Definitionen und soziokulturelle Entwicklungsfaktoren von Suchtkrankheiten H. Scholz Krankenhaus de La Tour und Abteilung für Psychosomatik in Waiern
Grundbegriffe - Abgrenzungen Sucht - Addiction Abhängigkeit - Dependency Missbrauch – Abuse, Misuse Toleranzentwicklung Unterschiedliche Abhängigkeitstypen Kreuztoleranz Kreuzsubstitutionswirkung
Unterschiedliche Abhängigkeitstypen Alkohol-Barbiturattyp Cannabistyp Halluzinogentyp Amphetamintyp Cocaintyp Morphintyp Nikotin Andere Analgetika (Saridon, Mischpräparate) Organische Lösungsmittel….. Kombinationen
Häufig diskutierte Hintergründe für Abhängigkeiten Charaktermängel Rücksichtsloser Hedonismus Unbeherrschtheit Willensschwäche Unverlässlichkeit Resultat unglücklicher Umstände z.B.: Arbeitslosigkeit
Tradierte wissenschaftliche Suchthypothesen Willensschwäche, Charaktermängel Anfälligkeit für Sucht durch psychische Krankheit z.B. Depressivität Entwicklungsstörung z.B.: „orale Schwäche“ Soziale Ursachen-z.B. Arbeitslosigkeit, Wohlstand Biochemischer Effekt des Suchtmittels
Aktuelle Sicht der Abhängigkeitsbildung Nachhaltige Stimulierung des Belohnungssystems durch „Schlüsselreize“ mit besonderer individueller Bedeutung Es entstehen verdeckte Lernprozesse Transmitter Veränderungen Neuroplastische Vernetzungen Umprogrammierung mesolimbischer Zentren „Suchtsignale“ speziell durch Nucleus accumbens
Belohnungssystem „Belohnung“ der Präferenz für bestimmte Nahrungsmittel, Drogen bzw. Handlungen durch vermehrte Dopaminausschüttung im ZNS Daraus ergeben sich verhaltensmodifizierende Funktion Hirnlokale Repräsentanz: Mesolimbische Zentren - Speziuell N. Accumbens mit mesolimbischer Dopaminbahn Natürlich in komplexer Interaktion mit anderen ZNS Regionen
Mesolimbische Dopaminbahn Enthemmung des Verhaltens Aus: D. Self, AJP 2004 Belohnung, Lernen, Motivation
Mesolimbische Dopaminbahn
Suchtentwicklung Bedingungsgefüge Belohnender Reiz + Suchtfördernde Basisfaktoren Aktivierung des Belohnungssystems Folgeschäden Z.B.. Schulden, Ängste Verdeckte Lernprozesse Abwehrmechanismen Neurobiologische Veränderungen Psychische Abhängigkeit Suchtverhalten
Kulturell historische Bedeutung von Rauschmitteln in verschiedenen Ethnien Als Heilmittel Als Hilfsmittel für Rituale Als Substanz für Privilegierte Zur Kompensation bzw. Ablenkung sozialer oder anderer existentieller Probleme „Ermutigung der Krieger“ Zur gezielten Schwächung bzw. Unterwerfung von Kollektiven
Konkrete Beispiele für Entwicklung und Ausbreitung von Abhängigkeitserkrankungen
Historische Entwicklung Schmerztherapie 1806 Morphinsynthese, Beginn moderner Schmerztherapie Erste Mißbrauchswelle, Bayer versendet gratis Heroinproben Extrem restriktive Suchtgiftverordnung Schmerzforschung, neue Opioide , Liberalisierung, Kritische Indikationsstellung koordinierte Schmerztherapie Unkritische Anwendung Gefahr neuer Restriktion
Ausbreitungsfaktoren für Opiate 19.-20. JHDT Verfügbarkeit/Werbung Subkulturen mit alternativen Normen gegenüber Suchtmitteln (Anomie) Generationenkonflikte - Einfluss der Peer Group Gruppenkohäsion als Motiv für Karriereanfang Analogien der epidemischen Ausbreitung zu Infektionskrankheiten (Alarcon 1969)
Reaktion auf Drogenproblematik 20 JHDT Unkenntnis, Verdrängung des Problems Passivität, fehlende Erfahrungswerte für frühes Gegensteuern Bagatellisierung des Schadenspotentials bzw. wirtschaftliche Ausnutzung Verurteilung - Kriminalisierung Krankheitsbegriff mit Behandlungsbedarf (Joel 1928) Gegenregulativ verstärkte punitive Einstellung - Verurteilung Ausgrenzung der Süchtigen Später Beginn konkreter Therapieprojekte
Entwicklung Suchtproblematik in Österreich seit Nachkriegeszeit Vor 1965: Strenges Opiatgesetz vereinzelt Opiatabhängige aus therapeutischem Milieu - Ärzte, Pflege, Apotheker 1960/70:Änderungen des Angebots-Drogen mit Einzelweitergabe 1966 erste Erwähnung einer „Rauschgiftorgie“-7 Personen, ein Erwachsener Zunehmend organisierter Markt Motive Neugier/Alternativkulturen Träge Reaktion der Verantwortlichen
Entwicklung in Vorarlberg Ab 1970 zunehmende Infiltration von Drogen aus benachbarten Regionen Rasche Entwicklung einer „Szene“ Nach anfänglicher Verdrängung anfangs noch unkoordinierte Präventionsarbeit Ab 1979 stationäre Therapie Krankenhaus Maria Ebene 1981 Drogenstation Carina, sukzessiver Ausbau von weiteren Einrichtungen Beratungsstellen und Ambulanzen
Entwicklung in Kärnten Bis ca. 1985 vereinzelte Cluster, Hauptverteiler Wien „Insel der Seeligen“ Präventionsansätze fragmentarisch, meist in Vorwahlzeiten Mit zunehmender Ausbreitung Tendenzen zur ideologischen Vereinnahmung - Schuldzuweisungen Seit etwa 5 Jahren konkrete Maßnahmen systematischere Präventionsarbeit Drogenambulanz Drogenforum Planung weiterer Ambulanzen- stationäre Einrichtungen
Slowenien 1984 Schreiben der Sanitätsbehörde mit dem Vorschlag restriktiver Abgabe von Benzodiazepinen, da diese anstelle harter Drogen eingesetzt würden In den folgenden Jahren zunehmende Ausbreitung illegaler Drogen Erhebliche therapeutische Versorgungsprobleme
Lebensalter und Drogenproblematik Illegale Drogen kein ausschließliches Jugendproblem mehr z.B. Chinatowns Jede Lebensphase hat spezielle Drogen Im mittleren Lebensalter kaum Cannabis Neueinsteiger, eher Kokain, Opiate (aus medizinischen Ressourcen) Im höheren Lebensalter Alkohol, Tranquilizer, Hypnotika, Analgetika
Geschlechtsspezifische Aspekte Einschätzungen der Geschlechtsverteilung früher 5:1 jetzt 2-3 männl : 1 weiblich – Unterschiedliche Einstiegsmotivationen-männlich soziale Anpassung, Mut, Experiment, Aggressivität weiblich Partnerschaften, selbstaggressive Tendenzen Erhebliche ethnische und soziokulturelle Varianten
Fehlerhafte kollektive Reaktionen auf die Entwicklung des Drogenproblems Verleugnung, Ausblendung Wechselseitige Schuldzuweisungen bzw. ideologische Vereinnahmung der Problematik Fehlende Koordination Abrupter Wechsel zwischen permissiv und restriktiv Unkonstante fehlerhafte Präventionsarbeit
Reaktionsabläufe der Gesundheitssysteme Anfangs Ignorieren des Problems Abstinenzempfehlungen ohne entsprechendes stationäres Angebot Ab 1970/80 vereinzelte stationäre Zentren, therapeutische Gemeinschaften -oft instabil Methadonerlass zuerst mit strenger Selektion später Entwicklung permissiver Strategien Noch keine feste Relation zwischen Substitution und Abstinenzangebot
Historische Entwicklung Substitution Methadon in Labors der IG Pharmaindustrie entwickelt und 1945 in U.S.A registriert Erste Studien von Isbell 1948 - weniger euphorisierend, aber protrahierter Entzug Dole und Nyswander 1965: Blockade von Euphorieeffekt an Morphinrezeptoren gegenüber Heroin „Crash-Programme“ in den U.S. Rasche Verbreitung in U.S.A., England, Holland, Schweiz
Ursprüngliche Erwartungen in Substitutionsprogramme Verringerung der sozialen Drogenprobleme und der Mortalität Verminderung der Beschaffungskriminalität bzw. Beschaffungsprostitution Verringerung der AIDS, Hepatitis Infektionsrisiken Erster Schritt zur Abstinenz Rückführung zum Arbeitsmarkt Hoffnungen auf generelle Eindämmung des Problems – Reduktion der Dealerexpansion
Ursprüngliche Tendenzen im ersten Erlass Abgabe streng kontrolliert - überwiegend in Apotheken Exakte Selektion geeigneter und motivierter Patienten Strenge Kontrollauflagen Ausdrückliche Forderungen nach umfassender psychosozialer und suchttherapeutischer Betreuung
Entwicklung der Substitutionstherapie in Österreich Um 1987 anfangs in den Bundesländern nur einzelne Patienten Deshalb anfangs kein ausreichender Aufbau von Betreuungseinrichtungen Abbau von Restriktionen - großzügigere Indikationsstellung für Substitution Explosionsartige Steigerung der Substituierten (Vlbg. 400, Kärnten: 150, Wien über 3000 Ab 2002 zusätzlicher Einsatz von Substitol®, Compensan®, Subutex ®
Positive Konsequenzen durch Substitution Bessere Unterstützung sozial angepasster Abhängiger Teilweiser Abbau der Verdrängung des Drogenproblems in der Öffentlichkeit Verminderung Beschaffungsprostitution Verringerung der AIDS/Hepatitis Infektionsrisiken. Vermehrte (allerdings einseitige) Forschungsaktivitäten Entwicklung neuer Substitutionssubstanzen bzw Konzepte
Negative Konsequenzen der Substitutionstherapie Einseitigkeit, Dominanz der Substitution in vielen Regionen Verdrängung der Abstinenzangebote Substitutionssubstanzen im illegalen Markt Todesfälle - schlechtes Signal an die Öffentlichkei Reduktion der Dealerexpansion : wenig wahrscheinlich Integration in Arbeitsmarkt : Nur im Einzelfall Keine allgemein gültige Kriterien für Therapiestrategie Ungeklärte Vorgangsweise bei unkooperativen Patienten
Konkrete Konsequenzen für Versorgungssituation in Kärnten Kaum Abstinenzangebote Ausstieg aus Substitution nur sporadisch möglich – fehlende Strukturen Keine langzeitigen Nachbehandlungen für Abstinente Mit Abstinenzbeginn oft Ende aller sozialer Unterstützungen ev. Führerscheinverlust durch Abstinenz
Möglichkeiten zur Verbesserung Ausarbeitung konkreterer Kriterien für Abstinenztherapie bzw. Substitution Schaffung ausreichender Therapieplätze Entideologisierung Bessere Vernetzung aller therapeutischen Instanzen Langzeitkonzept
Reaktionsmuster in der Pädagogik Anfangs Ignorieren des Problems bzw. Außenprojektion „meine Schule ist drogenfrei“ Vorwiegend alibihafte Prävention durch Einzelveranstaltungen- Suchtgefährdete ausgegrenzt Erst seit kurzem systematischere Prävention und Ausbildung von „Vertrauenslehrern
Fehlerhafte Präventionsarbeit im bisherigen Entwicklungsverlauf Schwerpunkt auf „Aufklärung“ Verdrängung der Hintergründe Begeisterte Laien(prediger) Undifferenziertes Programm für alle Zielgruppen Singuläre kurzfristige Aktivitäten Ideologisierung, Lagerbildung Alibidiskussionen statt Arbeit (z.B. Cannabislegalisierung)
Für erfolgversprechende Präventionsarbeit erforderliche Kriterien Langfristigkeit Professionalität Zielgruppenorientierung- Einbindung der jeweiligen Kollektive (Jugendliche,Eltern , Lehrer) Integration unterschiedlicher Lager Vermeidung unnötiger Konflikte in der Öffentlichkeit Professionelle Öffentlichkeitsarbeit!
Wünschenswerte Schritte für die regionale Versorgung Flächendeckendes Angebot von Therapiemöglichkeiten für Substitution und Abstinenztherapie Klare nachvollziehbare Kriterien für Entscheidung zwischen Substitution und Abstinenztherapie Vermehrte Ausbildung von Pädagogen und Ärzten - sachlich-ideologiefrei
Nicht stoffgebundene Abhängigkeitsvarianten
Häufigere Varianten nicht stofflicher Suchtformen Spielsucht Suchtartig entgleistes Arbeitsverhalten Sexuelle Suchtvarianten Computer ? Macht? Geld?
Unterschiedliche Varianten am Beispiel Spielproblematik „Normales Spielen“- physiologisches Bedürfnis Problematisches Spielen Süchtiges Spielen Endzustand mit irreversibler psychosozialer Isolation
Abhängigkeitsfördernde Faktoren Familiäre Disposition bzw.Belastungen Psychosoziale Risikofaktoren Gesteigerte Euphorieerwartung Realitätsveränderung-Größenphantasien Verdrängung realer Lebensprobleme Hohe soziale Verstärkung bei Gewinn
Familiäre Vorbelastungen bei Spielsüchtigen Undurchschaubarer Erziehungsstil z.B. Wechsel Versagung/Verwöhnung Ablehnender Elternteil - Verunsicherung Extrem kompetitive Eltern Persönlichkeitsstörungen Eltern Missbrauch bzw.Abhängigkeit (Alk, Med., Spielsucht etc.)
Entwicklungskonzept der Spielsucht(Custer et al1985) Vulnerabilität als Voraussetzung z.B. Selbstunsicherheit ,familiäre Faktoren etc. “Gewinnphase” - magische Bedeutung des Geldes als Macht, Zuwendung, Beachtung... “Verlustphase”- Ärger ,Angst- neuerliches Spielen zur Abwehr - “chasing” “Verzweiflungsphase” oft nach “Freikauf”-Euphorie - Kontrollverlust, Normenabbau - Kriminalität,Isolierung
Abhängigkeitszüge bei Glücksspielern Toleranzerhöhung gegenüber Risiken Imperative Impulse “CRAVING” Bei Spielabstinenz Unlust, Dysphorie etc. Zentrale Bedeutung des Spielens Psychosoziale Depravation, Isolierung Tendenz zu Mehrfachabhängigkeiten Abwehrmechanismen
Unterschiede zu Substanzabhängigkeiten Toxische Organschäden Kognitive Ausfälle Gesundheitsprobleme Keine toxischen Organschäden Kaum kognitive Ausfälle Finanzielle Probleme
Therapie Spielsucht Motivationsarbeit Veränderung pathologischer Kognitionen-“Einsicht“ Entlastung Erlernen alternativer Strategien Rückfallsprävention Langzeitkonzept-soziale Reintegration
Konkrete Probleme Unwissen auch bei „Fachleuten“ Risikoverleugnung in der Bevölkerung Verdrängung pathologischer Entwicklungen bei den Gefährdeten bzw. Profiterwartung
Differenzierung nach Spielformen Ausschließlich Automaten 39.1 % Automaten und andere 45.2% Ausschließlich Casino 10.4% Ausschließlich Lotto/Toto 2.6% Ausschließlich Wetten 1.7% Ausschließlich Karten 0.9%
Regionale Zugehörigkeit Wien 37.4% Kärnten 22.6% Steiermark 22.6% Salzburg 7.8% Oberösterreich 3.5% Niederösterreich 3.5% Tirol 0.9% Ausland 1.7%
Epidemiologische Entwicklung der Spielsucht in Kärnten Bis 1997 Anteil der Kärntner Spieler unter 1% Seit Legalisierung des „kleinen Glücksspiels kontinuierlicher Anstieg der Kärntner Patienten auf 20% Aufbau von Ambulanzen in Klagenfurt und Villach
Prävention Spielsucht Information, Öffentlichkeitsarbeit Frühe Erfassung von individuellen psychosozialen Risikofaktoren „Spielerbetreuung“ Gesetzliche Maßnahmen zur Risikoverminderung