Rituale im Wandel von Familien und professionellen Organisationen

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Individuelle Problemlagen haben einen strukturellen Hintergrund.
Advertisements

Aktuelle Befunde (religionssoziologisch)
Ausgangsfragestellung
Inkrementelle Entwicklung von virtuellen Kooperationsstrukturen
Mathematik 9. Jahrgang: Zentrische Streckung
Die große Pause als Chance für einen freundlichen Umgang
Wurzeln der Gemeinwesenarbeit
Projektumfeld Gesellschaftliche Strömungen Strukturen/ Gliederung
Effiziente Klassenführung
Wandel privater Lebensformen
Einführung in die Internationalen Beziehungen
Patrick Rössler Einführung in die Methoden der empirischen Kommunikationsforschung Vorlesung BA Kommunikationswissenschaft.
10. Sitzung Lernort Familie
Theorie soziotechnischer Systeme – 11 Thomas Herrmann Informatik und Gesellschaft FB Informatik Universität Dortmund iundg.cs.uni-dortmund.de.
Arbeitsgruppe 2 Arbeit und Beschäftigung
BERATUNG KANN MEHR FRAUENSPEZIFISCHE BERATUNGSFORMEN ZWISCHEN LÖSUNGSORIENTIERUNG UND THERAPIE PROF. DR. SABINE SCHEFFLER ZENTRUM FÜR ANGEWANDTE PSYCHOLOGIE.
Schulinterne Krisenteams
Systemische Sicht von Lern- und Entwicklungs-schwierigkeiten
Modellbildung in der Geoökologie (G5, 103) SS 2004
Grundkonzepte der Bindungstheorie
Nein! ITP! Hip Hop? Der Bericht „Individuelle Förderpläne für den Übergang von der Schule in den Beruf“ hier in Anlehnung an die englische Version „ITP“
Capability Approach – was ist das?
Prof. Dr. Fritz Böhle WS 2007/2008 Referentin: Beata Lutz
Lehrerkonferenz an der Grundschule Röttingen
Finanzierung von Fundraising Wo kommt das Geld fürs Fundraising her? Referent: Kai Fischer Dresden, 9. Sept
Theodizee-Problem – die atheistische Anfrage
„Wer aufhört besser zu werden, hört auf gut zu sein.“
Technische oder personenorientierte Lösungen?
Vorlesung 1 Methoden & Diagnostik in der Sozialen Arbeit
Familiendynamik bei schwerer Erkrankung
Zeit, Ort und Weg Geschwindigkeit Beschleunigung
Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz
Lebensraum Gruppe Was ist eine Gruppe bzw., aus wievielen
Dissoziation: Definition
Tagesheime Zug Unser Leitbild. Wir machen uns stark für familienergänzende Kinderbetreuung… Wir engagieren uns als Nonprofit-Organisation für ein bedarfsorientiertes,
Vorlesung 8. Juni 2010 Einführung in die Pädagogik.
§3 Allgemeine lineare Gleichungssysteme
Übersicht: Gesellschaft, Kultur, Institution, Organisation
Eidgenössisches Finanzdepartement EFD Eidgenössische Finanzverwaltung EFV Vorhaben E-Rechnung Review-Unterstützung durch ffO EFV.
Ausgangssituation: Erkrankt ein Mitglied eines Familiensystems schwer, führt die Diagnosestellung immer zu einer vorübergehenden oder langanhaltenden.
Energiegenossenschaften als Protestbewegung
Gewußt Wo – Vernetzen in Worms
Der Einstieg in den Preisspiegel geschieht aus der LV-Ansicht durch Anwahl des Punktes Preisspiegel in der Menüleiste.
OE- Ansatz des isb CC-by-Lizenz, Autor: Bernd Schmid für isb-w.eu
Einführung zu «Lernen als individuelle Entwicklung und soziale Interaktion» Nach Illeris (2010)
Mein Kind kommt in die Schule
Willkommen zum Seminar
Schulinterne Krisenteams
Prof. Dr. Peter Faulstich
2. IT-Weiterbildung mit System 2. 2
IST-Frankfurt Psychotherapie ohne Spiritualität? Eckhard Roediger
1 Thema: Regionale Strukturen entwickeln – Planung von regionalen Veranstaltungen Projektbüro Inklusion.
Inhalt Einordnung und Funktion der lexikalische Analyse Grundlagen
Themenabende Die Themenabende verbinden Erfassen über den Verstand und körperliches, intuitives Begreifen: Kurze Power-Point-Vorträge führen in das jeweilige.
Nimm das gute Land ein, das Gott dir gibt!
1 Neue Regionalgeographie Regionalgeographische Ansätze im Unterricht der sekundar Stufe 1.
Präsentation Unternehmens- organisation.
SysBO an RS 2.VeranstaltungWürzburg 4. März 2015 Systematische Berufsorientierung an Realschulen in Unterfranken Gerhard Waigandt Teamleiter Berufsberatung.
Copyright © Prof. (FH) Dr. Gölzner
leistungsbild wege zum konzept 1 7 Was ist Entwerfen? - try and error Entwerfen ist eine besondere Form des Problemlösens. Die Schwierigkeit.
Disability Mainstreaming Impuls auf der 4. Sitzung der ressortübergreifenden Arbeitsgruppe „Leitlinien der Berliner Seniorenpolitik am Christine.
Trialogische Arbeit mit Borderline - hilfreicher Ansatz für alle oder individuelle Hilfe im Einzelfall? ANJA LINK Dipl.-Sozialpädagogin (FH) Borderline-Trialog.
Moderne Gesellschaften I: Entstehung, Dynamik, Steuerung A.Prof. Dr. Gerda Bohmann.
3.2. Potentielle und kinetische Energie
Die Präsentation ist ein Ergebnis des Forschungsprojektes inno.de.al (siehe das vom BMBF gefördert wurde © inno.de.al Arbeitshilfe Präsentation:
Hilfs-Indikator Indikator
Pastor Jürgen Tischler Eine Aktion der missionarischen Gemeindedienste.
Instituetik von Kindertageseinrichtungen Prof. Dr. Michael-Sebastian Honig.
Vorlesung im Rahmen des Deutsch-Französischen Dozenten-Austauschprogramms „Minerve“ Dr. Matthias Hanauske Institut für Wirtschaftsinformatik Goethe-Universität.
Rituale im Wandel von Familien und professionellen Organisationen
 Präsentation transkript:

Rituale im Wandel von Familien und professionellen Organisationen DATUM Nr. Rituale im Wandel von Familien und professionellen Organisationen (Rituale in sozialen Systemen) Bruno Hildenbrand Institut für Soziologie Worum soll es gehen? Auf einer Tagung 1999 haben Gunthard Weber und ich eine Aufstellung diskutiert. In meinen kritischen Bemerkungen zu dieser Aufstellung habe ich einen entscheidenden Satz übersehen: „Als erstes dramatisiere ich die Situation“ (S. 143). Von da aus entwickelte sich ein weiteres Missverständnis. Es bezieht sich auf den Zusammenhang ritualisierter Lösungssätze und das Entstehen von Neuem. Ein Konzept zu Krisen und deren Bewältigung im Alltag und im therapeutischen Prozess, mit dem ich mich seither befasst habe, erleichtert es, diese Missverständnisse zu korrigieren. Am Beispiel dieses Missverständnisses ist es möglich, allgemeinere Überlegungen zum Zusammenhang von Ritualpraktiken und Aufstellungsarbeit zu reflektieren.

Ein Konzept von Wandel 1 Gleichgewicht Krisen als Situationen der neues Gleich- Weichenstellung gewicht Initial: Streben nach Reintegration Gleichgewicht Destabilisierung Resilienz Chaos Frederic Flach 2004, S. 14 Trajekt Dieses Konzept, das ich von Frederic Flach, einem amerikanischem Arzt, übernommen habe, modelliert Krisen und ihre Bewältigung im Allgemeinen, also auch im Alltag. Der Begriff „Trajekt“ stammt von Anselm Strauss. Er fehlt bei Flach, und damit bleibt sein Konzept in gewisse Weise statisch. Zunächst aber zum Krisenzyklus:

Ein Konzept von Wandel 2: weitere Perspektiven Einbruch in die Futur-II-Perspektive (W.B.) Stagnation des Werdens (v.G.) („nur vom Betroffenen Krise als Vorbote von Wandel aus realisierbar“): v. W. (RWE); Prolepsis (v. W.) Das in der Krise befindliche Wesen ist aktuell nichts und potentiell alles (v. Weizsäcker). Das Werden jenseits von Plan und Berechnung (Jaspers: Freiheit jenseits von Festgelegtheit/Sprung. Binswanger: Träume als Möglichkeiten). V. Turner: Liminalphase. „dissipative Strukturen“ (Zufälle/instabiles System/Neues, Jürgen Kriz). Exodus. Flachs Konzept ist zu einfach, aber es kann angeschlossen werden an Positionen der Medizinischen Anthropologie, an die existentiale Phänomenologie, an die Daseinsanalyse, an die Ritualtheorie Viktor Turners und an die Theorie dissipativer Strukturen. Und an das 2. Buch Mose. Diese Vielfalt möglicher Anschlüsse zeigt, dass eine zentrale Prozessfigur erfasst ist, die aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven betrachtet werden kann.

Der Exodus (2. Buch Mose) ist das Urmodell aller Übergänge Ablaufmuster: Problem (Sklaverei in Ägypten) Kampf (die Wüste) Die Lösung (das Gelobte Land)

Phasen eines Trajekts (1) Die Krise zeichnet sich ab, aber die damit verbundenen Symptome werden ausgeblendet. (2) Wird die Krise offenkundig, beginnt das Trajekt. (3) Die Interaktionen, die daraufhin eingeleitet werden, formen den möglichen Verlauf des Trajekts. (4) In akuten Phasen spitzt sich die Situation zu. (5) In Phasen der (Re-)Stabilisierung kann ein labiles Gleichgewicht wiedergefunden werden. (6) Es kommt aber immer wieder zu Destabilisierungen, woraufhin neue Aktionen folgen. Nun also zum Trajektbegriff. Er deutet macht darauf aufmerksam, dass es in der Regel nicht bei einem Krisenzyklus bleibt, wenn Krisen bewältigt werden sollen: weder im Alltag noch in der Therapie. Das ist wichtig, wenn es um die Frage geht, wie oft in einem Beratungs- oder Therapieprozess rituelle Inszenierungen erforderlich sind. Die Bandbreite reicht von der einmaligen Familienaufstellung bis hin zum Hausarztmodell.

Wandel Eine gelungene Sequenz von Krisenbewältigung setzt den Rahmen für weitere gelingende Krisenbewältigungen (Emmy Werner). Zentral dabei ist, in welcher Form das Trajekt (der Bewältigungsverlauf) eingespurt wird und welche Arbeit in den Verlauf gesteckt wird (Corbin & Strauss). Rituale unterstützen diesen Prozess (nächste Folie) In anderen Worten nochmals dasselbe, dieses Mal mit einem Anschluss und einer Kritik an der Resilienzforschung

Rituale: allgemeine Definition „Durchsetzen eines Sinns, der nicht mehr hinterfragt werden soll“ (C. Lévi-Strauss). Übergangsrituale: Konfliktlösungsverhalten an neuralgischen Punkten standardisieren und die auftretenden Probleme überschaubar und kalkulierbar erscheinen lassen (K.E. Müller) Mit den Phasen: Trennung/Reinigung/Wieder-angliederung. Hier die Definitionen zu Ritualen im Allgemeinen und Übergangsritualen im Besonderen, mit denen ich arbeite. Ich fasse mich kurz, denn ich will keine Spatzen nach Athen tragen, wo bekanntlich die Eulen fliegen.

Rituale in der Familie Evan Imber Black: Funktionen von Ritualen in Familien: Beziehung schaffen Verändern Heilen Feiern Zurück zum Ablaufmuster Übergänge. Die Reihenfolge der aufgezählten Rituale könnte dem Ablauf eines Therapieprozesses entsprechen. Aber Vorsicht: ein Ritual des Feierns kann auch zu früh kommen.

Rituale in professionellen Organisationen Henry Mintzberg: Maschinenbürokratie: Standardisierung der Arbeitsprozesse; Dominanz der Technostruktur Professionelle Bürokratie: Standardisierung der Fähigkeiten; Dominanz der operativen Basis Beispiel: Die Transformation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland 1990 als doppelter Transformationsprozess: KJHG Wende, Neuaufbau der Kinder- und Jugendhilfe in der ehemaligen DDR, Einrichten von Jugendämtern

Das Paradox des Rituals in professionellen Organisationen Tom Levold: Rituale stiften Einheit durch unhinterfragte, für selbstverständlich hingenommene Prozesse Mitglieder professioneller Organisationen sind auf Reflexivität angelegt Reflexivität aber liegt quer zum Ritual Ritualisierungen in professionellen Organisationen müssen also reflexiv abgesichert werden Soll Wandel in professionellen Organisationen durch Rituale unterstützt werden, muss das Paradox des Rituals beachtet werden. Die Diskussion um dieses Paradox kann ihrerseits wieder Wandlungsprozesse in Gang setzen. Beispiel: Rituale in Organisationen, die traditionell „demokratisch“ angelegt sind, die Ausprägung von Hierarchien verweigern, was zu einem System kollektiver Verantwortungslosigkeit führen kann.

Zusammenfassung Rituale können Prozesse des Wandels in Familien wie auch in professionellen Organisationen nachhaltig unterstützen Ein Wandlungsprozess kann sogar in der Struktur eines Rituals organisiert werden (Exodus) In der reflexiven Moderne hat das Ritual jedoch seine Selbstverständlichkeit eingebüßt, es muss reflexiv begründet werden Das ist ein Paradox, dessen Bearbeitung selber Veränderungspotentiale birgt

Aufstellung als Übergangsritual (vollständiger Krisenzyklus) (Babis & Schwester, vgl. Hildenbrand & Weber 2002) Babis hat kein spezielles Anliegen, aber er befindet sich, wie er sagt, in einer lang anhaltenden Ablösekrise. Indem Babis seine aktuelle Situation aufstellt, aktiviert er die Homöostase. Der Aufsteller dramatisiert die Situation, indem er die Aufstellung verändert: Destablisierung, Chaos. Lösungsaufstellung: Reintegration, neues Gleichgewicht. Bewusst ritualisiert. Ich komme nun zu dem eingangs erwähnten Aufsatz in unserem Buch Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie.

Die Aufstellung und das Neue Ein Krisenzyklus wird exemplarisch durchgespielt, das Neue wird durch Rückgriff auf rituelle Praktiken verankert. Trajekt: zunächst ohne weitere therapeutische Unterstützung, ggf. eine weitere Aufstellung zwei o. drei Jahre später. Rituelle Reintegration universeller Strukturen als Anstoß zum Entstehen von Neuem (Übergang): Permutation. Die Lösungssätze folgen dem Schema: Trennung/Angliederung (wo ist die Reinigung?) In Form eines Angebots (=Möglichkeiten) Nun wieder zur Aufstellung der Familie von Babis und Schwester. Dieses Mal unter Rückgriff auf das eingangs vorgestellte Konzept von Krise und Wandel. Blau markiert ist, was ich beim Wiederlesen an meiner Einschätzung zu verändern habe.