Einführung in die Literaturwissenschaft

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Einführung in die Literaturwissenschaft

Tutorien (Stand: Di 26.10.) Di 18:00-20:00 (LG 2/114) (Auth, Meeder) Di 16:00-18:00 (LG 1/247b) (Freimuth, Stolle) Mi 18:00-20:00 (LG 2/133) (Seyfarth, Heucke) Do 8:00-10:00 (LG 2/133) (Becker, Blum) Aktuelle Informationen jeweils unter: www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/

Themenübersicht 1 Literarizität 2 Zeichen und Referenz 3 Rhetorik 4 Narration 5 Autorschaft und sprachliches Handeln 6 Intertextualität und Intermedialität

1 »Literarizität« Was unterscheidet literarische Texte von anderen sprachlichen Äußerungen? Die Differenz zwischen literarischer Sprache und nichtliterarischer Sprache ist von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur verschieden. Unser heutiges Verständnis von der Besonderheit der Literatur unterscheidet sich etwa von dem, was noch im 18. Jahrhundert als eigentümliche Beschaffenheit lite- rarischer Texte verstanden wurde.

»Poetische Mahlerey«: Die Aufgabe der Fabel ist es, »eine Lehre ganz durchsichtig zu machen«. (Breitinger 1740) Der Fuchs liest seine Geschichte UND sieht sein Bild.

Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« (1916) In Abgrenzung zu einem Verständnis von Kunst als »Denken in Bildern« (z.B. Breitingers »poetische Mahlerey«) und in Abgrenzung von der Alltagssprache betrachtet Viktor Šklovskij Literatur als Verfahren der Verfremdung. Besonders deutlich wird für Šklovskij dieses Verfahren, wenn in Tolstojs »Leinwandmesser« aus der Sicht eines Pferdes erzählt wird.

Konsequenzen aus dem Verfahrensbegriff Tolstojs Pferd macht seine Beobachtungen, daß »Menschen über verschiedene Gegenstände die zwischen ihnen ausgemachten Wörter reden«, weil er diese Wörter nicht versteht. Nichtverstehen wird damit zur entscheidenden Herausforderung des literarischen Textes. Es geht darum, nicht länger von dem auszugehen, was sich von selbst versteht. Anstatt zu fragen: »WAS will der Autor damit sagen?« ist zu fragen: »WIE verfährt der literarische Text?«

Tolstoj, »Leinwandmesser«: Tod des Pferdes »Die Herde kam am Abend auf der Anhöhe vorüber, und die Pferde, die am linken Rand gingen, sahen unten etwas Rotes, an dem sich die Hunde eifrig zu schaffen machten; darüber flogen Raben und Geier. Der eine Hund hatte die Vorderbeine gegen den Kadaver gestemmt, schlenkerte den Kopf hin und her und riß das Stück, das er gerade gepackt hatte, mit einem krachenden Geräusch ab. […] Eine Woche später lagen bei dem Ziegelschuppen nur noch der große Schädel und zwei Schenkelknochen, alles andere war weggeschleppt worden. Im Sommer nahm ein Bauer, der Knochen sammelte, auch den Schenkelknochen und den Schädel mit und verkaufte sie.«

Tolstoj, »Leinwandmesser«: Tod des Menschen »Serpuchowskojs toter Leib, der in dieser Welt umhergewandert war und gegessen und getrunken hatte, wurde erst viel später der Erde übergeben. Weder seine Haut noch sein Fleisch noch seine Knochen waren zu irgend etwas nütze. […] Schon längst hatte ihn niemand mehr gebraucht, schon längst war er allen zur Last geworden, aber die Toten, die die Toten begraben, fanden es trotzdem nötig, diesem sogleich in Verwesung übergehenden, aufgedunsenen Leib eine schöne Uniform und schöne Stiefel anzuziehen, ihn in einen schönen Sarg […] zu legen, […] ihn nach Moskau zu bringen, dort vor langer Zeit bestattete menschliche Gebeine wieder auszugraben, an just dieser Stelle diesen faulenden, von Würmern wimmelnden Leib […] zu verbergen und alles mit Erde zuzuschütten.«

Tolstoj, »Leinwandmesser« Das Tier wird zu Lebzeiten gequält und erniedrigt, aber es ist noch über seinen Tod hinaus nützlich. Der Mensch wird schon zu Lebzeiten nicht gebraucht und verursacht noch nach seinem Tod Kosten und Mühe. Es geht hier nicht darum, WAS Tolstoj sagen will (etwa: »Der Mensch ist zuweilen weniger wert als das Tier« oder dergleichen), sondern darum, WIE sein Text verfährt: Er verfremdet die gewöhnlich geltende Hierarchie von Mensch und Tier. Anders als in der Tierfabel des 18. Jahrhunderts kann sich der Leser nicht mehr in einer beispielhaften Gestalt, etwa dem schlauen Fuchs, erkennen.

Zur Differenz von »poetischer Mahlerey« (z. B Zur Differenz von »poetischer Mahlerey« (z.B. Tierfabel) und literarischer Verfremdung (z.B. Tolstoj) unterschiedlicher Umgang mit kulturellen Konventionen: Bei der Tierfabel geht es darum, bestehende Vorstellungen von tierischen Charakteren heranzuziehen, um eine moralische Wahrheit zu veranschaulichen. Bei Tolstoj geht es darum, kulturelle Konventionen zu unterbrechen, etwa die Sicht eines Tiers an die Stelle einer menschlichen Perspektive zu setzen oder beides miteinander zu vermengen. So werden Denk- und Ausdrucksweisen kenntlich gemacht und in Zweifel gezogen. Es geht um das Wie (»Kunst als Verfahren«).

Herta Müller: Niederungen (1984) Die Straßenkehrer Die Straßenkehrer haben Dienst. Sie kehren die Glühbirnen weg, kehren die Straßen aus der Stadt, kehren das Wohnen aus den Häusern, kehren mir die Gedanken aus dem Kopf, kehren mich von einem Bein aufs andere, kehren mir die Schritte aus dem Gehen. Die Straßenkehrer schicken mir ihre Besen nach, ihre hüpfen- den mageren Besen. Die Schuhe klappern mir vom Leib. Ich gehe hinter mir her, falle aus mir heraus, über den Rand meiner Vorstellungen.

»Die Straßenkehrer« nach Šklovskij Vertraute Wörter und sprachliche Wendungen werden hier so eingesetzt, daß sie sich auf ungewöhnliche, irritierende Weise aufeinander beziehen. Das »Ich«, von dem bei H. Müller die Rede ist, gerät an »den Rand meiner Vorstellungen«. Verschiedene Wirklichkeitsebenen scheinen durcheinander zu geraten – wie das Tafelbild eines Mannes mit einem Schwamm, der das Tafelbild auswischt. Mit Šklovskij könnte man hier von Verfahren der Verfremdung sprechen.

Russischer Formalismus Absage an den unmittelbaren Sinnbezug des dichterischen Wortes Entblößung literarischer Verfahren Hauptvertreter u.a.: Viktor Šklovskij (1893-1984) Boris Ėjchenbaum (1886-1959) Jurij Tynjanov (1894-1943) Roman Jakobson (1896-1982)

Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik« (1960) »Die Sprache muß in bezug auf die ganze Vielfalt ihrer Funktionen untersucht werden.« »Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTS, auf den sie sich bezieht [...]; erforderlich ist ferner ein KODE, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger [...] gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTS, [...] der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.« (S. 88)

Jakobson: »Linguistik und Poetik« Kontext Mitteilung Sender -----------------------------------------------------Empfänger Kontakt Kode

Jakobson: »Linguistik und Poetik« Jeder sprachlichen Äußerung liegen nach Jakobson diese sechs Komponenten zugrunde. Sie gehen mit bestimmten sprachlichen Funktionen einher. Die Verschiedenheit von Äußerungen ergibt sich daraus, daß sie diese Funktionen jeweils anders gewichten. Literatur ist für Jakobson gekennzeichnet durch ein besonderes Gewichtungsverhältnis der sechs verschiedenen sprachlichen Funktionen.

Sprachliche Funktionen nach Jakobson Kontext (referentielle Funktion) Mitteilung (poetische Funktion) Sender ----------------------------------------------------Empfänger (emotive Funktion) (konative Funktion) Kontakt (phatische Funktion) Kode (metasprachliche Funktion)

Sprachliche Funktionen nach Jakobson referentielle Funktion: Bezugnahme auf einen Kontext emotive Funktion: bringt die Haltung des Sprechers zum Gesprochenen zum Ausdruck (zum Beispiel in Interjektionen) konative Funktion: Appell an den Empfänger; läßt sich nicht in den Kategorien wahr/falsch erfassen phatische Funktion: zielt auf die Gewährleistung des Kontakts mit dem Empfänger (»Hallo, hören Sie mich?«) metasprachliche Funktion: Thematisierungen des Kodes (»Ich verstehe nicht was Sie meinen.«) poetische Funktion: Ausrichtung auf die Botschaft

Die poetische Funktion nach Jakobson Vergleich der poetischen Funktion mit der referentiellen Funktion: Während die referentielle Funktion sich auf Kontexte einer Mitteilung bezieht, gilt die poetische Funktion der Art der Mitteilung selbst. Im einen Fall geht es um das Was, im anderen Fall um das Wie einer Botschaft (»Dichotomie der Zeichen und Objekte«). Jede Mitteilung hat diese Dimensionen. Ihre Gewichtungen sind aber jeweils verschieden.

Die poetische Funktion nach Jakobson »Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Verein- fachung. Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherr- schende und strukturbestimmende und spielt in allen anderen sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle. Indem sie das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen richtet, vertieft diese Funktion die fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte.« (S. 92-93) (Hervorhebung von mir)

Die poetische Funktion nach Jakobson Die Zweiteilung von Zeichen und Objekten wird durch die poetische Funktion vertieft, indem sie zwei grundsätzliche sprachliche Operationen hervorkehrt, die jeder verbalen Äußerung zugrundeliegen. Selektion: Aus einer Vielzahl von Zeichen, die einander ähnlich sind (Prinzip der Äquivalenz), muß ausgewählt werden (z.B. Kind oder Baby oder Knirps) Kombination: Die ausgewählten Zeichen müssen in eine Reihenfolge gebracht werden. Daraus ergibt sich eine Sequenz (z.B. ein Satz).

Die poetische Funktion nach Jakobson »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben.« (S. 94) Das heißt: Wenn man generell einen Satz dadurch bildet, daß man aus Gruppen von einander ähnlichen/äquivalenten Worten jeweils eins auswählt und dann die ausgewählten Worte zu einem Satz kombiniert, so führt die poetische Funktion dazu, daß sich in der Abfolge des Satzes selbst Ähnlichkeiten ergeben.

Beispiel für die poetische Funktion: der Reim Das zu Sagende zu sagen ist dem Künstler aufgetragen. Wahre Größe freilich zeigen jene, die selbst dies ver (Robert Gernhardt)

Die poetische Funktion nach Jakobson Die poetische Funktion beschränkt sich nicht auf Literatur, sondern sie liegt jeder sprachlichen Äußerung zugrunde, auch den nicht literarischen – allerdings in geringerem Maße. Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß die poetische Funktion deutlich akzentuiert ist. Dies geschieht, indem ›Resonanzen‹ in der Abfolge von Worten oder Zeichen hervorgebracht werden, etwa in der Weise des Reims. Dadurch wird der Abstand zwischen Zeichen und Objekten, die Kluft zwischen Worten und Dingen betont.

Texte und Folien im Netz unter: www.uni-erfurt.de/literaturwissenschaft/ (jeweils ab Dienstag nach der Vorlesung) Paßwort für die Texte: