Wissenssoziologie.

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 Präsentation transkript:

Wissenssoziologie

Max Scheler und Karl Mannheim (1874 in München -1928 in Frankfurt) Karl Mannheim (1893 in Budapest - 1947 in London) „Die Wissenssoziologie ist ... eine Lehre von der so genannten Seinsverbundenheit des Wissens“ (Wissenssoziologie, 1931) Eine Soziologie des Wissens untersucht „die fundamentale Tatsache der sozialen Natur alles Wissens“ (Wissensformen und die Gesellschaft, 1926)

Entwicklung der wissenssoziologischen Fragestellung in Deutschland Theoretische Prämissen: Entwicklung von Gesellschaften hängt von der Entwicklung von Wissenssystemen ab (Comte) Gebundenheit von Denkstilen an soziale Lagen und Klassen/Gruppen (Marx) Entzauberung der Welt — Zerfall generalisierter Wertsysteme in der Moderne (M. Weber) Beobachtung der Pluralisierung der Denkstile (Simmel)

Erfahrungsweisen der Modernisierung Die soziale Gebundenheit des Wissens wird anschaulich durch: soziale Mobilität Ausdifferenzierung der Lebensstile, Individualisierung ideologische Polarisierung der Weimarer Republik Einsicht in die Relativität von „Weltanschauungen“

Entwicklung der wissenssoziologischen Fragestellung in Deutschland Resultat: Reflexivierung gesellschaftlicher Selbstbeschreibung durch die Frage nach sozialer Bedingtheit von Wissenssystemen; Bedarf einer neuen wissenschaftlichen Disziplin: Soziologie des Wissens

Entwicklung der wissenssoziologischen Fragestellung in Deutschland Zwei Richtungen wissenssoziologischer Fragestellung: Welches sind die anthropologischen Bedingungen und die gesellschaftlichen Auswirkungen der sozialen Genese des Wissens? (Max Scheler) Wie lässt sich die soziale Gebundenheit von Wissenssystemen (die Seinsgebundenheit des Wissens) untersuchen und welche Konsequenzen resultieren daraus für die Wissenschaft sowie für das Verständnis moderner Gesellschaften? (Karl Mannheim)

Philosophische Anthropologie und Wissenssoziologie Max Schelers Max Scheler: Vita und ausgewählte Werke: 1894-1897 - Studium der Philosophie, Psychologie, Soziologie und Medizin in München, Berlin und Jena u.a. bei Dilthey, Simmel und Eucken 1897 - Promotion in Philosophie 1899 - Habilitation für Philosophie in Jena 1906-1907 - Umhabilitierung nach München 1910 - Aberkennung der Habilitation wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ 1913 - „Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß“ - „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ 1915 - „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg“ 1916 - Bekehrung zum Katholizismus 1918/1919 - Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie in Köln 1922 - Austritt aus der Kirche 1924 - „Probleme einer Soziologie des Wissens“ 1926 - „Wissensformen und die Gesellschaft“ 1928 - „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ - Ruf nach Frankfurt/Main

Philosophische Anthropologie und Wissenssoziologie Max Schelers Philosophisch-anthropologische Grundlagen Ausgangspunkt: Phänomenologie Husserls (wie Schütz); prägt als erster den Begriff „Wissenssoziologie“ (1924) Philosophisch-anthropologischer Ansatz: Frage nach der Wissensgenese in der „relativ natürlichen“, d.h. vorwissenschaftlichen, Einstellung des Menschen unter Einbeziehung der Psychologie und der Naturwissenschaft Entstehung des Wissens um die Welt aus dem pragmatischen und sozialen Umgang mit ihr Mensch als „vitales“ und „geistiges“ Wesen verankert in der Sozialität

Schelers anthropologisches Modell Mensch vital geistig Drang, Trieb Freiheit, Erkenntnis, Liebe, Werten Organismus, Funktionen Person als Einheit ihrer Akte Leib, Bewusstsein, Fühlen, Trieb Intime Person, soziale Person Umwelt, Milieu Welt, Offenheit Sozialität Offenheit der Akte Formung der Welt durch Handeln und Erleben der Anderen dadurch Wertnahme, Zeigefunktion der Dinge, sinnhafte Welt, Vorgang des „Wir“ vor dem „Ich“ Milieubildung als Funktion des Organismus

Philosophische Anthropologie und Wissenssoziologie Max Schelers Wissenssoziologische Grundsätze: Alles Wissen (alltägliches sowie wissenschaftliches) ist sozial bedingt Kollektives Wissen ist dem individuellen Wissen vorgeordnet Wissensformen bestimmen das „So-sein“ von Gesellschaften

Philosophische Anthropologie und Wissenssoziologie Max Schelers Real- und Idealfaktoren Entwicklung von Gesellschaften ist durch die Interaktion von Real- und Idealfaktoren (d.h. von dem Zusammenspiel von Sozialstruktur und Wissensstruktur) bedingt. Realfaktoren (selektieren und realisieren Wissen): Verwandtschaft, Herrschaft, Wirtschaft Idealfaktoren (kreative Kräfte der Wissensentwicklung): Beispiel des Zusammenwirkens: Die Ideen von Leonardo da Vinci konnten nur soweit verwirklicht werden, soweit die technischen Mittel seiner Zeit reichten.

Philosophische Anthropologie und Wissenssoziologie Max Schelers Die drei Wissensarten: Es lassen sich drei Wissensarten unterscheiden, die den Grundbedürfnissen des Menschen entsprechen und in der Geschichte unterschiedliche Konfigurationen und Ausprägung erfahren: Heilswissen (Religion) Lebenswissen (Philosophie) Herrschaftswissen („instrumentelle Vernunft“)

Karl Mannheim: Wissenssoziologie als Mittel der Zeitdiagnose Karl Mannheim: Vita und ausgewählte Werke 1913-1918 - Studium der Philosophie, Soziologie und Geschichte in Berlin, Paris und Budapest, u.a. bei Cassirer, Bergson, Troeltsch u. Simmel 1918 - Promotion in Philosophie - Teilnahme am „Sonntagskreis“ um Georg Lukacs, der ihm als Kultusminister der revolutionären Regierung von Béla Kun einen Posten an der Universität in Budapest verschafft. 1919 - nach der Niederschlagung der Revolution durch das Horty-Regime Flucht nach Wien 1920 - Übersiedlung nach Deutschland mit „Endstation“ in Heidelberg 1925 - „Das Problem einer Soziologie des Wissens“ 1926 - Habilitation in Heidelberg durch Alfred Weber über „Das konservative Denken in Deutschland“ 1928 - Vortrag am 6. Deutschen Soziologentag in Zürich über „Konkurrenz im Gebiete des Geistigen“ verschafft Mannheim den Ruf eines „Jungstars“ der deutschen Soziologie. - „Das Problem der Generationen“ 1929 - Berufung nach Frankfurt/Main - „Ideologie und Utopie“ 1933 - Entlassung aus dem Staatsdienst durch die Nationalsozialisten; Emigration über Holland nach London 1933 - Lecturer an der London School of Economics 1935 - „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ 1942 - Lecturer am Institute for Education der Londoner Universität 1943 - „Diagnosis of Our Time: Wartime Essays of a Sociologist“ 1945 - ordentlicher Professor dortselbst

Karl Mannheim: Wissenssoziologie als Mittel der Zeitdiagnose Drei Perioden in Mannheims Werk: Kulturphilosophie und Kultursoziologie: historische und soziale Bedingtheit des Verhältnisses Mensch—Kultur (Einflüsse: Simmel, Marx, Lukacs, Troeltsch, A. Weber) Entwicklung der Wissenssoziologie als soziologischer Spezialdisziplin Analyse der Ursprünge des Nationalsozialismus und Totalitarismus, Zeitdiagnose der Moderne

Wissenssoziologie als Mittel der Rationalisierung politischer Diskurse Ausgangspunkte: Evidenz der sozialen Bedingtheit von Denkstilen im Alltag der Moderne: Individuen durchlaufen im modernen Leben viele soziale Positionen, die mit unterschiedlichem Wissen verbunden sind. Marx-Kritik: Denkstile sind nicht nur an Klassen gebunden, die soziale Gebundenheit des Wissens gilt allgemein für alle soz. Gruppierungen (Generationen, soziale Gruppen, Parteien, Wissenschaft, etc.) dies wird auch in der politischen Debatte erkannt: Generalisierung des Ideologieverdachts Ideologiebegriff partikular total Nur ein Teil der Ideen/Vorstellungen des Gegners werden inhaltlich in Frage gestellt Die gesamte Bewusstseinsstruktur des Gegners einschließlich der kategorialen Apparatur (d.h. das Formale des Denkens) wird in Frage gestellt.

Wissenssoziologie als Mittel der Rationalisierung politischer Diskurse Wissenssoziologische Thesen: Aus der unausweichlichen sozialen Bedingtheit von „Weltsichten“ folgt relative Gleichberechtigung aller Denkstandpunkte Typen gegenwärtiger Wissenssysteme: Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Faschismus Unterscheidung zwischen Ideologie und Utopie, Moderne und Gegenmoderne (Faschismus, dogmatischer Marxismus) „Freischwebende Intelligenz“ als potentieller Vermittler zwischen den Diskursen Ideologien und Utopien zeichnen sich aus durch SEINSTRANSZENDENZ = Ideen/Vorstellungen fallen mit bestehender Lebensordnung nicht zusammen Utopie Ideologie = Ideen/Vorstellungen, die nicht/nicht mehr verwirklichbar sind = Ideen/Vorstellungen, die mit dem Potential der Gegenwart übereinstimmen werden ins Handeln von Menschengruppen aufgenommen, transformieren die „historische Seinswirklichkeit“, sprengen die bestehende Lebensordnung

Methode der Wissenssoziologie und ihre Probleme „Aspektenstruktur“ von Wissenssystemen als Mittel empirischer Analyse Aspektenstruktur: Stufen der Analyse von Wissenssystemen: Begriffe Kategorialapparatur Denkmodell Stufe der Abstraktion der Theorie Nach Analyse der Aspektstrukturen verschiedener politischer Strömungen  Feststellung der Trägergruppen Problem des Relativismus und des Relationismus

Karl Mannheim: Wissenssoziologie als Mittel der Zeitdiagnose Genese des Nationalsozialismus aus der liberalistischen Atomisierung der Gesellschaft in den Massendemokratien Autoritäre Regime entwickeln Sozialtechniken, die durch Sozialleistungen die Menschen an sie binden. Notwendigkeit, diese Techniken auch im demokratischen Kontext zu entwickeln, um Bürger an die Demokratie zu binden. Mittel dafür: Sozialstaat, Planen für die Demokratie

Wissenssoziologie: Karl Mannheim und Max Scheler Phänomenologischer Kreis in Göttingen (1912). Von links: Jean Hering, Schroder, Adolf Reinach, Hans Lipps, Theodor Conrad, Max Scheler, Alexander Koyré, Siegfried Hamburger, Hedwig Martius, Rudolf Clemens, Gustav Hubener, Alfred von Sybel. Julia und Karl Mannheim