Vortrag im Bremer Zentrum für Baukultur (b.zb) Speicher XI,

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Vortrag im Bremer Zentrum für Baukultur (b.zb) Speicher XI, 21.02.2007 Prof. Dr. Wolfgang Wildgen (Universität Bremen; Fachbereich 10) Das Lesen von Architektur als Zeichen: Grundlagen einer Architektursemiotik Vortrag im Bremer Zentrum für Baukultur (b.zb) Speicher XI, 21.02.2007

Gliederung Bedeutungen von Architektur (historische Perspektive) Die Bedeutung architektonischer Grundformen (Elemente einer strukturalen Architektursemiotik) Natürliche Formen als Bedeutungsträger Suche nach Grundformen mit anderen natürlichen Bedeutungen Semiotik des architektonischen Dekors Die „Gigli“ von Nola als semiotisches Konstrukt Der Bremer Roland

Bedeutungen von Architektur (historische Perspektive) Die antike Theorie der Architektur (Vitruv [1. vorchr. Jh.]) wurde in der Renaissance von Palladio [16. Jh.] wieder aufgenommen und in Bauten umgesetzt. Vitruv spricht von einem logos opticos (einer visuellen Sprache) und einer architektonischen Inszenierung, d.h. einer Syntax (Diathesis) . Fast zur gleichen Zeit (15.-16. Jh.) wurde in Japan die so genannte Tee-Architektur (Sukiya-Stil) entwickelt, die eng an rituelle Prozesse und an einer Korrespondenz von Mikro- und Makrokosmos orientiert war. Die Architektur bezieht ihre Bedeutung in Analogie zum Kosmos und sie wirkt auf den Menschen (sagt ihm was er darf oder soll). Verallgemeinernd kann man sagen, die Architektur erhält Bedeutung aus einem größeren (kosmischen) Zusammen-hang und sie spricht zum Menschen, sagt ihm was er tun soll.

Architektur und Gedächtnis Der Ursprung der antiken Gedächtnistheorie geht auf einen Mythos zurück, nach dem beim Einsturz einer Saaldecke der Überlebende Simon alle Toten anhand der Sitzposition im Verhältnis zur architektonischen Ordnung identifizieren konnte. Im antiken Rhetorik-Training hatte dem entsprechend der Redner die Hauptinhalte seines Vortrages in einem vorgestellten Gebäude (mit Park, Nischen, Statuen, Möbeln) zu verorten und dann, im Geiste umhergehend, abzurufen. Umgekehrt wurden die öffentlichen Gebäude so konzipiert, dass sie beim Abschreiten oder anlässlich ritueller Handlungen eine geordnete Folge von Erinnerungen/ Inhalten nahe legten, d. h. die Architektur wurde zum Gedächtnistheater.

Bereits am Anfang der Architekturtheorie, also in der Antike, bestand ein klarer Bezug zwischen dem bildhaften und sprachlichen Gedächtnis und der Konzeption (öffentlicher) Bauten. Da wir die in der (kollektiven) Erinnerung gespeicherten Bilder und Wörter mit Recht als Zeichen verstehen können, ist also schon die antike Architekturtheorie Bestandteil einer Zeichentheorie, d. h. einer Semiotik. Bei Palladio und in der Tee-Architektur Japans wird deutlich, dass architektonische Zeichen so etwas wie allgemeine Zeichen-Schemata, d. h. auszufüllende Konzeptfolien darstellen. Im Ritual, durch den Hausherrn und seine Gäste im Tee-Ritual, durch die Liturgie (Wörter und Handlungen) in Tempeln und Kirchen, durch die venetianischen Adeligen, die das Landgut verwalten, und die Gäste, die an ihren Festen teilnehmen, ist die Architektur jeweils als vorgegebenes Zeichenschema weiter auszufüllen. Der „ewige“ Wert von Kunst ist eine Folge dieser Offenheit. Er verweist eher auf das Allgemein-Menschliche und somit auf eine tiefere Einheit.

Teil 1 Die Bedeutung architektonischer Grundformen (Elemente einer strukturalen Architektursemiotik)

Strukturalistischer Zeichenbegriff (Ferdinand de Saussure) image mentale Signifié (Signifikat) ____________________ image acoustique Signifiant (Signifikant) Typus von Objekten oder Ereignissen in einer Sprachgemeinschaft Netzwerk sich unter-scheidender Ausdrucks-werte (Oppositionen) arbre Baum Gebüsch Wald Feldbeziehungen in einer Sprache (z.B. dem Deutschen)

Architektonische Zeichentriade Ikon Index Symbol Interpretant (eine Zeichenregel wird erkannt/benützt) (erfahrenes/ wahrge-nommenes) Gebäude als Zeichenform Gebäude als physikalische Entität (Referent) Säule Fassade Komplex Teil-Ganzes Beziehungen

Vom sprachlichen Zeichen zur Stadt als Zeichen: Skala und Übergänge Die Rolle des architektonischen Zeichens lässt sich zuerst aus seiner Position auf einer Skala von Prototypen menschlicher Zeichen bestimmen. Die folgender Sequenz (oben Signifikant/ unten Signifikat) illustriert die Differenzen und Übergänge. sprachliches Zeichen, z.B. Eigennamen > Bild (Porträt) Plastik (z.B. eines Herrschers) Gebäude (z.B. Palast/Rathaus) Stadt (Freie Hansestadt) Julius Cäsar > Kaiser Kaiser als Reiter Herrschafts-zentrum, pol. Repräsentat. Handels- und Prod. zentr, Autonomie Sequenz benachbarter Zeichentypen (nach Größe in Raum und Zeit geordnet)

Bewegungsraum und Betrachtungswege des Besuchers/Betrachters Bild Bewegungen des Betrachters vor dem Bild (an der Wand) Plastik Bewegungen des Betrachters um die Plastik herum

Unterschied von Plastik und Gebäude Die Architektur ist prinzipiell in ihren Maßen (im Vergleich zum Menschen) verschieden von der Plastik, d.h. ein Gebäude ist meist wesentlich größer (repräsentative Häuser sind um ein Fünf- bis Zehnfaches größer). Außerdem geht man um eine Plastik herum, bei der Architektur geht man in diese hinein und man bewegt sich in ihr (oder wohnt in ihr). Der Lebens-Archetyp der Architektur ist der Schutz (urtümliche Formen sind: die Laubhütte, der Höhleneingang). Die Architektur ist ein Zeichen, in dem sich der Mensch bewegt, das er bewohnt, in dem er handelt. Beschränkungen des Zugangs zum Gebäude oder seinen Teilen haben eine Entsprechung in der Gliederung der Gesellschaft (Handlungspotential als soziale Kategorie).

Orientierung und Perspektive Es gibt mindestens zwei ausgezeichnete Perspektiven. Eine Außen- und eine Innenperspektive: I und II. II. Blick vom Salon in den Park (Auffahrt) Nymphäum und Fischteich Rückseite der Villa I:Blick von der Auffahrt zum Haupteingang Süden Norden Hanglage

Sprachliche und architektonische Orientierungssysteme In den Sprachen der Welt finden wir sowohl subjektive (ego-zentrische) als auch absolute Orientierungssysteme. Bei den subjektiven Systemen ist der eigene Körper der Basisbereich, aus dem metaphorisch globaler Orientierungen geschöpft werden (vgl. kognitive Metaphern-Modelle). Bei den absoluten Systemen ist die Orientierung unabhängig von der Bewegung des Sprechers. Als Fixpunkte können die Richtungen relativ zum Magnetpol, solche relativ zum Polarstern, oder zum Sonnenauf- oder Untergang an einem Tag des Jahres (Sonnwende), Windrichtungen, markante Berge am Horizont u.ä. dienen. Jedes beliebige Element der Umgebung kann außerdem als Orientierung dienen (die Domtürme, die Tore der Stadt, die längste Straße, die Hauptstraße u.a.). Insofern ist die Architektur Bestandteil versprachlichter Orientierungen (z.B. bei Wegbeschreibungen). In ähnlicher Weise sind subjektive Perspektiven (des Hausbesitzers, der Bewohner, der Kunden, der Fremden) für das Lesen von Architektur relevant. Objektive Orientierungen haben entweder klimatische (Helligkeit, Wärme) oder symbolische Bedeutungen (Nähe zu anderen prestigehaltigen Gebäuden, wertvoller Baugrund, Dominanz bei der Höhe des Gebäudes)

Palladio: Ausführung der Villa Barbaro in Maser Verbindung von Herrschaftstrakt mit Wirtschaftsgebäuden Seitengebäude: Taubenhaus mit Sonnenuhr

Zwischen Tempel und Stadtpalast Grundriss der Villa Rotonda: Kreis, Quadrat, umschriebenes Achteck Die vier Himmelsrichtungen entsprechen (auf 2o genau) den Diagonalen des Baus (geometrische Idealformen)

Ideal Konstruktionen In der theoretischen Konstruktion ist die Kuppel noch stärker als Halbkugel ausgeprägt. Dieser Erhöhung sollte dann doch dem Kirchenbau vorent-halten bleiben. Dennoch kommt es zu einer Vermischung von Profan – und Sakralbau in dieser Periode. Villa Rotonda. Palladio. Quattro libri dell‘ archittetura

Geometrische Überlagerung der semiotischen Ebenen des Gebäudes In erster Linie finden wir im Zentrum einen quadratischen Block mit einem eingebetteten Zylinder. Es wird umgeben von dem griechischen Kreuz der Aufgänge und Vorhallen. In zweiter Linie wird dem Ganzen anstelle einer Öffnung (als Hof oder Atrium) eine Kuppel aufgesetzt, wodurch die oben/unten-, die Kosmos-Mensch-Opposition verstärkt wird. Die Kuppel ist quasi ein künstlicher Himmel, der das Bauwerk vertikal schließt und gleichzeitig die Lichtverteilung reguliert (sie je nach Tageszeit beweglich macht). In dritter Linie erweitern die vier Vorhallen das innere Quadrat zu einem Achteck. Diese Struktur verbindet den Bau mit dem antiken Tempel. Schlussendlich steht die Villa auf dem natürlichen Podest eines Hügels; sie ist erhaben (siehe die Akropolis als herausgehobener Ort). Insgesamt wird ein gestuftes Zeichen geschaffen: vom künstlich modellierten Hügel (als Erdkuppel), den gestuften Baukörpern von den Treppenaufgängen über die Vorhallen und den quadratischen Zentralbau bis zur krönenden Kuppel, die die Form der natürlichen Landschafts-„Kuppel“ wiederholt.

Die doppelte Opposition von raum-zeitlichen Bedeutungen Himmel, Kosmos Gedächtnis Hinweis auf frühere Bauten (Tradition) Bedeutung für die Zukunft (Nachwelt, Ruhm) Verwurzelung in der jetzigen Landschaft (Bodenständigkeit) Modifiziert nach Boudon, 1992: 41)

Von diesen Konstruktionsformen führen viele Formen (quasi als Zitate) zu früheren Bauten der Antike und des Quattrocento, und viele spätere Bauten bis zur Moderne zitieren Bauformen Palladios. Jede Architektur ist also nur in einer „Intertextualität“ früherer und späterer Formen vollständig zu verstehen. In der fast gleichzeitigen Tee-Architektur Japans werden strenge Bauordnungen im Einklang mit kosmologischen Prinzipien realisiert (auf der Basis einer Fünf-Elemente Lehre: Erde-Wasser-Feuer; Metall, Holz). Wie in anderen ostasiatischen Kulturen spielt neben der Abbildung idealer Landschaften, die Aufgliederung der Zugangsberechtigung und Rituale des sozialen Zusammen-treffens, z.B. von Hausherrn und seinen Gästen eine große Rolle. Dadurch überwiegt das dynamische Moment in der Architektur, d.h. erst im Ritual entfaltet sich die Bedeutung des Gebäudes und seiner Ordnungen. Hammad, 2006 spricht in beiden Fällen, der Architektur Palladios und der Tee-Architektur, von einer essentialistischen Semiose, da die Bedeutung mit der Substanz gegeben wird.

Drei semiotische Arten des Architektonischen (nach Boudon) Tektonik Kraftfeld Sie entfalten die Opposition: Konstruierbarkeit − Nachahmung (Mimesis). Falte, Kante Rhythmus Raster Skulptur Plastik Dekor, Verkleidung Wappenzeichen, Emblem

Das Tektonische manifestiert sich im Tragegerüst, den Kraftlinien, Verbindungen eines gegliederten Ganzen. Es zeigt sich in der Architektur, betrifft aber auch die Stabilität, das Gleichgewicht der Kräfte in einer Plastik. Das Plastische ist eher durch die Formung der Konturen, der Massen charakterisiert. Das Ornament beruht auf der Wiederholung eines geometrischen oder organischen Musters. Diese drei Terme bilden ein Spannungsfeld, zu deren Eckpunkten jede Form strebt.

Zwischen dem Plastischen und dem Dekorativen stehen die Embleme, Wappen, aber auch die Masken in außereuropäischen Kulturen. Zwischen dem Tektonischen und dem Ornament finden wir die Wiederholungen und Rhythmen in einer Passage oder einer Säulenhalle. Zwischen dem Tektonischen und dem Plastischen finden wir die Falten, die konstruktiven Adern einer Plastik, das Relief eines Bildes. Das architektonische Zeichen gliedert sich ebenso wie das sprachliche in verschiedene Ebenen, d.h. man muss tektonische, plastische und dekorative Zeichen und deren Bedeutungen unterscheiden.

Natürliche Formen als Bedeutungsträger (Antoni Gaudi ) Antoni Gaudi (1852-1926) geht vom Prinzip aus, dass das Schöne und Wahre in der Architektur nicht vom Menschen erfunden wird, sondern durch Beobachtung und Nachahmung der Natur vom Menschen gefunden wird. Bei der Abstraktion setzt Gaudi ebenso wie Vitruv und Palladio auf die Geometrie. Allerdings steht die Geometrie der belebten Natur im Zentrum. Gaudi beschäftigt sich deshalb experimentell mit konvexen und konkaven Flächen, mit Konoïden, hyperbolischen und parabolischen Flächen und deren Überschneidungen. Da die mathematische Beherrschung dieser neuen Formen noch ungenügend war, hat Gaudi insbesondere die Statik und Dynamik solcher Konstruktionen anhand seiner umgedrehten, mit Gewichten behängten Seilmodelle getestet.

Die Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona (1883-heute) Innenausbau um 2002 Zustand des Baus um 1980

Säulenkonstruktion der “Sagrada Familia” Der Baum als Vorbild Säulenreihe Konstruktionszeichnung

Sinoidale Bauformen Links: Casa Battlo Barcelona Die neben der Kathedrale als erstes fertig gestellte Schule, die während des Baus als Bauhütte genutzt wurde, kann als konoïde und sinoïdale Konstruktion auf dem Computer simuliert werden. Damit hat Gaudi eine Tradition eröffnet, die zu vielen modernen Bauten führt, insbesondere seitdem diese mit den Hilfsmitteln des computergesteuerten Designs geplant werden.

Ich zeige zuerst die Idee einer Dachkonstruktion in Analogie zur sphärischen Schalengeometrie (Entwurf von Jorn Utzon (1957). Der Bau konnte erst nach längeren Experimenten zur Statik einer technisch realisierbaren Konstruktion ausgeführt werden (Bauende 1973). Modell einer sphärischen Schalengeometrie Opernhaus, Sydney, 1957-1973

Suche nach Grundformen mit anderen natürlichen Bedeutungen Inzwischen gibt es eine große Zahl ähnlicher Bauten, die zumindest in ihrer äußeren Gestalt natürliche Formen nachahmen oder auf diese verweisen. Die konsequente Durchdringung der Konstruktion mit einer solchen Idee zeichnet aber immer noch die Bauten Gaudis aus, da er auch die Außenfassade, die Innenarchitektur und das Mobiliar nach den gleichen Prinzipien gestaltet hat. Eine wesentliche Rolle spielen in der Suche nach neuen Formen, die Materialien und Verarbeitungstechniken. Man denke nur an die Eisenkonstruktionen des späten 19. Jhs. (Prototyp: Eifelturm), die Betonkonstruktionen (Le Corbusier, Kirche von Ronchamps), gespannte Zeltkonstruktion (Olympiastadium München) oder in Bremen an das Universum. Behnisch und Partner, 1967-1972

Guggenheim Museum Bilbao Universum in Bremen

Semiotik des architektonischen Dekors Teil 2 Semiotik des architektonischen Dekors

Semiotik des architektonischen Dekors Die Schmuckformen des Bauwerks werden von Lipp (1906) als Bildkunst der technischen Kunst des Bauwerks entgegengesetzt. Er sagt: „Es gibt kein Mittleres zwischen technischer und Bildkunst. (...) das dekorative Bildkunstwerk kann nichts sein als ein Kompromiss zwischen diesen beiden grundsätzlich verschiedenen Welten.“ (ibidem: 602) In Hinblick auf das Modell von Boudon ist der Dekor emblematisch, narrativ aber auch rhythmisch bedeutsam (vgl. Folie 20). In semiotischen Begriffen liegt ein Verzahnung von mindestens zwei Zeichenebenen vor.

Die „Gigli“ von Nola als semiotisches Konstrukt Einmal im Jahr wird in verschiedenen Stadtteilen Nolas an riesigen, schlanken Holzgerüsten gearbeitet. Sie bestehen aus siebenstöckigen Konstruktionen, welche die Häuser überragen und mit den Kirchtürmen konkurrieren. Im Kern enthalten sie einen Mast aus mehreren zusammengefügten Baumstämmen, der in eine Balkenkonstruktion auf der Basis zuerst von Quadraten und dann (in der Höhe) von Dreiecken eingefügt ist. Eine breite Basiskonstruktion enthält die zur Stabilisierung des hohen Turmes notwendigen Sitzplätze für passive Teilnehmer und die Führung für die Rundhölzer, welche auf den Schultern der Trägermannschaften ruhen werden.

Semiotische Bedeutungsschichtung Die semiotische Struktur der Gigli besteht aus: dem Symbol des Baumes (er gehört in den Kontext einer Naturreligion), der geometrisch regulären Stützkonstruktion (sie abstrahiert das Natursymbol zur formalen Konstruktion, quasi die Natur zur Kosmologie), der christlichen Verbrämung und Ausfüllung (sie dekoriert die Basisstruktur mit Figuren einer kulturellen Tradition, an deren vorläufigem Ende das Christentum steht). Die christliche Verbrämung verbirgt (negiert) gleichzeitig die heidnische Urbedeutung des Brauchs; dies ist eine modale Bedeutung.

Der Bremer Roland Die eigentliche „Geschichte“, d.h. die urkundliche Erfassung von Rolandfiguren, beginnt 1342. Ab 1404 (in Bremen) wurden zerstörte Rolande durch neue, z.B. hölzerne durch steinerne, ersetzt, so dass das 15. Jahrhundert als die eigentliche Blütezeit angesehen werden kann. Nach der Konsolidierung des Rats 1404 (siehe oben) wurde ein neuer Roland vor das ebenfalls in dieser Zeit (1405-1407) gebaute gotische Rathaus gestellt. Der Name und die Insignien des Rolands enthalten Verweise auf frühere Zeichenstrukturen: Der Name „Roland“ (als „Rodlan“ [Rothlandus]), „Hruodlandus“ taucht in Urkunden, auf Münzen und in der fränkischen Geschichtsschreibung für einen Würdenträger im Reich Karl d. Großen zwischen 772 und 836 auf. (Die Sage macht ihn zum Neffen Karls d. Großen.) Dies ist wohl die historische Wurzel der Rolandslegende

Kollossalstatue des Bremer Rolands mit Schild und Baldachin Ansicht der Bremer Innenstadt von 1588 Mit gotischen Rathaus (vor der Erneuerung) und Roland

Der zweite Schritt der Umwandlung der Rolandsfigur erfolgte in der Literatur. Das altfranzösische „Chanson de Roland“, ein früher Typus mittelalterlicher Heldenepik, entstand zwischen 1100 und 1125. Bereits 1135 wurde es durch den Pfaffen Konrad ins Mittelhochdeutsche übertragen. Die Heidelberger Handschrift (Codex Palatinus Germanicus 112) enthält 39 Federzeichnungen. Auf fol. 5v steht Roland als Schwertträger zur Rechten Karls des Großen (aber ohne Rüstung, da er sich im Rat befindet). Diese Funktion als rechte Hand des Kaisers, die auch mit der Bedeutung des Rechtes auf Blutsgerichtbarkeit verquickt werden konnte, scheint der Kern der Roland-Symbolik in den Freien Reichsstädten gewesen zu sein. Eine literarische Variation entwickelte im 15. Jahrhundert Matteo Maria Boiardo (1440-1494) mit dem „Verliebten Roland“ (Orlando inamorato), der als Vorbild für das Ritterepos der Renaissance diente.

Der Tod Rolands am Pass von Roncevalles war bereits im Mittelalter als Kampf gegen die Sarazenen umgedeutet worden (in Wirklichkeit kämpfte Roland gegen die Basken), 1827 nimmt der Kampf der Griechen gegen die Türken diese Stelle ein (indirekt der Deutschlands gegen Napoleon). Die Figur des Rolands dient aber als Kristallisationspunkt für immer neue Interpretationen, d.h. das steinerne Zeichen ist zwar ein feststehender, scheinbar unveränderlicher Zeichenkörper, aber seine Bedeutung verändert sich laufend (in einem Feld, das durch den Kampf um die Selbstständigkeit der Stadt definiert ist).

Parallele, stützende Zeichen Das Siegel von 1366. Es zeigt den Kaiser zur Rechten mit seinen Insignien und eine Figur mit Schwert und Bremer Schlüssel, dem Wahrzeichen der Stadt (Auf dem Siegel von 1230 sitzen sich noch Kaiser Karl und Bischof Willehad, gest. 789, mit Bischofsstab gegenüber und halten den Dom in den Händen). Im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstanden in der Ratskanzlei eine Serie von Urkunden, mit denen die Stadt sich auf angeblich von Karl d. Großen verliehene Rechte berief, die von den Königen Heinrich V (1111), Wilhelm von Holland (1252) und Wenzel (1396) bestätigt worden wären. Die Konstruktion einer direkt auf Karl d. Großen zurückverweisenden Kaiserwürde wurde von Kaiser Karl IV (dem ersten Karl seit den Karolingern, 1346-1378) wiederbelebt. Das kaiserliche Wappen auf dem Schild des Rolands ebenso wie die Figuren des Kaisers und der Kurfürsten am gotischen Rathaus verstärken diese Konstruktion eines erneuerten Kaisertums, in dessen Schutz sich die Hansestadt stellt.

Der Bremer Roland wurde vor das Rathaus in Sichtlinie zum Dom und an die Grenze zur Marktmauer gestellt. Die Ortsveränderung war sicher ein demonstrativer Akt; er stellt den Roland (durch die turmartige Rückseite und den Baldachin vergrößert) an den Kreuzungspunkt mehrerer Kraftlinien: Rathaus Dom (als Zeichen der Opposition); Rathaus umfriedeter Markt (als Zeichen der Verbindung und des Schutzes). Neben den figürlichen Zeichen enthält der Roland auf seinem Schild auch einen Text. Dieser verweist direkt auf den in den erstellten Urkunden manifestierten politischen Anspruch: „Vryheit“ (Freiheit); „karl und mennich vorst“ (Karl und mancher Fürst) sind dabei die Schlüsselbegriffe.

Insgesamt ist der Bremer Roland, wie andere Rolande des norddeutschen Raumes, eine politische Inszenierung, die aus einem Zeichenfundus schöpft, der sowohl Bildnissee, Dokumente, als auch Geschichten enthält. Der zentrale Ort, die Größe und die Ausführung in Stein führen dazu, dass das komplizierte semiotische Netzwerk, das nur für Spezialisten bruchstückhaft durchschaubar ist, in eine öffentliche, leicht „lesbare“ Form gebracht wird. Von das aus stabilisiert es die verzweigten Bedeutungsnetze und ist gleichzeitig Ausgangspunkt für immer neue Bedeutungsschöpfungen; es ist quasi ein städtischer „Bedeutungsknoten“, der aber in den architektonischen und urbanen Kontext integriert ist.

Architektonischer Dekor als Bildersprache Die Bildersprache hat wie die Schrift Bedingungen der Lesbarkeit; sie setzt die Kenntnis eines dem Bild nicht immanenten Codes voraus. Geht diesen Schlüssel verloren, so wird sie unlesbar, wie alte Schriften, deren Nachfolgesprachen nicht oder nur bruchstückhaft bekannt sind. Da durch den Dreißigjährigen Krieg die Kultur der Spätrenaissance brutal beendet wurde, ist die Lesbarkeit der Bremer Fassade nur durch ein aufwändiges Studium der Quellen (Emblembücher, Drucke und zeitgleiche Gebäudedekorationen und Plastiken) möglich (vgl. Gramatzki, 1994). Hier liegt der Aufgabenbereich einer kunsthistorischen Ikonographie oder einer diachronen Architektur- und Kunst-Semiotik.

An die Stelle des Marktes vor dem Rathaus treten auswechselbare Handlungsszenarien: Die alltägliche touristische Vorführung des Platzes, der Weihnachtsmarkt, der Kleine Freimarkt. Die organisierten Versammlungen; von Demonstra-tionen zu Videoprojektionen und Konzerten bis zu den Meisterfeiern des SV Werder Bremen. Im Innern des Rathauses finden Empfänge, das Schaffermahl statt. Eine spektakuläre Variation der Fassade rund um den Marktplatz haben Video-Projektionen demonstriert. Dabei diente etwa die Rathausfassade als Struktur-vorlage, der neue Profile und Farben aufgeprägt wurden (anlässlich der 600 Jahr-Feier des Rolands 2004. Dies demonstriert augenfällig den dynamischen Charakter jeder repräsentativen Stadtarchitektur.

Weshalb eine semiotische Analyse von Architektur? Die Architektur hat wie der Maschinenbau natürlich eine mechanisch-technische Seite, die von Ingenieuren nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu lösen ist. Sie ist aber auch für den Menschen, wird in menschlichen Kontexte eingebettet, erhält darin Sinn für die Menschen: Insofern hat sie einen kommunikativen Aspekt. Die semiotische Analyse kann den kommunikativen Aspekt in einer systematischen Weise erfassen, welche eine Integration mit ingenieurwissenschaftlichen Aspekten ermöglicht. Dazu muss die Semiotik über das Subjektiv-Interpretative hinausgehen und Gesetzmäßigkeiten aufdecken. Wie dies zu geschehen hat, sollte dieser Vortrag exemplarisch zeigen.

Literatur (Auswahl): Bentmann, Richard und Michael Müller, 1970. Die Villa als Herrschaftsar-chitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, Suhrkamp, Frankfurt am Main. Boudon, Pierre, 1992. Le paradigme de l’architecture, Les Éditions Balzac, Candiac (Québec). Giralt-Miracle, Daniel (Hg.), 2002. Gaudí. La búsqueda de la forma. Espacio, geometria y construcción, Ajutement de Barcelona , Barcelona. Hammad, Manar, 2006. Lire l’espace. Comprendre l’architecture, Geuthner (PULIM), Paris. Palladio, Andrea, 2002. Bildatlas zum Gesamtwerk (hg. von Guido Beltramini und Pino Guidolotti), Hirmer, München. Vitruv, 1987. Zehn Bücher über Architektur (Latein-Deutsch von Curt Fensterbusch), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. Wildgen, Wolfgang, 1998. Das kosmische Gedächtnis. Kosmologie, Semiotik und Gedächtnistheorie im Werke von Giordano Bruno (1548-1600),Lang Verlag, Frankfurt (Einleitung) Wildgen, Wolfgang, 2003.Semiotische Analysen der Stadt Bremen: ein Beitrag zur Architektur- und Stadtsemiotik (vorläufige Fassung