschaft verstanden werden kann. prägte u.a. den Begriff der Konvivialität (Conviviality), wobei es Illich um einen lebensgerechten Einsatz des technischen Fortschritts ging.

3 „Im Weinberg des Textes – als das Schriftbild der Moderne entstand“
Bezieht sich auf ein Werk von Hugo v. St. Viktor aus dem frühen 12. Jhdt. über die Kunst des Lesens namens „Didascalicon de studio legendi “ etwa "Anleitung zum Studium des Lesens und Auslegens" Didascalica: „dem Unterricht dienendes“ / der Lehre dienend eine Art Einführung / Anleitung für das Studium (der Theologie) für – wenn man so will – Erstis Kapitel 1-3 behandeln die sieben freien Künste der Spätantike und des Mittelalters septem artes liberales: Grammatik, Rhetorik, Dialektik (wozu die Philosophie - speziell die Logik - zählt), Arithmetik, Geometrie, Musik(theorie), Astronomie (Sphärik), septem: Teilung der freien Künste durch die heilige Zahl 7 Die Beherrschung dieser sieben Studienfächer war im mittelalterlichen Lehrwesen Vorbedingung für das Studium der Theologie, Jurisprudenz und Medizin. wurden gegenüber den praktischen Künsten (artes mechanicae) als höherrangig gewertet Kapitel 4-6 behandeln das Lesen (der Heiligen Schrift) – insbesondere die hierzu nötigen Tugenden

4 „Im Weinberg des Textes – als das Schriftbild der Moderne entstand“
Illich konstatiert für unsere Zeit ein Ende der übergreifende Epoche des „biblionomen Textes“ – also des an das Buch gebundenen Textes durch neue Medien werde das Buch zunehmend verdrängt Genauso, wie unsere Gesellschaft zuvor dem Christentum entwachsen sei, entwachse sie nun dem Glauben an das Buch Das althergebrachte Alphabet sei im Zuge dessen ebenfalls beliebig geworden: „eine unter mehreren Arten des Kodierens von „Botschaften““ Hieraus zieht er den Schluss, dass die Verbindung zwischen „Text“ und Buch ein einzigartiger und kennzeichnende Aspekt des Buchzeitalters sei Er schenkt daher dem „buchgebundenen Text“ sein besonderes Augenmerk. Beginn des scholastischen Lesens Er möchte in seinem Essay über das Didascalicon auf die Anfänge des biblionomen Textes hinweisen, da dessen Ursprünge in Vergessenheit geraten seien – und es gerade im Untergang begriffen sei Er weist zudem darauf hin, dass unser modernes Lesen nur eine von vielen Möglichkeiten des Lesens sei – dies belegt er Anhand des Vergleiches von monastischer und scholastischer Lesekultur: Umbruch der Lesekultur: Er lenkt den Blick vor allem auf den Moment, als sich die Buchseite „verwandelte; aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende“

5 Hugo von St. Viktor * um 1096 (Hartingham) † 11. Februar 1141 (St. Victor bei Paris) christlicher Theologe des Mittelalters, Frühscholastiker geistiger Gründervater der mit dem Namen von Sankt Viktor verbundenen Denktradition platonischer Ausrichtung Steht hinsichtlich der mittelalterlichen Bibelexegese für ein verstärktes Bemühen um das wörtliche und geschichtliche Verständnis des Bibeltextes Hugo war in seiner Theologie besonders beeinflusst von Augustinus, nach dessen Regel er lebte, vertrat die Notwendigkeit der profanen Wissenschaften, denen er im „Didascalion“ ein Handbuch gab Er spielte zudem eine wichtige Rolle in der mittelalterlichen Rezeption der mystisch inspirierten Werke des Dionysios Areopagita. Seine in mehr als 3000 Handschriften überlieferten Werke, von denen einige seit dem 13. Jahrhundert auch in verschiedene Volkssprachen übersetzt wurden, haben großen Einfluss auf die Theologie, Exegese und Philosophie der nachfolgenden Jahrhunderte und auch auf das mittelalterliche Bildungswesen ausgeübt.

6 Scholastik [lateinisch schola, „Schule“]
theologisch-philosophische Wissenschaft des Mittelalters, wie sie an Universitäten, Kloster- und Domschulen gelehrt wurde. lässt sich in 3 Abschnitte gliedern: Frühscholastik ( Jahrhundert) Aufkommender freier Umgang mit allen verfügbaren Texten Bibel nicht mehr alleinige Quelle der Weltdeutung im Mittelpunkt des Denkens stehen nun Textauslegung und Kommentar scholastische Methode der Untersuchung und Disputation: Erörtern von Sachfragen mithilfe von „künstlichen“, durch „Autoritäten“ (s. auctoritas) vorgebrachten Pro- und Kontra-Argumenten Hochscholastik (12./13. Jahrhundert) Spätscholastik (14./15. Jahrhundert)

7 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Incipit [lat., „es beginnt“] Das Eröffnungswort eines mittelalterlichen Manuskriptes (erste Zeile/erster Satz) Dient zugleich als Titel, da mittelalterliche Manuskripte meist keinen Titel besitzen Auch heute verwenden Päpste statt eines Titels immer noch das Incipit Mit Hilfe eines Incipits konnten Werke jeweils in eine bestimmte Tradition gestellt bzw. die Motivation des Autors dargelegt werden (vs. „Titeln“, welche nach Illich eher als „Etiketten“ fungierten) Bei Hugo lautet das Incipit „Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste, die in der Gestalt des vollkommenen Guten besteht“ Damit stelle er sein Werk in eine der Weisheit und der Lehre dienende Tradition Explicit [lat., „es ist zu Ende“] Vermerk am Schluss von Frühdrucken und Handschriften, die letzten Worte

8 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Auctoritas Allgemein: römischer Wertbegriff in der Politik der römischen Republik für Würde, Ansehen, Einfluss einer Einzelperson oder einer Institution wirkte als regulierende Entscheidungsgrundlage, wo es an juristischer Richtlinien fehlte Hier: „ein der Wiederholung werter Satz“, ein Schlüsselsatz Ein solcher Satz ist der Wiederholung wert, da er „beispielhafte und Wirklichkeit definierende“ Züge hat er kommt dabei einer „unantastbaren Überlieferung“ gleich, weniger, weil er seitens einer Autorität gebraucht wurde, sondern vielmehr, da er eine „offensichtliche Wahrheit“ ausdrückt und damit eine „in Worte gefasste Institution“ darstellt Nach Illich stellt Hugos Incipit eine solche Auctoritas dar

9 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Sapientia [gr. "Weisheit"] Ziel des Lernens und damit des Lesens und Schreibens - Lernen/Lesen also als „Suche nach Weisheit“ Weisheit sei nach Illich sowohl für Hugo als auch sein Vorbild Augustinus kein „Etwas“, sondern vielmehr eine „Person“: Weisheit als die zweite Gestalt der heiligen Dreieinigkeit, also Christus Christus sei für Hugo Retter und Heilmittel/Arznei (remedium) des gefallenen – also sündhaften – Menschen zur Vertreibung der Sündhaftigkeit und der Finsternis Höchstes remedium der Menschheit sei damit die Weisheit – respektive Gott als Weisheit Künste und Wissenschaft würden dabei gleichermaßen als Heilmittel fungieren, da sie Weisheit vermittelten Hugo: „Die Weisheit erleuchte den Menschen, damit er sich selbst erkenne“ Hier ist also mitnichten das uns geläufige Licht der Vernunft der Aufklärung gemeint sondern das Streben nach Gott / nach göttlicher Weisheit und Erleuchtung zur Rettung des sündhaften Menschen. Dabei bezieht sich Hugo nach Illich jedoch wohl auch auf das Erlebnis des Lesens in mittelalterlichen Manuskripten (s. Lumen), welches allein schon „physikalisch“ einem Erleuchtungserlebnis gleichgekommen sei.

10 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Studium [lat. studere: „(nach etwas) streben, sich (um etwas) bemühen“] Das Studium/Lernen als Suche nach Weisheit und damit nach Christus selbst Für Hugo waren Lesen und Schreiben kaum unterscheidbare Seiten desselben studium Vor allem das Lesen (studium legendi) steht für Hugo im Mittelpunkt und wird als heilende Technik betrachtet Das studium wird dabei keineswegs als zeitlich fest umrissene Periode erachtete sondern als tägliche und lebenslange Aufgabe Nach Hugo forme das studium den Studierenden insgesamt und vervollkommne ihn gleichermaßen wie seine Lesefähigkeit Mit seinem Didascalicon stellt Hugo demzufolge vor allem die für das Lesen notwendigen Tugenden in den Mittelpunkt Das studium legendi ist darüber hinaus nicht allein eine monastische Verpflichtung sondern auch eine Bürgerpflicht, nach der auch Menschen außerhalb der Klostermauern streben sollten.

11 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Disciplina [die; lateinisch, „Lehre, Zucht, Schulung, Unterweisung“] allgemein: Zucht, (straffe) Ordnung, Einordnung, Selbstbeherrschung, Gehorsam, einzelne Wissenschaft Für Hugo ist die disciplina des Lesers (des Studenten/Mönchs) unbedingte charakterliche Voraussetzung zur Erlangung von Weisheit Ohne disciplina führe das studium lediglich zu einer Ansammlung von Wissen, mit dem sich der Leser brüsten könne, nicht jedoch zu Weisheit und Erleuchtung Zur Erlangung von Weisheit müsse sich der Leser hingegen regelrecht ins Exil begeben Disciplina sei vor allem Demut (vor jedem Wissen anderer aber auch vor dem Unwissenderen), ein sowohl innerlich wie äußerlich ruhiges Leben, Bescheidenheit (respektive der Verzicht auf Überflüssiges) etc. Darüber hinaus propagiert Hugo ein Verlassen bekannter Gefilde, des heimatlichen Bodens, des Bekannten: Alles solle als fremd und unbekannt erachtet werden – der wahre Gelehrte also als „Heimatloser im Geiste“.

12 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Lumen [das; lateinisch, „Licht“] Christus ist das Licht und die Erleuchtung – es scheint aus den Bibelseiten in die „Finsternis“ Das Antonym von Licht als Sinnbild des aus dem Licht des Paradieses (in die Finsternis) verstoßenen Menschen Unter Lumen verstünde Hugo sowohl das Strahlen und Leuchten – respektive die Erleuchtung – des Manuskriptes als auch des Auges selbst: Das glühende Manuskript als „Lichtquelle“: Nach Illich sei das Wesen des Lichts und die „Erleuchtung“ im Mittelalter durchaus auch physikalisch geprägt: Die zur Herstellung damaliger Manuskripte verwendeten Materialien, also Pergament statt Papier aus lichtdurchlässiger Schaf- oder Ziegenhaut, sowie die zahlreichen farbigen Miniaturen erweckten beim Leser den Eindruck, als ginge von ihnen eine eigenständige Leuchtkraft aus. Illich spricht hier von Sende- und Eigenlicht (vs. dem Zeige- & Beleuchtungslicht späterer Werke) Wenn Hugo also von Licht und Erleuchtung als Folge von (u.a. durch eifriges Lesen erlangter) Weisheit spricht, ist er nach Illich auch durch das dem Mittelalter eigene und auf besagtes Sendelicht zurückzuführende Erlebnis des Lesens geprägt: „Ein Buch anzuschauen war ein Erlebnis ähnlich dem, das man am frühen Morgen in gotischen Kirchen haben kann ... Wenn die Sonne aufgeht, bringt sie Leben in die Farben des Glases, ....“ (Illich, S. 25) „Die Welt wird so dargestellt, als besäßen alle Kreaturen ihre eigene Lichtquelle. Licht wohnt dieser Welt mittelalterlicher Dinge inne, und das Auge des Betrachters nimmt diese als Quellen ihrer eigenen Leuchtkraft wahr“ (Illich, S. 25 )

13 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Lumen [das; lateinisch, „Licht“] Das leuchtende Auge als Voraussetzung für das „Sehen“, die Erleuchtung Um die leuchtenden Gegenstände der Welt wahrnehmen zu können, sei das lumen oculorum notwendig, also das vom Auge ausgehende Licht Das Lesen wird in diesem Zusammenhang als besagtes Heilmittel erachtet, da es die Finsternis verbanne und Licht in die Welt bringe Die Erleuchtung betreffe für Hugo dreierlei Augenpaare: Die Augen des Fleisches (zur Wahrnehmung des irdischen) Die Augen des Verstandes (zur Wahrnehmung des Selbst) Die Augen des Herzens (zur Wahrnehmung Gottes)

14 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Die Seite als Spiegel (der Selbsterkenntnis): Der Leser soll sich nach Hugo im Licht der Weisheit, im Spiegel des Pergaments, selbst erkennen – sein Selbst soll darin Feuer fangen Illich spricht hier von einem im 12. Jhdt. aufkommenden „neuen Selbst“, einem „Geist der Selbstdefinition“, die sich Hugos Aufforderung wiederfinde: Sowohl die Griechen als auch die Römer hätten demgegenüber noch keinen Begriff von „Selbst“, „Person“ und „Individuum“ (in unserem heutigen Sinne) gehabt Illich führt in diesem Zusammenhang exemplarisch die Kreuzzüge des 12. Jhdts. an, welche erstmalig eine Vielzahl ursprünglich fest verwurzelter Menschen dazu motivierten, die bekannte und überschaubare Gemeinschaft zu verlassen: Der Auszug in die Fremde also als notwendige Distanz zur bekannten Gemeinschaft (und deren feudaler Ordnung) und damit als Voraussetzung der Selbstdefinition (in Abgrenzung zu eben dieser Gemeinschaft und Ordnung) Dies gelte auch für den Hugos Gelehrten, dem „Heimatlosen im Geiste“

15 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
Amicitia [lat. „Freundschaft“ ] „Freundschaft“ als Liebe zur sapientia, zur Weisheit, zu Gott Diese sei für Hugo die Motivation der „Pilgerschaft durch den Weinberg der Seite“, die Reise zur Erleuchtung und Selbsterkenntnis Ordo [lat.: Ordnung, Rang, Reihe, Verordnung ] Hugo geht von einer (Gott)gegebenen Ordnung der Dinge aus, welcher der „erwachsene Leser“ (auf dem Weg zur Weisheit) zu folgen habe, um nicht im „kindlichen Suchen“ zu verhaften. : Dabei sei ordo nach Illich im mittelalterlichen Denken mitnichten das eigenständige Ordnen, Kategorisieren oder Verwalten des Wissens sondern vielmehr das Verinnerlichen der bereits bestehenden göttlichen Ordnung und Harmonie, die dem Kosmos innewohne:  „Die Geschichte wird nicht der Ordnung des Lesers unterworfen, sondern er muß sich in ihre Ordnung fügen.“ (Illich, S. 35)

16 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
septem artes liberale – Die Schatztruhe im Herzen des Lesers Die Beherrschung der sieben freien Künste sei für Hugo eine der Voraussetzung des idealtypischen Lesens. „Beherrschung“ bedeute hier allerdings, die erworbene Weisheit möglichst vollständig im „Herzen“ präsent zu haben. Hugo habe demzufolge die Gedächtnisübung als Voraussetzung des Lesens, des Studiums also erachtet und seinen jungen Schülern nahegelegt. Dabei habe Hugo auf bemerkenswerte Weise die nach der Antike vergessene Kunst des Gedächtnistrainings wiederentdeckt:

17 Die monastische Buchkultur – zentrale Begriffe
modum imaginandi domesticum ... ... für „Anfänger“ Hugo empfahl seinen jungen Schülern, sich einen „Gedächtnispalast“, einen Raum im eigenen Inneren vorzustellen. Innerhalb dieses Raumes sollte der Schüler mehrere„Straßen“/“Kolumnen“ aus Ganzzahlen anlegen, die er immer und immer wieder „besuchen“ und bereisen sollte, um sich die Positionen der einzelnen Zahlen zu verbildlichen und zu vergegenwärtigen. Sobald der Schüler darin virtuos genug war, konnte er Personen, Ereignisse, Fakten, Jahreszahlen etc. auf diesen Kategorie-Straßen platzieren und ggf. mit zusätzlichen Etiketten versehen: Alle Apostel in die Reihe der Apostel, alle Patriarchen in die Straße der Patriarchen usw. ... ... für „Fortgeschrittene“ Für fortgeschrittene Schüler hielt Hugo eine sog. „Arche“ als Gedächtnisübung parat Eine dreidimensionale räumlich-zeitliche Matrix nach dem Muster der Arche Noah als Megagedächtnisplan historischer Zusammenhänge. Laut Illich sei dieses Modell für heutige Sterbliche ohne Übung seit frühester Kindheit kaum erlernbar.

18 Exkurs: Die Geschichte des Gedächtnisses
Archaisches präliterates Griechenland: „Akustisches“ Gedächtnis Illich zufolge hätte sich im archaischen Griechenland vor der Erfindung es Alphabets niemand einen solchen visuellen Gedächtnispalast vorstellen können: Das damalige Gedächtnis sei nicht visuell sondern akustisch nach dem Echo-Prinzip organisiert gewesen – Gesang und Redekunst basierten auf dem Erinnern rhythmischer Formeln. Die vorschriftliche Erinnerung wurde von Barden „ausgeübt“, der von göttlicher Kraft zum Singen inspiriert wurde: Das Singen also weniger als Resultat des Nachdenkens über Worte denn als performativer Akt des Barden, getrieben durch Muse und göttliche Kraft.

19 Exkurs: Die Geschichte des Gedächtnisses
Antike Gedächtniskunst: „Rhetorik“ als neue Fähigkeit – das Gedächtnis als bedeutender Teil der Rhetorik Besagte Gedächtnispaläste wurden seitens der Griechen vor allem im Zuge der Rhetorik gebraucht. Der Begriff „Rhetorik“ wurde Illich zufolge in dieser Zeit für die neue, nicht-mündliche Kunst geprägt, Sätze für den späteren Vortrag im Kopf vorzubereiten und zu memorieren. Die visuelle Vorstellungskraft wurde also in den Dienst des mündlichen Vortrags gestellt. Die Rede- und damit die Gedächtniskunst wurde später m antiken Rom vor allem in juristischen Kreisen weiter verfeinert. „Murmlen“ zum Abrufen memorierten Wissens: Die Gedächtniskunst der Antike beschäftigte sich auch mit dem Vorgang des Abrufens der im Gedächtnis visualisierten Informationen: Die Informationen sollten mit dem geistigen Auge keineswegs stillschweigend sondern vielmehr leise vor sich hin „murmelnd“ abgelesen werden. Dies sollte zum einen die Rede- und Hörfähigkeit schulen und den Lerneden darüber hinaus vor Ablenkungen durch seine Umwelt bewahren.

20 Exkurs: Die Geschichte des Gedächtnisses
Christentum: Vernachlässigung der Rede- & Gedächtniskunst mit Aufkommen des Christentums Das Christentum verstand unter memoria statt des Memorierens der Antike ein zelebriertes Ritual zum Gedenken an Gott sowie das Alte und Neue Testament. Die Prediger und Kirchenväter wollten zum einen nicht wie römische Rhetoriker auftreten Vor allem jedoch hatten sie (als einzige Religion neben den Judentum) ein Buch zur Verfügung, welches die eine Wahrheit „zum Nach- bzw. Vorlesen“ enthielt. „Dank“ der Bibel als alleinigem Quell der Weltdeutung gab es also keinen Bedarf nach „rhetorischen Wort- und Gedächtnisspielen“.

21 Exkurs: Die Geschichte des Gedächtnisses
12. Jahrhundert: Wiederbelebung der Gedächtniskunst durch Hugo von St. Viktor – „monastische Murmler“ Illich unterstreicht es als große Leistung Hugos, die „architektonische“ Rede- und Gedächtniskunst der Antike wiederentdeckt zu haben und sie den „monastischen Murmlern“ des Mittelalters als Lesekunst zu lehren. Hugos Gedächtnispalast war dabei jedoch keineswegs willkürlicher Natur sondern entsprach der gegebenen göttlichen Ordnung und Struktur des Zeitenraums, der historia. Historia als Fundament des Memorierens Wie der Kosmos seien nach Hugo vor allem die Zeit und die Geschichte bereits erwähnter allumfassender ordo unterworfen, die sich in der Heiligen Schrift wiederspiegele. Nur, was seitens des Lesers in die göttliche ordo (der Zeit/der Welt) eingefügt wird, hat auch Bedeutung und ist des Memorierens wert.

22 Die monastische Buchkultur – monastisches Lesen
Die Kirche ist die „Arche Noah“ – Lesen als Mittler zwischen Kirche und dem Selbst des Studierenden Hugos Arche Noah als „fortgeschrittener Gedächtnispalast“ steht dabei für das, was er „Kirche“ nennt: Ein der ordo unterworfener gesellschaftlicher Vorgang/eine Institution, die seine Anfänge mit der Schöpfung nimmt und bis zum Ende der Zeit fortdauert. Das „Lesen“ vermittele dabei zwischen dieser Kirche (bzw. der göttlichen Ordnung) und dem Selbst des Lesers und stellt so einen Akt der Gottesverehrung dar, welcher eine Inkarnation der Weisheit mit sich bringe. Ordo und die dreistufige Bibelexegese Um die sich in der Bibel spiegelnde ordo erfassen zu können, sei eine dreistufige Bibelexegese notwendig: 1. Das wörtliche Lesen ... offenbart den ersten materiellen Sinn zwecks Memorierung in der „Arche Noah“ 2. Die allegorische Deutung ... die nur unter Kenntnis aller Fakten möglich sei 3. Die persönliche Erkenntnis des Lesers .. ob seines Platzes innerhalb der ordo

23 Die monastische Buchkultur – monastisches Lesen
Lesen als Akt der Meditation Hugo propagiert meditatives Lesen, also anhaltendes und intensives Nachdenken über das Gelesene, um in die tiefsten Tiefen der Materie vorzudringen. Hierzu sei zwar Mut und Hartnäckigkeit erforderlich, dafür winke jedoch die Freude der Erkenntnis. Zudem verleihe meditatives Lesen der Seele jene Ruhe und Muße, die Voraussetzung dafür sei, Vollkommenheit erlangen zu können: Die durch Meditation erlangte Muße wiederum bewahre den Menschen vor dem Lärm irdischen Treibens und biete einen Vorgeschmack auf die Süße der ewigen Ruhe. „Gemeinschaften von Murmlern“ Lesen war für den monastischen Leser ein körperlicher Akt, sowohl akustisch als auch motorisch, da er sich im Takt der gemurmelten Zeilen wiegte, um sich die Zeilen regelrecht einzuverleiben. Diese Art des Lesens unterscheidet sich stark von unserem heutigen reinen „Augenlesen“ Er galt schon fast als anstrengender Sport, der von hellenistischen Ärzten der Antike ersatzweise für Spaziergänge etc. verschrieben wurde! Demzufolge war zum Lesen eine gute körperliche Verfassung notwendig und Krankheit (etwa Husten) bedeutete schlicht, nicht einmal „für sich selbst“ lesen zu können.

24 Die monastische Buchkultur – monastisches Lesen
Die Seite als Weinberg und Garten Hugos Leseakt kam nach Illich dem Ernten von Weintrauben gleich: Dem „Pflücken“ bzw. „Auflesen“ und „Einsammeln“ von Früchten von den Zeilen des Pergaments, welche die „Reben“ stützen. Das Wandeln in Gottes Weinberg bzw. Garten entspricht der Muße und der Pilgerfahrt, die notwendig sei, um Gott zu erreichen. Das Bild vom Weinberg oder Garten des Herrn scheint zum einen auf die monastische Hauptlektüre – die Bibel, also das Wort, die süße „Frucht“ des Herrn – abzuzielen als auch auf den Vorgang des damaligen Schreibens: Worte wurden in Wachstafeln eingeritzt, was einem Einpflügen gleichkam, weshalb Schreiber auch als „Pflüger“ bezeichnet wurden. Die Einritzungen wurden als gepflügte Furchen wahrgenommen, in welcher die Saat der Worte aufgehen wird. Das Buch also als Weinberg, Garten oder Landschaft einer abenteuerlichen Pilgerreise

25 Die monastische Buchkultur – lateinisches Mönchtum
Lectio auf Latein – Das lateinische Mönchtum und die 1500 Jahre währende „Alleinherrschaft“ des Lateins über lateinische Buchstaben Latein nimmt nach Illich in vielfacher Hinsicht eine bemerkenswerte Sonderstellung ein: Latein prägt die monastische Lebensweise: Lesen, Schreiben und Latein waren für Hugo und seine Schüler eins: Latein bestimmte als eine der drei heiligen Sprachen neben Hebräisch und Griechisch vollständig und allgegenwärtig die monastische Lebensweise Es war demzufolge mitnichten lediglich eine zweite, tote oder allein gelehrte Sprache Es begleitete die Mönche nicht nur beim studium sondern siebenmal täglich während des Gottesdienstes, dem opus dei, beim Rezitieren der Psalme und gregorianischen Gesängen Dabei war das beständige lateinische Rezitieren und Singen von Bibeltexten durch komplexe rhythmische körperliche Gebärden, die dem Rhythmus des Textes folgten, ein performativer Akt

26 Die monastische Buchkultur – lateinisches Mönchtum
Lernvorgang als multisensorische und psychomotorische Erfahrung: Illich konstatiert, dass keine moderne Sprache durch einen derart „intensiven Gebrauch von psychomotorischen Erinnerungsspuren gelehrt“ werde, wie dies im lateinischen Mönchtum der Fall gewesen sei: Jede Silbe wurde seitens des Lehrers einzeln diktiert und von seinen Schülern im Chor wiederholt Daraufhin „diktierte“ der Schüler die einzelnen Silben seiner eigenen Hand und ritzt sie in seine Bienenwachstafel Die einzelnen Silben und Wörter werden so während des Einkerbens Teil des Tastsinns des Schülers, durch ihre Sichtbarwerdung auf der Wachstafel Teil des Sehsinns und durch beständiges Rezitieren und Singen Teil des Gehörsinns Nach Illich sei dieser Lernvorgang also eine komplexe multisensorische Erfahrung gewesen, die das Erinnern des Gelernten nachhaltig begünstigt hätte.

27 Die monastische Buchkultur – lateinisches Mönchtum
Die absolute „Alleinherrschaft“ des Lateins über „seine“ Buchstaben: In den ersten 1500 Jahren nach Christus sei Latein schlicht nicht dazu verwendet worden, sprachliche Laute aufzuzeichnen Zwar wurden unzählige Sprachen mit Hilfe des lateinischen Alphabets AUF LATEINISCH KODIERT – es wurde in dieser Zeitspanne allerdings nie der Versuch unternommen, andere Sprachen MIT HILFE DIESES ALPHABETES ZU ERFASSEN So wurde auch während der 650 Jahre währenden römischen Herrschaft nach Illich nie auch nur eine Sprache irgendeines unterworfenen Volkes je in lateinischen Buchstaben aufgezeichnet Darüber hinaus war das lateinische Alphabet in diesen 1500 Jahren völlig statisch – es veränderten sich weder Form noch Anzahl der Buchstaben. Auch gesprochenes Latein wurde nicht neidergeschrieben Latein wurde Illich zufolge nicht einmal dazu verwendet, das gesprochene Latein so aufzuzeichnen, wie es lauttechnisch gerade „en vogue“ war Schließlich sprach bereits nach kurzer Zeit kaum jemand noch das „Original-Latein“, wie es in den letzten Jahrhunderten vor Christus alphabetisiert worden war – und schon gar nicht nach 1500 Jahren.

28 Die monastische Buchkultur – lateinisches Mönchtum
„Die Vernachlässigung einer Technik“ Interessanterweise sei diese Alleinherrschaft des Lateins über seine Buchstaben derart absolut gewesen, dass sie nie als überraschende historische Anomalie erachtet wurde. Es wurde schlicht nie versucht, Latein zu etwas anderem zu verwenden, als Latein zu schreiben Illich erachtet dies als bemerkenswerte Vernachlässigung einer verfügbaren Technik: Er vergleicht dies mit der Vernachlässigung des Rads in präkolumbianischen Kulturen (die Deppen hatten doch tatsächlich das Rad erfunden, aber nur Götter und Spielzeug drauf geparkt, statt damit „zu ALDI“ zu fahren!) Ursache Als Ursache für diese historische Anomalie (die übrigens auch dem Griechischen zu eigen gewesen sei) sieht Illich (wenn ich ihn richtig verstanden habe) den Irrglauben, dass eine „notwendige Beziehung zwischen Gestalt und Lautung“ eines Alphabets und der entsprechenden Sprache bestünde. Mit anderen Worten: Man glaubte wohl, die Aussprache ergäbe sich aus der Natur der Buchstaben selbst, weshalb weder versucht wurde, sprachliche Laute abzubilden noch neue Buchstaben entwickeln wurden, um dies zu ermöglichen.

29 Die monastische Buchkultur – lateinisches Mönchtum
Ende der Alleinherrschaft des Lateins: Die (auf Hugo & Co.) nachfolgende „monastische Generation“ entdeckte, dass sich mit Hilfe des lateinischen Alphabets auch mundartliche Texte verfassen ließen Das lateinische Alphabet wurde also erstmals in größerem umfang dazu verwendet, sprachliche Laute, wirkliche Rede also, aufzuzeichnen Dies geschah anfangs vor allem mit deutschen und provençalischen Mundarten Allerdings wurde dabei zu Beginn nicht direkt aus einer Mundart in die andere übersetzt, sondern immer erst der Umweg über das lateinische genommen Illich zieht hieraus den Schluss, dass eine Alphabetisierung des Sprechens zumindest während einer Übergangsphase nicht unmittelbar zum Entstehen neuer, mit dem Lateinischen gleichwertige, Sprachen geführt habe. So entstand das erste Gedicht „ohne lateinische Umwege“ in italienischer Sprache erst im 13. Jahrhundert – unter Verwendung lateinischer Buchstaben, verfasst durch Franz von Assisi

30 Scholastisches Lesen Das Umblättern einer Seite
Illich benutzt diese Metapher, um eine Zäsur hervorzuheben, die er um 1140 datiert: In der Buchkultur sei zu dieser Zeit die monastische Seite zu und die scholastische Seite aufgeschlagen worden. Die Verbreitung des alphabetischen Schreibens ist grundlegend für die Entstehung der westlichen Kultur und deren Naturwissenschaften, Literatur und Philosophie. „Das neue Lesen“ Mit dem Umblättern diese Seite habe sich auch der Leser verändert: Während das monastische Lesen noch ein „murmeln“ und damit ein liturgisches und oft auch soziales Hörerlebnis für alle Mitanwesenden war, ist das „neue Lesen“ eine individualistische und vor allem leise Tätigkeit, bei der kein sozialer Raum entsteht.

31 Erneut: Monastisches Lesen
Um diese „Revolution“ zu verstehen, muss man sich das monastische Lesen bis zu dieser Zäsur vergegenwärtigen: Zwar gab es auch in der Antike das leise Lesen, allerdings wurde es als regelrechtes „Kunststück“ erachtet: Wer EINEN GANZEN SATZ (ohne Lippenbewegungen) mit dem Auge aufnehmen konnte, BEVOR er ihn laut las, wurde bestaunt und bewundert Demzufolge waren Schreibstuben zumindest bis zum 7. Jahrhundert ziemlich laute Orte: Das Kopieren von Büchern erfolgte immer mit akustischer Unterstützung: Entweder las einer dem Kopisten das Buch vor oder aber der Schreiber lass es sich selbst murmelnd vor, um dann aus seinem auditiven Gedächtnis heraus zu kopieren. Ursache: Zwischen den einzelnen Wörtern gab es schlicht keine Leerzeichen, so dass ein laute Wortbildung mehr oder weniger Teil des Lesens sein musste – schließlich hatten die Kopisten Schwierigkeiten, einzelne Wörter „allein“ mit dem Auge zu erfassen, was das visuelle Gedächtnis behinderte Monastisches Lesen war also immer ein hörbares Vorlesen – sei es, dass man „sich selbst“ oder anderen vorlas Erst im 7. Jahrhundert kam in Irland und später in Kontinentaleuropa die neue Technik der Leerzeichen zwischen den Wörtern auf Nun war es auch möglich, das visuelle Gedächtnis voll einzusetzen Fazit: Leise Schreibstuben in den Klöstern

32 Scholastisches Lesen & Schreiben
Der „neue Kleriker“ und das „neue scholastische Schreiben“ I Mit dem „neuen Lesen“ kam auch ein „neues Schreiben“ auf, da fortan „selbst“ geschrieben wurde Wie das „neue Lesen“ war auch das selbstständige „neue scholastische Schreiben“ damit eine Revolution: Bis in Hugos Zeiten hinein wurde nur in absoluten Ausnahmefällen „selbst geschrieben“ – der Vorgang des Schreibens war eine arbeitsteilige Aufgabe: Wollte jemand etwas zu Papier bringen, wurde ein Schreiber (ein „Pflüger“) gerufen, der dem diktierenden Autor (dem Säenden) „seine Hand lieh“: „Der scriptor hält die Feder und der dictator führt sie“ Dabei wurde die Hand des Schreibers wiederum murmelnd durch dessen Mund geführt Damit waren also sowohl Lesen als auch Schreiben „murmelnde“ Tätigkeiten Ein zum bußfertigen Schweigen verurteilter Mönch KONNTE in dieser Zeit demnach weder Lesen noch Schreiben Der neue Schreiber schreibt nun nicht nur selbst, er wählt darüber hinaus sein eignes Thema und brachte es in die von ihm gewünschte ordo Hugos Zeitgenossen hingegen richteten sich in „ihren“ Schriftstücken streng an der Bibel aus: Sowohl thematisch als auch hinsichtlich der durch die Bibel vorgegebenen ordo

33 Scholastisches Lesen & Schreiben
Der „neue Kleriker“ und das „neue scholastische Schreiben“ II Der elitäre Begriff des Klerikers wurde fortan nicht mehr allein für Angehörige der Kirche verwendet sondern stand nun auch allgemein für den geschulten Schriftkundigen Diese „scholastischen Schreiber“ monopolisierten unmittelbar die im 12. Jahrhundert aufkommende neue Technik des Lesens und Schreibens Allen Nicht-Schriftkundigen gegenüber trat man – ob nun Angehöriger der Kirche oder nicht – mit den Privilegien und Rechten des liturgisch-pastoralen Klerus früherer Zeiten auf Die monastische, nach göttlicher Weisheit strebende Lebensart wurde abgelöst von der Lebensart geschulter Schreiberlinge Während Hugo noch zu seinen ihm zuhörenden Novizen sprach und dabei das vor ihm liegende Buch aus Pergamentseiten kommentierte, kam Thomas von Aquin mit seinen eigenen Notizen auf glattem, billigem Pergament und diktierte seinen Studenten seine Ausführungen Der neue Student hört aufgrund der immer komplexeren Sachverhalte nicht mehr allein zu sondern ist um Abschrift bemüht, da dieses zusätzliche visuelle Hilfsmittel notwendig ist, um dem Stoff folgen zu können.

34 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
Das Alphabet als Technologie I: Ab Mitte des 12. Jahrhundert änderte sich auch die Technologie zur Herstellung von Büchern – und das althergebrachte, in seiner Reihenfolge statische Alphabet aus rund 20 Buchstaben wurde Teil dieser Technologie: Wiederentdeckte Techniken: Kursiv- und Kurzschrift Importierte Techniken: Papier über Toledo aus China Neu erfundene Techniken: Das Ordnen von Schlüsselwörtern nach dem Alphabet; das Sachregister ; Bibliotheksinventare ; den Text gliedernde Absätze und Kapitel; die übersichtliche Neugestaltung von Buchseiten; das (wirklich) tragbare Buch; farbiges Unterstreichen von Schlüsselwörtern; die Einführung von kleineren Buchstaben für Glossen; die Kenntlichmachung von Zitaten mit Anführungsstricken; Quellenangaben in den Glossen; die Durchnummerierung von Kapiteln und Versen; Vorworte & Einleitungen; Tinte, „kleiner geschriebene Buchstaben“ (!) etc. Infolgedessen auch ein aufkeimendes Bewusstsein des Autors für die Bedeutung des Seitenlayouts (für das Verständnis des Lesers)

35 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
Das Alphabet als Technologie II: Bücher sind zwar immer noch keine Druckerzeugnisse haben jedoch durch Index, Absätze, Kursivschrift und Sachregister erheblich an Übersichtlichkeit gewonnen Damit werden bestimmte Stellen innerhalb von Büchern erstmals direkt zugänglich Letztlich kam es durch diese Neuerungen und die zunehmende Fähigkeit, Laute mit Hilfe von Buchstaben aufzuzeichnen zu einer „alphabetischen Technologisierung des Wortes“ Dem geschriebenen Wort wird fortan immer mehr Bedeutung beigemessen So wird „beschriebene“ Wirklichkeit in der Rechtsprechung nach und nach wichtiger als das Wort leibhaftiger Zeugen – „Urkunden hatten vor Gericht das letzte Wort“

36 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
Das Alphabet als Technologie III: Der neue Ordnungswille – die Erfindung des Index Für Illich ist die Erfindung des Index im 12. Jhdt. gleichbedeutend mit der Erfindung des phonetischen Schreibens durch die Griechen 770 v. Christus. Er erachtet sie als derart bedeutsam, dass er gerne von einem Prä- & Post-Index-Mittelalter sprechen möchte Ursache: Illich macht hier erneut eine ungenutzte, verschwendete Technologie aus: Es sei bemerkenswert, dass das Alphabet trotz seiner 2700 Jahre währenden weitestgehend statischen unveränderlichen Sequenz nie zum Erstellen von Sachregistern verwendet wurde Statt dessen wurden Kompilationen etc. immer an der Bibel ausgerichtet und geordnet Erst Mitte des 12. Jahrhunderts wird erstmals technischer (also organisierender und ordnender) Gebrauch von der uralten „alphabetischen Formel“ gemacht All diese Neuerungen sind Illich zufolge Beleg eines Drangs, eine neue Art der Ordnung zu erkennen und zu erschaffen

37 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
Von der aufgezeichneten Äußerung zum Spiegel der Vorstellung Erst „nach Hugo“ wurden Bücher zur direkten Aufnahme der Gedanken eines Autors verwendet und damit zum Spiegel seiner Vorstellung – davor waren Bücher Aufzeichnungen von akustischen Äußerungen Der Autor schreib nun selbst, brachte seine eigenen Gedanken nach eigenem Gusto zu Papier und folgte dabei einer von ihm ersonnen Beweisführung er gab seinen Werken eine eigene, sichtbare Anordnung, eine ordinatio, die sich im Seitenlayout ausdrückte: z.B. den Kapiteln vorangestellte, zusammenfassende Glossen, farbliche Markierungen etc. Der Autor mutiert vom Erzähler einer (nämlich „der“) Geschichte zum Schöpfer eines Textes, der seinem eigenen Ordnungswillen unterworfen ist. Das Buch wandelt sich damit von einem Mittel, die „Geschichte“ wiederzubeleben zu einem vom Verstand geschaffenen Denkgebäude – die Buchseite wird zu einer „Bildfläche für die Ordnung, die der Verstand schafft“

38 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
„Vier Arten, ein Buch zu machen“: Um den neu entstandenen Autor-Typus zu verdeutlichen zitiert Illich Bonaventura, der im 14. Jahrhundert vier verschiedene Arten der „Buchherstellung“ ausmachte: Der scriptor (Schreiber) „schreibt Fremdes, ohne etwas hinzuzufügen oder zu verändern“ Der compilator (wörtl: „Plünderer“) schreibt ebenfalls Fremdes und fügt etwas hinzu, dass aber nicht von einem selbst kommt Der commentator schreibt sowohl Fremdes als auch Eigenes, aber in der Hauptsache das eines anderen, dem man das Eigene zur Erklärung hinzufügt Der auctor: schreibt sowohl Eigenes als auch Fremdes, in der Hauptsache jedoch Eigenes und fügt das Fremde zur Bekräftigung beifügen

39 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens
Layout und auctor: „Der“ Text löst sich vom konkreten Buch - erste textkritische Versuche bereits 300 Jahre vor dem Buchdruck: Hierbei handelt es sich um eine der Kernthesen Illichs: Das neue Verständnis vom scholastischen auctor als gedanklichem Urheber eines Textes der „eigenes“ verfasst, habe zu ersten textkritischen Versuchen geführt Man versuchte also bereits aus verschiedenen Quellen den „Archetypus“ des Textes im Sinne des Autors zu ermitteln – also „Eigenes“ von „Fremdem“ sichtbar zu trennen – dies schlug sich entsprechend im Seitenlayout nieder (wohl als Vorform erster „kritischer Apparate“?) Dies habe zur Folge gehabt, dass sich „der“ Text von der jeweiligen schriftlichen Fassung „löste“, da fortan der Inhalt im Sinne des Autors im Vordergrund stand Zuvor war „der“ jeweilige Text so eng mit „seinem“ konkreten Buch verbunden, dass beide untrennbar waren Illich sieht hierin bereits (also insgesamt im Übergang von der monastischen zur scholastischen Manuskriptkultur) eine bemerkenswerten (Medien-)Umbruch innerhalb der Manuskriptkultur lange vor der Entdeckung der Druckkunst Schließlich wurden & werden zahlreiche der genannten Innovationen für Gewöhnlich erst (& vor allem ausschließlich) der Gutenberg-Galaxis zugeschrieben:

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Illuminatio versus illustratio: Illustration (Zierart) & der sinntragende (erleuchtende) Text buhlen in christlichen Manuskripten um die Aufmerksamkeit des Lesers : Illustrationen bzw. Zierart wurde in christlichen Manuskripten 5 Funktionen zugeschrieben 1. Ehrung des Wortes: Illustrationen als feierliche und würdeverleihende Gewänder des göttlichen Wortes – sie verleihen dem Text einen angemessenen Rahmen (und als Knutschziel: So wurden die kunstvoll gestalteten Initialen einer Bibelstelle vor und nach Lesung derselben voller Inbrunst geküsst) 2. Didaktisches Hilfsmittel: Das Bild erhellt den Sinn des Wortes (als Stütze und Belehrung des Einfältigen) 3. Sinndeutendes Hilfsmittel: Illustrationen als exegetisches und heuristisches Hilfsmittel – die „sichtbare“ Illustration weist gleichsam als Vorgeschmack auf den wahren, „unsichtbaren“ Sinn der Worte 4. „Sinnliche, ästhetische Erbauung“: Illustration und Text sollen Ohr und Auge in der „Wahrnehmung der herrlichen Symphonie“ des Gottesworts „verweben“ 5. Gedächtnisstütze: Illustrationen, Miniaturen, Initiale etc. sollten das Memorieren der Buchseiten erleichtern Dies unterstützt auch das Bild vom Wandeln im Weinberg bzw. der Pilgerschaft im Garten des Herrn: Keine Seite, kein Initial, keine Miniatur ähnelt der anderen, so dass der Leseakt eine weitere Körperlichkeit gewinnt: Dem Durchschreiten einer abwechslungsreichen Landschaft

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Modernes Lesen vs. „Schreiten durch illuminierte Buchstaben-Landschaften“: Hier grenzt Illich modernes Lesen von monastischem Lesen erneut ab: Während der Pilger oder Fußgänger durch „illuminierte Buchstaben-Landschaften“ schreitet, hastet der moderne Leser einem Pendler oder Touristen gleich durch die Seiten Das Lesen als sinnliche, genussvolle Erfahrung habe sich heute durch Hast, „monotone Straßen“ und beständige Ablenkung zu einer sinnlichen Entbehrung gewandelt Statt geistige Erinnerungslandshaften anzulegen, werde heute auf schlichte „Erinnerungsfotos“ in Form von Kopien zurückgegriffen Diese hätten trotz der Vielzahl an erläuternden Illustrationen, Photographien, Tabellen und Graphen nicht annähernd den gleichen Erinnerungseffekt als jene „erleuchteten Buchstabenlandschaften“ Sie seien inzwischen zu losgelöst vom Text, der sich mit der Einführung von Absätzen fortan ohne Illustrationen selbst gliedert

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Um 1240: Das „wirklich“ tragbare Buch I: Bücher wurden erst im Zuge zahlreicher Neuerungen zu „wirklich“ „handlichen“ Objekten – also zu Büchern, die zum Halten in den Händen statt zur Ablage auf einer Stütze gedacht waren Zu Hugos Zeiten war die Bibel kein in einem Band gebundenes Gesamtwerk sondern eine Sammlung separater voluminöser Einzelbände Sie waren in Inhalt, Umfang, Layout und Ausmaßen für ihr jeweiliges Einsatzgebiet optimiert – als Evangeliar, als Epistolar, als Psalter etc. Die funktionale Aufteilung hatte zwei Ursachen: 1. Das verwendete Pergament war zu schwer und zu sperrig für eine Gesamtausgabe Pergament: Aus geglätteten Tierhäuten (Kälber, Ziegen, Lämmer, Schafe) hergestellt (nicht mit Leder zu verwechseln, welches gegerbt wird) Verschiedene Pergamentarten: Rollen: Ursprünglich in Streifen geschnitten, die gerollt und in Kolumnen beschrieben wurden Codex: Ab dem 2. Jahrhundert wurde das Pergament in Rechtecke geschnitten, gefaltet und zu einem codex (einem „Buch“ also) gebunden „Jungfernpergament“: Harter Tobak, da aus der Haut ungeborener Lämmer gewonnen Vorteil: Handlichere Bücher 2. Die Buchstaben waren zu groß Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts begann man, klein genug für eine Gesamtausgabe der Bibel zu schreiben

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Um 1240: Das „wirklich“ tragbare Buch II: Nichtsdestotrotz wog das Teil dann noch an die 5 kg und war damit immer noch nicht „wirklich“ tragbar Erst die Kombination aus Jungfernpergament und kleineren Buchstaben ermöglichte wirklich handliche Gesamtausgaben der Bibel Allerdings wurde das ach so pietätvolle Jungfernpergament schnell durch Papier abgelöst Nicht mit dem Papyrus der Ägypter zu verwechseln, welches aus sorgfältig präparierten Schilffasern in Lagen geflochten wurde Papier hingegen wurde aus Lumpen gewonnen: Die hieraus gewonnene breiige Zellulosemasse wurde zu Papier gepresst Zw. 100 v – 100 n. Chr. ursprünglich von den Chinesen erfunden Um 600 n. Chr. von den Koreanern und Japanern übernommen Dann über arabische Händler aus China nach Europa eingeführt – im 13. Jahrhundert über Spanien nach Paris gelangt Ältestes erhaltenes europäisches Schriftstück aus Papier um 1100 Irgendwann: Einführung der Tinte als billigen Beschreibstoff

44 Vom Buch zum Text Der „losgelöste“ und der „buchbezogene Text“ – die „Verschriftlichungsrevolution“ des 12. Jahrhunderts als Grundlage der Druckkultur des 14. Jahrhunderts: Die beschriebene Entwicklungen im 12. Jahrhundert ließen Illich zufolge den scholastischen Verstand überhaupt erst entstehen, veränderten also die Geisteshaltung der Gesellschaft bereits lange vor dem Buchdruck Das Buch habe in dieser Zeit im Zuge einer Verschriftlichungsrevolution den Symbolcharakter angenommen, den es bis heute habe: Und zwar als Symbol für den zwar sicht- aber nicht greifbaren „buchbezogenen Text“ Zwar hat sich der Text vom Buch in dem Sinne gelöst, dass er nicht mehr an das konkrete Manuskript sondern eher an den Autor gebunden ist – allerdings ist die Materialisierung der Abstraktionen des Autors nach wie vor buchgebunden (yo!). Buchgebundener Text meint damit also „an das Medium Buch gebunden“

45 Vom Buch zum Text Die Aufkunft des Textes als Gegenstand I:
Der Übergang zum Buchdruck mit beweglichen Lettern werde allgemein als Hauptwendepunkt in der Sozialgeschichte des Alphabets betrachtet Die Typografie wird als notwendige Voraussetzung gesehen für eine Art von Text, die aufgrund ihrer Standardisierung und Flexibilität in der Lage ist, Dichtung, Prosa & technische Schaubilder zu vermitteln etc. Für Illich entsteht jedoch bereits mit dem neuen scholastischen Schreiben eine neue Art von Text, die all dies ermöglichte: Der Text löste sich vom konkreten physischen Schriftstück – also meist von der das Weltbild bestimmenden Bibel: Damit war jedoch nicht mehr die Welt selbst der zu lesende „Gegenstand“ – vielmehr wurde die Welt zum Gegenstand, den es zu beschreiben galt 

46 Vom Buch zum Text Die Aufkunft des Textes als Gegenstand II:
Damit war jedoch nicht mehr die Welt selbst der zu lesende „Gegenstand“ – vielmehr wurde die Welt zum Gegenstand, den es zu beschreiben galt Die Welt wird fortan als kodierte Information verstanden Hatten sich Bibelexegese und Hermeneutik zu Hugos Zeiten noch mit der Welt in Form der Bibel beschäftigt, so wurde nun der die Welt beschreibenden Text des Autors untersucht Damit habe sich das Buch von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den Verstand (des die Welt beschreibenden Autors) gewandelt – von einem Symbol für die kosmische Wirklichkeit (das Wort Gottes/die Welt/des Sinns/Christus/die Offenbarung/die Erleuchtung/Weisheit/das Buch der Schöpfung und der Erlösung) zu einem Symbol für das Denken (Spiegel des menschlichen Verstandes) Der Text sei zu einem Gegenstand geworden, der fortan auch mit geschlossenen Augen – vom Buch völlig losgelöst – visualisiert werden kann Diese Entwurzelung des Textes von den Manuskriptseiten und die Loslösung des Buchstabens aus der Alleinherrschaft des Lateinischen habe zu einer Abstraktion des Textes geführt Trotz „Abhebens“ des Textes von der Buchseite sei das Buch nach wie vor metaphorisch „Hafen des Textes“ und „Hafen des Sinns“, der Text demnach also „buchgebunden“

47 Vom Buch zum Text Übergreifende Epoche des biblionomen Textes – das Buch als Hafen des Textes und des Sinns Für Illich sind diese Entwicklungen gleichbedeutend mit der Einführung der phonetischen Schrift um 400 v. Chr. und der Verbreitung des Buchdrucks im 14. Jahrhundert Er nennt diese Ära, die rund zwanzig Generationen angehalten habe, das „Zeitalter des biblionomen Textes“ Und dieses umfasse ebenso besagte Verschriftlichungsrevolution des 12. wie auch die Druckrevolution des 15. Jahrhunderts Ihm scheint also nicht daran gelegen, die gewaltigen Auswirkungen der Druckkultur zugunsten der Verschriftlichungsrevolution zu negieren als die Druckkultur vielmehr innerhalb der übergreifenden Epoche des biblionomen Zeitalters anzusiedeln

48 Vom Buch zum Text „Die Auflösung der alphabetischen Technik ins Miasma der Kommunikation“: Illich weist auf „eine andere epochale Wende in der Sozialgeschichte des Alphabets“ hin, die bereits eingetreten sei: Der mit dem Internet-Zeitalter aufkommende neue Text Hierin sieht er einen Text ohne Anker, dessen Autorschaft ungewiss oder (dem Leser) gleichgültig sei Ein Text mit willkürlicher Form und unbeständiger Existenz Das Buch sei in diesem Zeitalter nicht mehr Hafen des Sinns und verkomme zur bloßen Metapher für „Informationen“ Illich bedauert diesen Vorgang offenkundig und propagiert die Sicherung des Überlebens des biblionomen Lesers Er tritt für eine neue „Askese des Lesens“ ein

49 Quellen Illich, Ivan (1991J): Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos »Didascalicon«. Aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Kuchenbuch. In Reihe/Serie: Luchterhand Essay. Duve, Freimut Hrsg.; Luchterhand-Literaturverlag: Frankfurt a.M.; 215 Seiten.


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