Yvonne Lambert/Berlin

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 Präsentation transkript:

Yvonne Lambert/Berlin Franz Schultheis »Pierre Bourdieus visuelle Soziologie« Beitrag zu: Junggesellenball & Abschied vom Frühling 30.4. – 28.6. 2015 Freitag 22. Mai 2015, 19 Uhr

Oder: Pierre Bourdieu - Zur Genese eines soziologischen Blicks Was sieht man: einen jungen Mann links im Hintergrund Er heisst PB Seit Kurzem im Lande: in Algerien Militärdienst Unwohl Wichtige Entscheidung getroffen: nicht mit spielen wie erwartet Entscheidende biographische Phase Bourdieus Junger Philosoph; Normalien Zwangsverschickt nach Algerie; Biographische Konversion total!!! Auch des Blicks!!!! Objektivierung des Gesellschaftlichen: Linse und Blick!

Vorgehen 1. Einstieg: „Je ne suis pas photographe“: wohin mit P. Bourdieus Bildern aus Algerien? 2. Konversionen des Blicks: Photographie und Wissenschaft als komplementäre Formen der Objektivierung der sozialen Welt. P.B.‘s Selbstinitiation in die ethnographische Feldforschung: Photographie im Kontext eines breiten Fächers an Methoden und Instrumenten.

Vorgehen 4. Von der Photographie zur dichten Beschreibung fremder gesellschaftlicher Realitäten. 2 Fallbeispiele: A) Habitat et Habitus: Prozesse der „Entwurzelung“ B) Le bal des célibataires 5. Pierre Bourdieus Gebrauch der Photographie

War Pierre Bourdieu Photograph? Aktueller Anknüpfungspunkt: Neuerscheinung Dieses Bild zeigt man im Buch, neben denen von anderen Intellektuellen, Künstlern etc. Titel spricht Bände

Photos ohne Photographen: Photos mit welchem Status? Rund 3000 Fotos in drei Jahren geschossen Mit Sorgfalt behandelt: « …j’avais des cahiers dans lesquels j’avais des petites photos, j’avais des boîtes dans lesquelles j’avais de pellicules, avec le numéro à envoyer, etc.,… » Immer wieder angesehen, mit starker emotionaler Anteilnahme betrachtet Aber als rein „privates“ Archiv gehandhabt Beginnt mit 12 Jahren Fàhrt im Bearn herum Beginnt über die sozialen Funktionen nachzudenken: der einzelgänger fällt auf Der Staedter noch mehr Schaut die Photos regelmässig an Kommt in entscheidendnen Momenten, bei neuen Büchern, immer wiedre daraufg zurück

Photos ohne Fotographen Photos ohne Fotographen? Die symbolische Funktion der Photographie in Bourdieus Werken

Schlüsselbilder: Neuauflagen illustriert mit frühen Bildern Während rund vier Jahrzehnten ist ein regelmäßiger Rückgriff auf den eigenen photographischen Fundus zu beobachten und hinterlässt sichtbare Spuren

Weitere emblematische Titelgestaltungen Diskreter, dosierter Gebrauch der Photographie (auch Illustrationen in Beiträ-gen für ACTES und a.a.O. (z.B. Telerama) Noch diskretere Rezeption derselben (fast unbemerkt gebliebene Facette des Bourdieuschen Werkes)

Warum PB dennoch kein Photograph gewesen sein soll? „Photographier engage l‘existence, l‘être entier et ce langage permet seul….l‘ expression de ce qui ne saurait peut-être se dire autrement…“ E. Perego die Art von defintion von kunst, gegen die PB sich lebenslang zur Wehr setzte! Genau dies soll hier bestätigt und in Frage gestellt werden Doch: man kann es anders sagen: PB hat es in seiner dichten beschreibung stets getan

Und warum Pierre Bourdieu selbst zu glauben schien, er sei kein Photograph „Ein echter Photograph, so sagten mir meine Freunde, entwickelt seine Bilder selbst….denn erst beim entwickeln erkennt man die Qualität der Bilder.“ (P.B. im Interview, 1999; zitiert von Perego) - aber er liess ganz spezifische Bilder nach eigner Regieanweisung anfertigen, vergrössern etc.

Oder lag es am „ungeschulten“ Umgang Oder lag es am „ungeschulten“ Umgang? Illegitimität im Umgang mit einer „illegitimen Kunst“? Pierre Bourdieu brachte sich das Photographieren im Alter von 14 Jahren selbst bei (bei Fahrradtouren über Land) Eine „fachliche“ Ausbildung bekam er nie, suchte sie wohl auch nicht. Aber er wurde wenige Jahre später zu einem Soziologen der Photographie: Vorteil oder Handicap? Viele seiner Anspielungen in Eine illegtime Kunst scheinen auf ihn selbst gemünzt: z.B., dass man in ländlicher Umgebung mit der Kamera von den Bauern als typischer Städter angesehen wird Dass man sich isoliert, wenn man Photographie ihrer selbst willen treibt, statt sie ausschliesslich in den Dienst familialer Selbsrrepräsentation zu stellen

Aber dann müsste es auch heißen: „Je ne suis pas sociologue, ni anthropologue ni ethnologue…“ - Bourdieu war nämlich nicht nur „photographe de circonstance“, sondern erwarb sich auch durch „Selbststudium“ die Grundlagen der sozialwissenschaft-lichen Feldforschung. Intressant: beide Initiationen auf auto-didaktischem Wege im gleichen Kontext: lässt Titel visuelle Soziologie plausible erscheinen

Photographischer und soziologischer Blick: eine komplementäre „Konversion“ während der Algerienjahre Die Photographie im Frühwerk Bourdieus ist die „sichtbarste“ Spur seiner Konversion vom Philosophen zum Anthropologen, Ethnologen und Soziologen der menschlichen Praxis. Er spricht selbst von einer grundlegenden „Konversion des Blicks“.

Self-training: Bourdieus Wege in die wissenschaftliche Objektivierung der sozialen Welt Ich sprang einfach ins kalte Wasser… Ich kam mir völlig mittellos vor….. Oft sagte ich mir „Was machst Du hier eigentlich…?“

Photographie als eine Form der Spurenssicherung u. a. P. B Photographie als eine Form der Spurenssicherung u.a. P.B.‘ s „wildes Experimentieren mit Methoden der Forschung Methoden, Techniken, Instrumente: «Alles war mir recht!  Auflistung der von P.B. in Algerien in « freier Regie » erprobten Forschungsmethoden und -instrumente.

Forschungsansätze Analyse der kollektiven Repräsentationen von Arbeit Analyse geschlechts-spezifischer Arbeitsteilung Analyse kosmologischer Ordnungen Analyse von Heiratsregeln Analyse von Körpertechniken (Habitus)

Streifzüge durchs Feld I: travaux non dirigés Analyse von Tauschbeziehungen (Ethik der Reziprozität) Analyse von Zeitstrukturen der bäuerlichen Welt Architektur als Anzeiger sozialer Ordnung Beschreibung und Analyse von Kleidercodes Dichte Beschreibungen gesellschaftlicher Szenarien

Streifzüge durchs Feld II: travaux non dirigés Erforschung von Verwandtschaftsbeziehungen Analyse familialer Reproduktionsstrategie und Vererbungslogik Fragenbogen-Interviews Haushaltsbudget-Analyse Haushaltsinventar-Analyse

Streifzüge durchs Feld III: travaux non dirigés Analyse klassenspezifi-scher Konsumstile Oral history Photographische Visualisierung Qualitative Interviews Repertorierung oraler Überlieferungen Rezeptionsästhetik der Photographie

Streifzüge durchs Feld V: travaux non dirigés Analyse des Zusammen-hanges von Wirtschafts-ethos und Religion auf den Spuren Webers Studium des Ehrenkodex Teilnehmende Beobachtung Visualisierung des sozialen Raums in Skizzen Zeitbudget-Analyse

Streifzüge durchs Feld IV: travaux non dirigés Sammeln von Sprichwörtern Sozialstatistische Analyse sozialer Ungleichheiten Sozialtopographische Analysen von Friedhöfen Sozioanalyse auf der Basis mündlicher Zeugnisse

Visuelle Feldforschung I: Habitat und Habitus Das Photo als Datenträger und Notizblock Das Festgehaltene als Zeugnis und Grundlage weiterer Arbeitsschritte

Etappen der Inventarisierung Vom photographischen Festhalten zum theoriegeleiteten Wiedergeben

Materiale Ethnologie Bestandsaufnahme Archivierung und Ordnen Analyse Interpretation Dichte Beschreibung alltäglicher Lebenswelt

Der praktische Sinn der Dinge Visuelle Anthropologie im Dienste der Rehabili-tation einer „irrationa-len“ Ökonomie „Ich hielt an der Faculté d‘ Alger einen Vortrag über „Algerische Kultur“, das war ein Skandal, weil man zu dieser Zeit davon ausging, dass es so etwas nicht gab…“

Sichten von Spuren einer negierten Kultur „Die Kabylen speichern Weizen und Griess in grossen Fässern aus Ton, die auf verschiedenen Höhen Löcher aufweisen und die gute Hausherrin, betraut mit der Verantwortung für die Vorratshaltung,

Sichten von Spuren einer zerstörten Kultur dass es den Konsum zu bremsen gilt, wenn das Niveau des Kornvorrats auf der Höhe des Lochs, genannt thimith, angekommen ist. Wie man sieht, vollzieht sich hier das Kalkül von allein, und das Fass wirkt wie eine Sanduhr, bei der man jederzeit feststellen kann, was zerronnen ist und was bleibt“

Dokumentieren struktureller Gewalt: Vom Registrieren zur Strukturanalyse panoptischen Siedelns « ….il faut étudier toutes les conséquences quoi, et alors bon, par exemple on bouleverse les structures spatiales, qu’est-ce qui va en résulter ? Alors je suivais les gens dans les villages transformés et je décrivais les itinéraires… »

Beobachten, festhalten, mitnehmen, verschriften „Nach dem Beispiel römischer Kolonisatoren disziplinieren die mit der Organisation der neuen Gemeinschaften beauftragten Offiziere zunächst den Raum…“

Visuelle Soziologie: Bilder und Kommentare „Der zentrale Platz beherbergt die charakteristische Triade französischer Dörfer: Schule, Rathaus und Kriegerdenkmal…“ (Le déracinement)

Kolonialisierung und Entwurzelung „Die Frauen haben ganz besonders unter der Umsiedlung zu leiden. Sie bleiben den ganzen Tag in den feuchten Behausungen eingeschlossen.“

Geschlechter(un)ordnung „Die Umsiedlung hindert die Frauen an der Ausführung eines grossen Teils ihrer traditionellen Aufgaben. Allgemein haben Militäraktionen und Repression die der Arbeitsteilung und dem Geschlechterverhältnis zugrunde liegende Moral der Ehre einer furchtbaren Belastungsprobe unterzogen.“ (Paysans déracinés)

Die postkoloniale Konfiguration: Spuren und Zeugnisse 45 Jahre später Djebabra 1961 - 2006: Beharrungskraft eines Nicht-Ortes

Djebabra 1961 - 2006 « ….et alors c’est d’un réalisme, oui le déracinement c’est un tout complètement contre intuitif, ces camps de regroupement, moi j’ai dit, les gens resteront dans les camps et quand même je risquais… voyez ! Hein, alors que ces types vous disaient « on est malheureux, on peut repartir, on repartira à tout prix, s’il n’y a rien », c’est le désert, c’est la friche, bon moi je disais, ils resteront à 90 %, et bon, qu’est-ce qui est arrivé, les villages anciens sont devenus des trucs de villégiature où ils vont pour le week-end, sous les figuiers, ils rêvent un peu…. »

1961 - 2006: visuelle Zeugnisse von Menschen, die sonst kaum Spuren hinterlassen Kinder einer Familie aus Djebabra, photographiert von Bourdieu im Jahre 1961; wieder am Ort angetroffen im Jahre 2006

Von der Abbildung zur dichten Beschreibung II: Le bal des célibataires Der Weihnachtsball findet im Nebensaal einer Gastwirtschaft statt. In der Mitte des hell erleuchteten Parketts tanzen etwa zehn Paare, nach der neuesten Mode. Das sind vor allem "Studenten", Schüler Realschulen aus den Nachbarstädten, meist stammen sie aus dem Dorf.

Außerdem einige Soldaten, auch junge Arbeiter oder kleine Angestellte aus der Stadt, die Jeans und schwarze Lederjacken tragen. Einige Mädchen kommen aus abgeschiedenen Weilern, aber sie unterscheiden sich weder in der Kleidung noch im Gebaren von denen aus Lesquire, die in Pau als Näherin, als Verkäuferin oder Dienstmädchen arbeiten. Junge Frauen und ältere Mädchen tanzen miteinander, während sich die jungen Männer ständig zwischen die Paare drängen. Im Zwielicht, am Rande der Tanzfläche, steht eine Gruppe von Männern, alle um die dreißig, die wortlos zusehen. Sie tragen Baskenmützen und dunkle, altmodische Anzüge. Wie versucht, mitzutun, rücken sie näher an die Tänzer heran. Alle sind sie da, die Junggesellen des Dorfes.

Sinn und Zweck des Bourdieuschen Umgangs mit Photographie 1 Sinn und Zweck des Bourdieuschen Umgangs mit Photographie 1. Den Blick schärfen - genau hinsehen 2. Als visuellen Notizblock verwenden 3. Speichern und sichern 4. Nach Hause tragen 5. Ordnen und pflegen 6. Als Ressource verfügbar halten 7. Rekurrenz und Reflexivität organisieren

Rekurrenz und Reflexivität: Bourdieus Denken in kreisenden Bewegungen und seine visuellen Stützen