Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Nachkriegszeit

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Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Nachkriegszeit

Überblick Osteuropa: Sowjetisierung von Gesellschaft und Politik Westeuropa: wirtschaftliches Wachstum bis 1973, danach langsameres Wachstum. Grenzen des Sozial- und Wohlfahrtsstaats in Westeuropa Sechziger Jahre Rolle des Staates in der Gesellschaft

Das Schicksal Osteuropas Sowjetunion während des Krieges: fortschreitende Militarisierung von Gesellschaft und Politik Nachkriegszeit: Die Breschnew-Generation setzt Macht und Erfolg mit expandierender Rüstungsindustrie gleich Sowjetunion: knüpfen an Politik der Nazis an: willkürliche Ausbeutung

Kollektivierung Überall in Osteuropa, aber Intensität und Geschwindigkeit variieren Rumänien: abgeschlossen 1962 Bulgarien: abgeschlossen bis Ende 1950er Ungarn und Tschechoslowakei: später Beginn (Mitte 1950er), abgeschlossen bis Mitte 1960er Polen: Ausnahme: Duldung unabhängiger Kleinbauern

Wirtschaftliche Ergebnisse Wirtschaftliche Deformierung und Unterentwicklung Kaum Berücksichtigung des Gesetzes vom komparativen Vorteil

Sowjetisierung: Verhaftungen, Verfolgungen, Deportationen Ungarn: jede dritte Familie ist direkt betroffen Rumänien: u.a. Zehntausende kommen während des Baus des Donau-Schwarzmeer-Kanals ums Lebens

Sozialistisches Recht “Der Anwalt stützt sich auf die ausgereifte, einzig richtige und wahrhaftige Wissenschaft der Welt, auf die sowjetische Rechtswissenschaft, und er verinnerlicht die Erfahrungen sowjetischer Rechtspraxis. Eine unausweichliche Notwendigkeit unserer Zeit ist der sich verschärfende Klassenkampf. Stephan Rais, tschechischer Justizminister 1952

Gesellschaftliche Auswirkungen Intellektuelle: kooptiert oder eingeschüchtert Militär: unter starker Kontrolle der Sowjets Zerstörung der Mittelschichten und Vertreibung ethnischer Minderheiten eröffnet Arbeiterschichten neue Möglichkeiten: garantiertes Einkommen, vertikale Mobilität

Das alte Europa Ich verbrachte meine Kindheit und Jugend in Fabrikstädten und ihren Vororten, zwischen Ziegeln, Ruß, Schloten und gepflasterten Straßen. Wir nahmen die Straßenbahn für kürzere Fahrten und Züge für längere. Wir kauften für jedes Essen frische Lebensmittel, nicht weil wir Gourmets waren, sondern weil wir keinen Kühlschrank besaßen. Meine Mutter stand jeden Morgen in der Früh auf und machte im Wohnzimmer Feuer. Fließendes Wasser gab es nur in einer Temperatur: eiskalt. Wir kommunizierten mit Hilfe von Briefen und der Post, und wir bezogen unsere Nachrichten vor allem aus der Zeitung. (Doch, wir waren einigermaßen modern, wir hatten ein Radio von der Größe einer Kommode). Die ersten Klassenzimmer, die ich kennen lernte, hatten dickbäuchige Kachelherde und Tische für zwei mit Tintenfässern, in die wir unsere Federn tauchten. Wir Jungen trugen bis zur Kommunion kurze Hosen, also bis 12. Das war Nachkriegseuropa. Die Nachkriegszeit war eine Jahreszeit, die fast zwanzig Jahre dauerte. (Luc Santé, wallonischer Schriftsteller)

Das alte Europa links: Bergleute, Belgien 1952; rechts: Unterkünfte von Bergleuten 1952

Das alte Europa links: Charleroi 1952; rechts: Wallonie, auf dem Land, 1959

Kohle und Smog (Foto: London 1955)

Religion Kontinuität, Sicherheit, Geborgenheit (Foto: Beisetzung von Papst Pius XII, 1958)

Goldene Jahre des Kinos

Gesellschaftstanz

Lebensstandards Breite Mehrheit: Leben in bescheidenen Verhältnissen Italien in den frühen 1950ern: jede vierte Familie ist arm, dem Rest geht es wenig besser. Nur jede vierte Familie hat eine Toilette in der Wohnung Rationierung in Großbritannien bis 1954

Implikationen für Politik Depolitisierung Unvermögen von Faschisten und Kommunisten, das harte Alltagsleben für ihre Zwecke zu nutzen Häusliche Erholung und bescheidener persönlicher Verbrauch statt Partizipation im öffentlichen Raum

J.H. Plumb (englischer Sozialhistoriker) über Stabilität “There is a general folk belief, derived largely from [Edmund] Burke and the 19th century historians, that political stability is of slow, coral-like growth; the result of time, circumstances, prudence, experience, wisdom, slowly building up over the centuries. Nothing is, I think, further from the truth. Political stability, when it comes, often happens to a society quite quickly, as suddenly as water becomes ice”

Politik in den langen 1950er Jahren Reformorientierte Christdemokraten Parlamentarische Linke Konsens, tradierte ideologische oder kulturelle Differenzen zu überbrücken. Kein Interesse an politischer Polarisierung und Destabilisierung Entpolitisierte Bürgerschaft

Bundesrepublik Deutschland Zuschnitt und Kompetenzen der Institutionen in bewußter Abkehr von Weimar Föderalismus und Kanzlerdemokratie De facto Korporatismus Christdemokraten: Deutungshoheit in Sachfragen Sozialdemokraten: lösen sich erst 1959 von Karl

Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik unter Adenauer: Opfer (Fotos: Die Weiße Rose, 1942; Dresden 1945; Nürnberger Prozess 1946) Verführer Hitler: die meisten von uns waren gegen den Krieg Alliierte: Sie haben unsere Städte zerstört Alliierte Propaganda: Ja, Verbrechen geschahen – aber durch führende Nazis. Wir litten

Frauen und Stabilität: Selbstverständnis und Rollenzuweisung Deutsche Frauen: vielfach traumatische Erinnerungen an 1945 Überall in Europa: viele Frauen arbeiten in schlecht bezahlten Tätigkeiten Familie, Haushalt, Privatleben Rhetorik von Nation, Nationalismus, Wiederaufrüstung, ideologischer Konfrontation sind nicht anschlußfähig

Bevölkerungswachstum in ausgewählten Ländern Westeuropas, 1950-1970 (in %)

Warum? Optimismus und … Milch

Economic Recovery after the war

Wachstumsraten in Westeuropa, 1913-1950 – 1950s (jährliches Pro-Kopf-Wachstum)

Wachstum: Gründe Öffentliche Investitionen in Wohnungsbau und Infrastruktur Private Investitionen und amerikanische Direktinvestitionen Anhaltendes Wachstum im Außenhandel, der sehr viel mehr zunimmt als Produktion in den meisten westeuropäischen Ländern Zunehmende Produktivität der Arbeitnehmer Moderate Lohnzuwächse

Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt, 1950 und 1973 (in %) (1938 und 1980 für die Schweiz)

Einschätzungen des Staates seit den 1980er Jahren Kompetenzen des Staates werden in Zweifel gezogen Unerfüllte Versprechen: Arbeitslosigkeit, phasenweise Inflation, alternde Bevölkerung, geringes wirtschaftliches Wachstum Abnehmende Steuerungsfunktionen des Staates gegenüber Kapitalmärkten und elektronischer Kommunikation Vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager

Der Staat? Toll! Staat kann Aufgaben besser lösen als wenig regulierte Märkte Gewährleistet Gerechtigkeit und Sicherheit, verteilt Güter und Dienstleistungen, sorgt für sozialen Zusammenhalt, steht für Normen und Werte und kulturelle Entwicklung Staat ist Planungsinstanz, Koordinator, Ermöglicher, Versorger, Wächter

Leistungen Sozial- und Wohlfahrtsstaat wird von Sozialdemokraten, paternalistischen Katholiken, Konservativen und Liberalen aufgebaut Wandel von einem Programm der Grundsicherung sozialer und wirtschaftlicher Leistungen im Notfall hin zu einem komplexen System, das Ansprüche befriedigt, soziale Sicherheit garantiert, vielfältige Leistungen gewährt und Einkommen umverteilt Nutznießer: Bauern, “untere Mittelschichten”, Bürokraten, Demokratie

Migrationen Land-Stadt (Südeuropa, vor allem Portugal) Süd-Nord-Migration (Südeuropa, z.B. Spanien und Italien) Individuelle Migration Migration infolge von Regierungsabkommen (beispielsweise in die Schweiz, BRD, Niederlande) Migrationen von Europa (Niederlande, Großbritannien) und nach Europa (ehemalige Kolonien)

Migration im Bild Portugiesen schiffen sich nach Brasilien ein, 1954; Sizilianer auf dem Weg nach Argentinien, 1955; Ankunft des Millionsten “Gastarbeiters” in der BRD, 1959; Wohnung von Arbeitsmigranten, BRD 1972

Konsumgesellschaft 1950: ein durchschnittlicher westeuropäischer Haushalt gibt mehr als 50% des Einkommens für Lebenshaltung aus: Essen, Trinken, Tabakwaren. Zwei Jahrzehnte nach 1953: Reallöhne verdreifachen sich in der BRD und in Benelux; in GB verdoppeln sie sich. 1965: Nahrungsmittel und Kleidung absorbieren nur noch 31% des Nettoeinkommens in Großbritannien. In Nordwest- und Westeuropa liegt der Prozentsatz unter 25.

Vom Luxus zur Massenware

Produktion von Wünschen “Create desire strong enough to overcome the natural antipathy to parting with money and you will make sale after sale.” (Burton Manager’s Guide, 1953)

Konsum im Bild Waschmaschine, 1952; Kühlschrank, 1955; VW Käfer 1950; Goggomobil Limousine, 1958; 2CV 1990

Fernsehen Bis in die frühen 60er Jahre: Radio ist das wesentliche Medium von Information und Unterhaltung Staatliche Regulierung Fernseh-Lizenzen 1953: 60.000 in Frankreich, 200.000 in der BRD, 15 Millionen in den USA Wirkung: Bestätigung bestehender Normen und Werte Ende der Isolation abseitiger Gemeinden Einheitliche visuelle Kultur Beständiger Druck auf Dialekte Grundlegende Veränderung der Politik

Jugend Foto: Brigitte Bardot, Saint Tropez 1960 Junge Menschen haben mehr Geld Wandel von Konsumverhalten, Moden und Life-styles Zusammenhang von „teenager“ und „pop music“

Einstellungen Jugendliche wollen die Welt nicht verändern Jugendliche wollen anders aussehen, mehr reisen, Musik hören und … kaufen

Amerika: wunderbar und manchmal verhasst Breite Mehrheit: keine Ahnung von Amerika Assoziationen: unmittelbar am Puls der Zeit, Symbol der Moderne, Gegenteil der Vergangenheit: offen, riesig, wohlhabend und jung. Anti-Amerikanismus (Definition: grundsätzlicher Vorbehalt und Abneigung gegenüber der amerikanischen Kultur und all ihrer Manifestationen): Phänomen der kulturellen Eliten. (Irr-) Glaube: Amerika ist das Land hysterischer Puritaner, die sich der Technik, der Standardisierung und dem Konformismus verschrieben haben. Amerikaner verfügen nicht über originelles Denken. Reflexion auf kulturelle Verunsicherung

Wohnen und Architektur Ost- und Westeuropa: identische graue oder braune Betonblöcke; preiswert in Bau und Nutzung; keine architektonisch prägnanten Elemente; keine ästhetische Qualität; kaum öffentliche Räume (Kontaktzonen) Links: Mahrzahn, Ost-Berlin – rechts: Paris

Häßlichkeit: Zufall oder Absicht? Vollständiger Bruch mit Vergangenheit Architekten und Städteplaner reagieren auf demographische Entwicklung und neue Mobilität Bewohner sind ambivalent: einerseits Fortschritt, andererseits ästhetische Wüste

Moderne Zeiten und ein neues Phänomen: “Entfremdung” Wohnsilos werden insbesondere von jungen Menschen abgelehnt Erfahrbare Umwelt ist neu: neue Häuser, neue Straßen, neue Cafés, neue Fabriken, neue Büros, neue Schulen Ergebnis: Umwelt wird als häßlich, seelenlos, inhuman empfunden, kurzum: als entfremdend

Der große Unterschied Traditionell (und aktuell): junge Menschen wachsen in eine Welt voller älterer Menschen hinein. Das ist in den 1960ern anders. Generationeller Unterschied: eine große, wohlhabende, verwöhnte, selbstbewußte und kulturell eigenständige Generation von Jugendlichen v. eine ungewöhnlich kleine, unsichere, von Wirtschaftskrisen und Krieg geprägte Generation von Eltern

London: Mekka der Jugend

Fashion Fotos: Twiggy 1967; Modenschau von Mary Quant, Erfinderin des Minirocks, 1967; Hippy-style Abendkleider, 1968; Hosenanzug 1966

Entwicklung von post-x Rasch expandierender tertiärer Bildungssektor Entstehen eines Marktes für alle möglichen “Theorien” Geschichte in einer (seltenen) Vorreiterrolle: Durchdringung der Geschichtsforschung durch Sozialtheorien: nun ging es nicht mehr ums Erzählen und Erklären eines historischen Problems. Es ging um die dahinter liegende Bedeutung. Geschichtsschreibung schlug Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen wissenschaftlicher Analyse und zeitgenössischem Engagement. Attraktiv für eine neue, junge Generation von Studierenden.

Struktur: ein zentraler Begriff der Sechziger Jahre Worauf es ankam, waren nicht oberflächliche soziale Praktiken oder kulturelle Symptome, sondern die innere Bedeutung, die dahinter liegenden Strukturen, die menschliches Handeln bedingen ( = Strukturalismus) Alles und Jedes kann als Kombination von Strukturen gedeutet werden Michel Foucault: Les Mots et les Choses (Foto links) Strukturalisten: minimieren oder ignorieren Rolle von Individuen in Vergangenheit und Gegenwart

Marx und Moderne Zwischen 1956 und 1968: Marxismus gedeiht in Westeuropa Stalinistischer Kommunismus ist diskreditiert Viele westliche Kommunisten sind nun Trotzkyisten, Syndikalisten oder sonstige –isten: Visionen ohne Realitätsbezug (Beispiel: Trotzkys „permanente Revolution“ Exhumierung der vergessenen Führer des europäischen Kommunismus (Rosa Luxemburg, György Lukacs, Antonio Gramsci) Wiederentdeckung von Karl Marx selbst

Das unvermutete Sterben des Proletariats Zentraler Anspruch der historischen Linken in Europa: Speerspitze des Proletariats Nun gibt es Alternativen: anti-kolonialistische Nationalisten in der Dritten Welt, schwarze Radikale in den USA, Bauernguerillas überall Ergo: Wir Studierenden, die Jungen, repräsentieren die neue und eigentliche kommunistische Bewegung Fusion von Lifestyle und Marx: Anarchistische Studierendenzeitung in Mailand (1968): “Proletarische Jugendliche Europas, Jimi Hendrix vereint uns!”

Meinen es die jungen Männer und Frauen der Sixties ernst? Weitverbreitete Überzeugung, von der Politik ausgeschlossen zu sein Überzeugung, das “System” wird von “denen” bestimmt (geriatrische Patriarchen) Marxistische Rhetorik maskiert einen anarchistischen Zeitgeist Unzufriedenheit mit dem Sein

Paris, Mai 1968: eine Revolution? Protest entfaltet sich erstmals in Echtzeit vor dem TV-Publikum Telegene Akteure Frauen: Hilfstruppen ohne Einfluss Arbeiter kehren in die Fabriken zurück Studenten machen Urlaub

Italien 1968 Gesellschaftlicher Hintergrund: Migration, anhaltende Armut ungelernter Arbeitnehmer, sehr lockeres soziales Netz Arbeiter und Studierende: grundlegende Vorbehalte gegen bürgerlichen Staat Kommunistischer Filmemacher Pier Paolo Pasolini über die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studierenden in Rom: Klassenrollen sind vertauscht. Die privilegierten Kinder der Bourgeoisie schreien revolutionäre Parolen und dreschen auf die unterbezahlten Söhne kalabrischer Tagelöhner ein, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich sind.

Bundesrepublik: Hintergrund von 1968 Nazi-Terror und Holocaust sind systematisch heruntergespielt worden Politisierung der “Kinder Hitlers” durch Verfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem (1961) und durch Frankfurter “Auschwitz-Prozess” (1963-65) Psychologen Alexander and Margarete Mitscherlich veröffentlichen ihre einflussreiche Studie: “Die Unfähigkeit zu Trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens”. Sie argumentieren, die politische Anerkennung von Nazi-Verbrechen sei nicht einher gegangen mit einer individuellen Anerkennung von Verantwortung für die Verbrechen.

Linke Radikale Deutsche Nachkriegsdemokratie ist nicht Lösung, sondern Teil des Problems BRD und USA haben deutsche Vergangenheit unter Schicht von anti-kommunistischer Propaganda und Materialismus begraben Anti-westliche Zielsetzungen fördern Gegenkultur

Kollision von Sichtweisen Deutsche und westeuropäische linke Radikale verschließen sich dem Unmut und Widerstand gegen Kommunismus in Polen und der Tschechoslowakei 68er-Generation ist schlicht nicht interessiert an Osteuropa BRD-Studentenführer Rudi Dutschke fährt auf dem Höhepunkt des “Prager Frühlings” in die tschechische Hauptstadt. Dutschke in Prag: pluralistische Demokratie ist unser wahrer Feind. Tschechen: wollen genau das.

Das Ende der Sechziger Sechziger enden schmerzhaft in Ost (Unterdrückung) und West (Ende des langen Nachkriegsbooms) Von “Entfremdung” zum Interesse am Erhalt des Arbeitsplatzes Radikale linke Splittergruppen in Italien, BRD, USA und Japan erklären dem “System” den Krieg und ermorden zahlreiche Menschen. Politische Enttäuschung in Nordirland, im Baskenland und auf Korsika führt zu blutigen und anhaltenden Auseinandersetzungen

Errungenschaften der Sechziger Jahre Wahlrecht für 18-Jährige (zuerst in Großbritannien, nachfolgend in ganz Westeuropa) Universitäten bemühen sich um Verbesserung von Ausstattung und Veränderungen im Curriculum Revolution in der Schweiz: mehrheitlich stimmen Schweizer Männer 1971 für die Gewährung des Wahlrechts für Frauen

Individualisierung von Sexualität und Privatleben Verhütungsmittel, bis in die frühen sechziger Jahre überall verboten, werden legalisiert Wandel im Ansehen der Institution Ehe Steigende Scheidungsraten Legalisierung von Abtreibung unter bestimmten Umständen (Frankreich 1975, BRD 1976, NL 1981, Belgien 1990) Entkriminalisierung von Homosexualität (Großbritannien 1967, BRD 1973, Frankreich 1982)

“Sexuelle Revolution” und anhaltende geschlechtliche Diskriminierung

Wirtschaftlicher Wandel in den 1970er Jahren Krisenanfälliges Weltfinanzsystem Ölkrise (Grafik: Preisentwicklung von Saudi light crude) Inflation: Regierungen, nun nicht mehr an das System fester Wechselkurse und fixiertem Dollar-Gold-Kurs gebunden (System von Bretton Woods 1944-1971/73), weiten Geldmengen aus, um nationales Wirtschaftswachstum zu steigern Wachsender Wettbewerb aus Ostasien und schwindende Wettbewerbsfähgigkeit europäischer Produkte, insbesondere Stahl

Arbeitnehmer in der Stahlindustrie (1975-1985)

Konservative Wende? Nach den turbulenten 70er Jahren: konservative Wende in großen europäischen Ländern (Thatcher, Kohl, Mitterrand) Agenda: Weniger Staat in der Wirtschaft (Privatisierung staatlicher Unternehmen – Telekommunikation, Eisenbahnen [Großbritannien]) und Deregulierung der Märkte Deregulierung der Finanzmärkte Reduzierung staatlicher sozialer Leistungen Konservative Kultur- und Innenpolitik, stärkere Betonung von Werten, Tradition, Familie

Performanz: Beispiel Großbritannien Staatliche Ausgaben in % des BSP: 42.5 % (1977/78) und 41.7 % (1987/88) Anteil der Sozialausgaben in % des BSP: 23.7 % (1977/78) und 23.2 (1987/88) Zentralisierung von Macht und Verantwortlichkeiten, nicht wie angekündigt: Delegierung der Macht, Dezentralisierung, „schlanke Regierung“ Erschreckender Anstieg von Wohungslosen, Armen, Unterbeschäftigten Heute: Großbritannien ist im Vergleich zu allen anderen westlichen Staaten das Land mit den höchsten Einkommensunterschieden und mit der größten Schere zwischen Arm und Reich

Parallele Entwicklungen seit den späten 1960ern Aufkommen von so genannten “single issue parties” (Anti-Steuerparteien in Skandinavien, Bürgerrechtsparteien in den Niederlanden, Grüne in einigen westeuropäischen Ländern, insbesondere Westdeutschland) Folge von Individualisierung, Sachthemen orientierter Politik, Differenzierung von Gesellschaft und weniger autoritären Werten: Aufkommen von sozialen Bewegungen (Frieden, Umwelt, Frauen, Homosexuelle, Lesben, Anti-Atomkraft, Dritte Welt, Globalisierungskritik etc.)

Zusammenfassung Wirtschaftswachstum: Wechselwirkung von Abfedern und Generieren sozialen Wandels. Bewirkt allgemeine Zustimmung zu Demokratie Massive staatliche Intervention in Gesellschaft, aber gradueller Verlust moralischer Autorität Individualisierung von Gesellschaft im Zuge der sechziger Jahre: Wandel von Werten und Normen, demographische Entwicklung, Konsumgesellschaft, Freizeitgesellschaft Konvergenz von Lifestyles, sozialen Systemen und Politik (Sachfragen) in Europa