Peter Weichhart Institut für Geographie und Regionalforschung

Slides:



Advertisements
Ähnliche Präsentationen
Von der konstruierten Wirklichkeit Wirklichkeit als Konstrukt kognitiver Systeme Medien als Baustein für Bildung von Wirklichkeitskonsens.
Advertisements

Sie müssen nicht Ihren Unternehmensansatz in ein Modell pressen.
Mathematik und Allgemeinbildung
Wissenschaftliches Arbeiten
Wissenschaftliches Arbeiten als Arbeitsprozess
5. Heilbronner Bildungskongress Wertewandel in unserer Gesellschaft
IB mit t&t Wintersemester 2004/05 1 Tutorien Mo.12-14Zeljo BranovicIhne 22/E2 Mo.12-14Silke LodeIhne 22/UG2 Mo.12-14Simon SottsasOEI 301 Di.14-16Harald.
Geschichte der Geschichtswissenschaft Kurze überblicksartige Zusammenfassung – Ein Vorschlag.
Kulturelle Konflikte im globalen Konfliktgeschehen seit 1945 – Prof. Dr. Aurel Croissant Studie des Instituts für Politische Wissenschaft an der Universität.
Verantwortung übernehmen heißt Antworten geben-
Raumbezogene Identitäten nach Peter Weichhart
Theorie soziotechnischer Systeme – 11 Thomas Herrmann Informatik und Gesellschaft FB Informatik Universität Dortmund iundg.cs.uni-dortmund.de.
HCI – Tätigkeits Theorie (Activity Theory)
Definition Allgemeines, Historisches
Raumbezogene Identität Virtuelle Denk- und Handlungsräume
Einführung von Groupware
Theorie soziotechnischer Systeme – 10 Thomas Herrmann Informatik und Gesellschaft FB Informatik Universität Dortmund iundg.cs.uni-dortmund.de.
Theorie soziotechnischer Systeme – 12 Thomas Herrmann Informatik und Gesellschaft FB Informatik Universität Dortmund iundg.cs.uni-dortmund.de.
Didaktik der Algebra (3)
Vorlesung Gestaltung von soziotechnischen Informationssystemen - Grenzen soziotechnischer Modellierung - Gst-IS Thomas Herrmann Lehrstuhl Informations-
Die Politisierung europäischer Identität in der Euro-Schuldenkrise Präsentation auf der Perspektiv-Konferenz „Quo vadis Europa?“, 24. Mai 2012 Konvent.
Peter Weichhart Institut für Geographie und Regionalforschung
Die sozialen Dimensionen der Nachhaltigkeit - Vorschläge zur Konkretisierung und Operationalisierung -
Grundkonzepte und Paradigmen der Geographie
DFG-Rundgespräch Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL), Leipzig
Sozialgeographie: Räumliche Strukturen der Gesellschaft
Globalgeschichte Einführung in die VO
Handeln als Strukturierung der Natur
Universität für Bodenkultur Wien Herausforderungen der Lehre an der Universität für Bodenkultur zum Thema natürliche Ressourcen und Umwelt aus.
Iris Haas Marion Ibetsberger
Strukturelle Koppelung und die „Autonomie“ des Sozialen Wolfgang Zierhofer Impulsreferat zur Tagung: Umwelt als System – System als Umwelt? Systemtheorien.
Erhebungsverfahren: Der verbale Zugang, das Gespräch, spielt in der qualitativen Forschung eine besondere Rolle. Aus Beobachtungen lassen sich subjektive.
MUSEALISIERUNG VON MIGRATION Annäherung an eine Aushandlung gesellschaftlicher Praxis.
Erörtern 10. Jgst März 2009: Die hessische Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) kann sich einen zumindest zeitweise nach Geschlechtern getrennten.
Fragen und Einwände hinsichtlich der Möglichkeit einer Schöpfungsforschung Thomas Waschke
Konzepte von Interkultureller Pädagogik
Neue Kulturen der Wissenschaft: Forschen Frauen anders
Martina PeitzProseminar HS 2008 Zur Praxis der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung Forschungsproseminar Martina Peitz Herzlich willkommen!
Sozialwissenschaftliche Grund- lagen der Humangeographie
Vienna Conference on Consciousness Teil I "Was ist die neuronale Grundlage des Bewußtseins? Wo ist es im Gehirn?" Beitrag von Michael L. Berger (Center.
Raumbezogene Identität
Forschungsplattform Theorie und Praxis der Fachdidaktik(en)
Martina Peitz Zur Praxis der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung Forschungsproseminar Martina Peitz Herzlich willkommen! Kontakt:
GIS Design: A Hermeneutic View (Michael D. Gould)
Raumbezogene Identität
Inklusion/Exklusion von Menschen mit Behinderung
Lernzyklus Lerntypen MacherInnen EntdeckerInnen DenkerInnen
Zwischen etablierter und postulierter Praxis der Schulentwicklung Eine qualitativ-empirische Studie über das Handlungsfeld Schulentwicklung aus der Perspektive.
Ökologische Regimes Ein Konzept zur Vermittlung physischer und sozialer Sachverhalte Referat zur Tagung „Geographische Schnittstellenforschung und «Dritte.
Agenten und Multi-Agenten-System
Grundkonzepte und Paradigmen der Geographie
Studium an der Universität Wien [Geschichte/Fächerkombination] Diplom [1999, Universität Wien] Tätigkeitsbereiche Koordination des Forschungsprojekts „Wien-Umwelt“
Aber ich will Dir noch schnell die Lösung sagen...
Raumbezogene Identität
Methoden der Sozialwissenschaften
Nancy Müller, Emilia Fliegler
Einführung eines Forschungsinformationssystems an der WWU Münster Workshop Forschungsinformationssysteme Karlsruhe, 22./
Physische Geographie und Humangeo-graphie – eine schwierige Beziehung.
„Frauen fragen Frauen“ Präsentation zum Forschungsprojekt
Peter WEICHHART Institut für Geographie und Regionalforschung
1 Neue Regionalgeographie Regionalgeographische Ansätze im Unterricht der sekundar Stufe 1.
Radikaler Konstruktivismus
Das Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ stellt sich vor
Seeing Die Qualität im U School of Facilitating 2015 Berlin; Frankfurt; Wien.
GK/LK Sozialwissenschaften Informationen Klasse 9 1. Februar 2016.
Die Qualität des „Sensing“ BerlinFrankfurtWien Januar 2015.
1 Systemische Beratung Clemens Finger – Martin Steinert Systemische Beratung
Die klassischen Methoden der historisch-vergleichenden Forschung Universität Zürich Soziologisches Institut Seminar: Methoden des internationalen Vergleichs.
Gestaltungsspielräume im Urheberrecht Bernd Juraschko, Justiziar und Leiter Wissenschaftliche Services DHBW Lörrach
Folie 1 Kulturelle Vielfalt: eine ethische Reflexion Peter Schaber (Universität Zürich)
 Präsentation transkript:

Auf der Suche nach der „dritten Säule“ Gibt es Wege von der Rhetorik zur Pragmatik? Peter Weichhart Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien DFG-Rundgespräch „Möglichkeiten und Grenzen integrativer Forschungsansätze in Physischer Geographie und Humangeographie“ Bonn, 12./13. 11. 2004 P216/BonnPhysHum/01

Themen Geographie – eine „Zwei-Fächer-Disziplin“ und ein „Zwei-Fach-Studium“ Die Metapher von der „dritten Säule“ Zentrale Probleme einer „Gesellschaft-Umwelt- Forschung“ Versuch einer empirischen Annäherung – ein Pretest für eine Delphi-Studie P216/BonnPhysHum/02

Ist die Geographie tatsächlich ein Fach? Nach der historischen Entwicklung: ja Nach der organisatorischen Struktur: jein („Voll- institute“ vs. Teilinstitute vs. Departmentstruktur) Nach der „Mainstream-Fachpolitik“: „eher ja“ bis „entschieden ja“ („Mythos“) „Ehrliche individuelle Meinung“: „eher nein“ bis „entschieden nein“ P216/BonnPhysHum/03

Ist die Geographie tatsächlich ein Fach? Nach dem Erkenntnisobjekt: in der „klassischen Geographie“: ja (Landschaften und Länder), heute: sicher nein (nur marginale Überlappung der Erkenntnisobjekte) Nach dem Methodenset: sicher nein Aber: erheblich Gemeinsamkeiten in der räum- lichen Perspektive (nicht „Raum“, sondern Wahrnehmung der „Räumlichkeit“ von Phäno- menen) P216/BonnPhysHum/04

Ist die Geographie tatsächlich ein Fach? These: Die Geographie ist heute in Wahrheit eine „Zwei-Fächer-Disziplin“ und ein „Zwei-Fach-Stu- dium“. Die „fachliche Einheit“ wird ausschließlich über die Studienpläne, Tradition und Mythos sowie bestenfalls durch die gemeinsame „räumliche Perspektive“ produziert und durch fachpolitische Strategien reproduziert. Eine plausible sachliche Begründung der Einheit ist weder über ein gemeinsames Erkenntnisobjekt noch mit erkenntnistheoretischen Argumenten möglich. P216/BonnPhysHum/05

Ist die Geographie tatsächlich ein Fach? Die Geographie: zwei Fächer, viele Forschungskulturen („Multi- Paradigmen-Spiel“) P216/BonnPhysHum/06

Bewertung der Sachlage Ist das schlimm (bedauerlich, Untergang des Abendlandes, identitätsgefährdend …)? Nein! Die organisatorische Verknüpfung über die Studienpläne bewirkt Synergien (Kartogra- phie, GIS, Infrastruktur), die Vorteile eines „Zwei-Fach-Studiums“ für die Studierenden sind evident („Zweisprachigkeit“). P216/BonnPhysHum/07

Die „dritte Säule“ Dieser forschungspragmatisch fassbare Wan- Der weit überwiegende Teil der aktuellen For- schungsfragen der Humangeographie und der Physiogeographie (etwas weniger ausgeprägt) orientiert sich an Erkenntnisobjekten, die mit dem klassischen Thema der Mensch-Umwelt- Interaktion nicht das Geringste zu tun haben. Dieser forschungspragmatisch fassbare Wan- del der Erkenntnisobjekte muss aus heutiger Sicht als das entscheidende Hindernis für eine Reintegration angesehen werden. P216/BonnPhysHum/08

Modelle der Konstituierung einer „geographischen Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ Das „Reintegrations-Modell“ Physio- geographie Human- + = Gesellschaft- Umwelt- Forschung Ein „Drei-Säulen-Modell“ Gesellschaft- Umwelt- Forschung Human- geographie Physio- P216/BonnPhysHum/09

„Natur“ versus „Kultur“ Dichotomes ontologisches Modell der Realität; die Elemente einer Dichotomie stehen zueinan- der im Verhältnis der Disjunktion. Das Problem: Wie geht man mit hybriden Ele- menten der Realität um? Die Gegenstandsbereiche, deren Wechselwirkun- gen in einer „Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ analysiert werden sollen, lassen sich nicht trenn- scharf voneinander unterscheiden. P216/BonnPhysHum/10

Das traditionelle Verständnis von Wissenschaft Wissenschaftliche Disziplinen sind ein Abbild oder Spiegelbild der ontologischen Struktur der Wirklichkeit. Dementsprechend sind auch die Wissen- schaftshauptgruppen (Naturwissenschaften versus Sozial/Kulturwissenschaften) als Re- flexion der Realitätsstruktur anzusehen. P216/BonnPhysHum/11

Ein modifizierte Verständnis: das „Perspektivenkonzept“ Die Gegenstände einer Wissenschaft sind nicht durch die Struktur der Reali- tät vorgegeben, sondern werden durch die Betrachtungsperspektive der be- treffenden Disziplin(en) konstituiert. P216/BonnPhysHum/12

Vorzüge des Perspektivenkonzepts Problemlos Behandlung hybrider Phänomene, keine Vorannahmen über die ontologische Struk- tur der Realität erforderlich; Widersprüche der traditionellen Wissenschafts- systematik werden aufgelöst; Konkurrenzsituationen zwischen Nachbardiszipli- nen werden entschärft. P216/BonnPhysHum/13

Naturwissenschaften Zu den Naturwissenschaften zählen all jene Disziplinen, die beliebige Gegenstände der Realität unter der Fragestellung betrachten, welche physisch-materielle Strukturen sie aufweisen und durch welche physisch-mate- rielle Prozesse sie entstehen oder verändert werden. P216/BonnPhysHum/14

Sozialwissenschaften Zu den Sozialwissenschaften zählen all jene Disziplinen, die beliebige Gegenstände der Realität unter der Fragestellung betrachten, ob und auf welche Weise sie Elemente der sozialen Wirklichkeit darstellen. „Soziale Wirklichkeit meint ... jenen Teil der erfahrbaren Wirklichkeit, der sich im Zusammenleben der Menschen ausdrückt oder durch dieses Zusammenleben und Zu- sammenhandeln hervorgebracht wird“ (H. L. GUKENBIEHL, 2002 a, S. 12). P216/BonnPhysHum/15

Zentrale Probleme einer „Gesellschaft-Umwelt-Forschung“ In der gegenwärtigen Mainstream-Soziologie wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sach- und Sozialstrukturen nicht thematisiert. Die disziplinäre Identität der Soziologie gründet auf dem DURKHEIM-WEBERschen Axiom: „Soziales darf/kann nur durch Soziales erklärt werden.“ Damit wurde die materielle Welt systematisch aus dem Interessenspektrum der Soziologie eliminiert. P216/BonnPhysHum/16

Die Folgen „Sachblindheit“ (und „Raumblindheit“) der Sozio- logie; Schwierigkeiten, ökologische Probleme und „Na- tur“ zu thematisieren; Gesellschaft wird als System rekursiver symbo- lischer Kommunikation gedeutet; ihre materielle Umwelt wird bestenfalls als externer Störfaktor wahrgenommen; die Körperlichkeit des Menschen wird weitge- hend ignoriert. P216/BonnPhysHum/17

Das „doppelte Grundproblem“ aller „integrati- ven“ Forschungsansätze in der Geographie Die physiogeographischen Ansätze und Konzepte tendie- ren dazu, „Gesellschaft“ in extrem reduktionistischer Weise als einen bloßen Störfaktor darzustellen („Anthropozän“). Humangeographische Ansätze tendieren dazu, durch die Übernahme des Mainstream-Konzepts von „Gesellschaft“ aus den Sozialwissenschaften die „soziale Welt“ in eben- falls reduktionistischer Weise als System rekursiver symbo- lischer Kommunikation ohne Materialität zu sehen. Gesucht ist aber ein Gesellschaftsmodell, das es er- laubt, den „Zusammenhang zwischen Sinn und Ma- terie“ (W. ZIERHOFER, 1999) zu analysieren. P216/BonnPhysHum/18

Gesellschaft als hybrides System Elaborierte Theorien der Gesellschaft-Umwelt-Interaktion im Hintergrund! Natur, Öko-systeme Kultur, Sinn- konstitution, rekursive symbolische Kommuni- kation GESELLSCHAFT Kolonisierung: Artefakte, Settings Aneignung, Arbeit Metabo- lismus Population Physisch-materielle Welt „Gesellschaft“ im Verständnis der Soziologie „Hybride Systeme“ Nach M. FISCHER-KOWALSKI u. H. WEISZ, 1999, verändert P216/BonnPhysHum/19

Wissenschaft als soziales System Fachpolitische Probleme und Grundsatzfragen der Wissenschaften sind nur zum Teil auf konzeptioneller und fachtheoretischer Ebene zu behandeln. Die dabei ablaufenden Diskurse sind durch eine hohe soziale Eigendynamik gekennzeichnet. Wertungen und fachpolitische Entscheidungen sind des- halb oft weniger durch Verweise auf ein „Lehrgebäude“, sondern durch individuelle Erfahrungshorizonte und sub- jektive Sozialisierungsprozesse begründet. Wie sieht die subjektive Wahrnehmung der „Möglichkeiten und Grenzen integrativer Forschungsprojekte“ bei Physio- geographInnen in Österreich aus? P216/BonnPhysHum/20

Eine Umfrage bei Physiogeographen in Österreich (Pretest für eine Delphi-Studie) Versand per E-Mail am 4. 11. 2004, Vollerhebung, 17 Personen Rücklauf (bis 11. 11.): 9 Personen Zieldimensionen: Identifikation von Themenbereichen, die für eine Ko- operation zwischen Physio- und Humangeographie in Frage kommen Erwartungshaltungen und Animositäten gegenüber HumangeographInnen Eigene konkrete Projekte Problemfelder bei der Kooperation P216/BonnPhysHum/21

Work in progress Da die Erhebung noch nicht abgeschlossen ist, können die vorläufigen Ergebnisse noch nicht publiziert werden. Eine ausführliche Dokumen- tation ist aber für den geplanten Tagungsband vorgesehen. P216/BonnPhysHum/22